Menschenrechtler*innen erinnern immer wieder an die völkerrechtswidrige Annexion der Krim.
Foto: © GfbV
 

 

Mit der russischen Annexion der Krim änderte sich das Verhältnis zwischen Krimtataren und ukrainischer Führung schlagartig: Die Angespanntheit wich der nationalen Anerkennung des indigenen Volks. Heute nehmen Krimtatar*innen hohe politische Ämter ein und vertreten die Ukraine in UN-Gremien. Oliver Loode, estnischer Aktivist und 2014 Expertenmitglied beim UN Forum für indigene Angelegenheiten (UNPFII), erzählt im Interview, wie er die Wende und deren Auswirkungen erlebte.

Interview geführt von Sarah Reinke

Sie beobachten die Situation der Krimtataren seit vielen Jahren, bereits vor der Annexion der Krim im Jahr 2014. Wann und wie wurden Sie auf das Thema aufmerksam?

Mit der Situation der Krimtataren wurde ich zum ersten Mal 2012 konfrontiert. Damals nahm ich als Aktivist der internationalen finno-ugrischen Bewegung am Ständigen Forum der Vereinten Nationen für indigene Angelegenheiten (UNPFII) in New York teil. Dort erfuhr ich, dass die Krimtataren mindestens seit den 1990er Jahren aktiv an Prozessen der Vereinten Nationen (UN) zu indigenen Völkern mitwirkten. Ihr Hauptziel damals – sprich: vor der Annexion der Krim durch Russland – bestand darin, von der Ukraine als indigenes Volk anerkannt und respektiert zu werden. Doch in der Ukraine fehlte dafür aus zahlreichen und ungerechtfertigten Gründen der politische Wille. Auf den Fluren der UN wirkte das Verhältnis zwischen Krimtataren und ukrainischem Staat eher angespannt bis hin zu feindselig. Ich nahm dies zur Kenntnis, ahnte damals aber noch nicht, dass ich in wenigen Jahren selbst tief in die krimtatarischen Angelegenheiten verwickelt sein würde


Wie haben Sie persönlich die Annexion der Krim erlebt? Was war Ihre erste Reaktion?

Ich war zutiefst erschüttert. Ich hätte nie gedacht, dass im 21. Jahrhundert ein Staat einen Teil eines anderen souveränen Staats besetzt und annektiert und damit durchkommt. Tatsächlich war ich über die lasche Reaktion der westlichen Welt darauf fast ebenso schockiert wie über die kriminellen Handlungen Russlands. Die Verurteilungen und Sanktionen haben Putin die Zahnlosigkeit des Westens und der vermeintlich regelbasierten Weltordnung vor Augen geführt. Das hat seinen Hunger auf weitere Eroberungen noch mehr angeregt. 

Für mich steht fest: Hätte die zivilisierte Welt angemessen auf die kriminellen Aktivitäten Russlands reagiert, dann gäbe es jetzt in der Ukraine nicht diesen vollumfänglichen Krieg. Mehr noch: Hätte die Welt den Krimtataren 2014 besser zugehört, gäbe es heute keinen vollumfänglichen Krieg.


Sie stehen in Kontakt mit den politischen Vertreter*innen der Krimtataren. Wie haben diese 
sich nach der Annexion politisch positioniert?

Die größte Stärke der Krimtataren ist ihre Selbstorganisation, die auf das frühe 20. Jahrhundert zurückgeht. In der Zeit begannen sie, ihre Vertretungsorgane zu entwickeln, insbesondere den Kurultai: einen nationalen Kongress der Krimtataren, der 1917 erstmals tagte. Diese Institutionen haben sich während des langen Exodus der Krimtataren nach der Deportation und dem Völkermord von 1944 angepasst und weiterentwickelt. Sie sind bis heute aktiv, auch auf lokaler Ebene.

Da 2014 ein exekutiver Arm des Kurultai – der Medschlis des krimtatarischen Volks – existierte, konnte er sich schon vor der Annexion klar positionieren. Der Medschlis bezog bereits im Februar 2014, noch während Russland seine Spezialoperation zur Besetzung der Krim durchführte, eine stark pro-ukrainische Position und rief zu einer pro-ukrainischen Kundgebung zur Verteidigung des Parlamentsgebäudes in Simferopol [Hauptstadt der Autonomen Republik Krim; Anm. d. Red.] am 26. Februar 2014 auf. 

Tatsächlich verteidigten die Krimtataren zu diesem Zeitpunkt die ukrainische Krim stärker als der Staat Ukraine und seine Streitkräfte. Dies war ein historischer und mutiger Schritt der Krimtataren, vor allem angesichts ihrer zuvor angespannten Beziehung zur Ukraine. Die Ukraine erwiderte diesen Schritt dankenswerterweise und erkannte die Krimtataren bald als indigenes Volk der Ukraine an. Manche sagen, diese Anerkennung sei zu wenig und zu spät... Aber ich glaube, es ist ein viel besseres Ergebnis als einige der Alternativen, die es hätte geben können und die nicht nur theoretischer Natur gewesen waren. Seitdem ist der Medschlis seiner pro-ukrainischen Position treu geblieben und hat seine Zusammenarbeit mit dem ukrainischen Staat ausgebaut.
 

Mustafa Dschemilew ist eine der führenden Persönlichkeiten der Krimtataren auf nationalem wie internationalem Parkett.
Foto: Katarzyna Czerwinska/Wikipedia CC BY-SA 3.0 Poland

Wie würden Sie die Strategie der Krimtataren in den Gremien beschreiben, in denen Sie mit ihnen zusammengearbeitet haben, beispielsweise beim Ständigen UN-Forum für indigene Angelegenheiten?

Ich erinnere mich noch sehr gut an die Ankunft der krimtatarischen Delegation bei der Plenarsitzung des UNPFII im Mai 2014, also der ersten Sitzung nach der Annexion der Krim. Die Delegation wurde von Mustafa Dschemilew geleitet, dem legendären krimtatarischen Menschenrechtsverteidiger, der heute weithin als nationaler Anführer der Krimtataren gilt. Es war mein erstes Jahr als Mitglied des UNPFII. Ich freute mich, Krimtataren beim UNPFII als Teil der ukrainischen Delegation zu sehen. Diese verteidigte die Ukraine und verurteilte den Aggressorstaat Russische Föderation. 

Russland hatte zu diesem Zeitpunkt bereits angefangen, Krimtataren gezielt anzugreifen. Herr Dschemilew hatte die Möglichkeit, sich an die internationale indigene Gemeinschaft zu wenden und die diplomatische Vertretung der Ukraine verkündete öffentlich, dass die Ukraine die UN-Deklaration über die Rechte indigener Völker (UNDRIP) angenommen habe. Es fühlte sich an, als würde gerade Geschichte geschrieben.

Seitdem nehmen Vertreter*innen der Krimtataren regelmäßig an UNPFII-Sitzungen in New York, und an EMRIP-Sitzungen in Genf teil [EMRIP ist der UN-Expertenmechanismus für die Rechte indigener Völker und neben dem UNPFII ein weiteres Beratungsgremium der UN; Anm. d. Red.]. Sie informieren das UN-System über die systematischen und anhaltenden Verletzungen der Menschenrechte der Krimtataren – sowohl der individuellen als auch der kollektiven – durch die Russische Föderation. Hierzu haben sie Erklärungen bei Plenarsitzungen abgegeben, Side Events zur Situation der Krimtataren organisiert [ein „Side Event“ ist eine häufig von Nichtregierungsorganisationen organisierte Nebenveranstaltung während einer UN-Sitzung; Anm. d. Red.] und vieles mehr. 

Ob und inwieweit diese Strategie konkret gegriffen hat, ist eine andere Frage. Jedenfalls waren die Krimtataren aktiv und konsequent. Sie haben ihre Fähigkeiten zur internationalen Lobbyarbeit erheblich ausgebaut. Heute ist ein krimtatarischer Rechtsanwalt, Suleiman Mamutov, auf Nominierung der ukrainischen Regierung hin Mitglied des UNPFII. Vor 2014 wäre dies unvorstellbar gewesen.

Wie hat sich der Diskurs über die Krim und die Krimtataren in den vergangenen Jahren verändert, insbesondere durch den Großangriff seit 2022 auf die Ukraine?

Diese Frage ist sehr wichtig, denn ein Diskurs führt oft zu Taten – und ein fehlender Diskurs zu Tatenlosigkeit. In der Ukraine stellte ich kurz nach der Annexion der Krim 2014 – vielleicht auch erst 2015 – ein Problem fest: Auf der höchsten politischen Ebene fehlte die Bereitschaft, überhaupt über die Krim zu sprechen. Zuweilen hatte ich fast den Eindruck, dass die politische Führung der Ukraine beschlossen hatte, die Krim wie einen eingefrorenen Konflikt zu behandeln. Diese Haltung drang bis in die Bevölkerung durch. 

Zwischen 2014 und 2021 besuchte ich mehrmals Kyiv, um meine krimtatarischen Partner*innen zu treffen, mit denen ich gemeinsame Projekte durchführte. Während meiner Aufenthalte sprach ich oft mit Taxifahrer*innen und anderen Leuten über die Krim. Es herrschte eine Stimmung der stillen Resignation angesichts der Tatsache, dass die Ukraine die Krim endgültig verloren hatte. Oft ertappte ich mich dabei, dass ich aufbauende Reden hielt, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis die Krim befreit würde. Dies zeigt auch, dass die Bedeutung des krimtatarischen Faktors von der Politik und der Gesellschaft im Allgemeinen unterschätzt wurde.

Als Reaktion darauf haben wir 2018 gemeinsam mit Eskender Barijew vom Krimtatarischen Ressourcenzentrum die zivilgesellschaftliche Bewegung #LiberateCrimea initiiert. Sie setzt sich für das Ende der Besetzung der Krim und die Umsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Krimtataren ein. Für mich bestand ein wesentliches Anliegen dieser Bewegung gerade darin, den Diskurs über die Krim zu verändern: vom faktischen Schweigen zu Forderungen nach Befreiung. Das hat den Diskurs über die Krim tatsächlich bis zu einem gewissen Grad geprägt: Heute ist die Befreiung der Krim das erklärte politische und militärische Ziel der Ukraine. So ändern sich die Zeiten.


Wie sind die Krimtataren in der Ukraine politisch repräsentiert? 

Krimtataren haben noch nie so viele hohe politische Ämter in der Ukraine bekleidet wie heute. Der Verteidigungsminister der Ukraine, Rustem Umerov, ist zum Beispiel Krimtatare. Auch die erste stellvertretende Außenministerin der Ukraine, Emine Dzheppar, ist Krimtatarin. Bevor sie in den öffentlichen Dienst eintrat, hatte ich die Gelegenheit, mit ihr zusammenzuarbeiten. Es gibt mehrere krimtatarische Abgeordnete und andere hochrangige Beamt*innen. Soweit ich weiß, haben führende krimtatarische Politiker*innen wie Refat Tschubarow – Vorsitzender des Medschlis – und Mustafa Dschemilew Zugang zu allen wichtigen Machtstrukturen in der Ukraine. Dies ist eine beachtliche Verbesserung im Vergleich zur Zeit vor 2014.

Es steht jedoch auf einem anderen Blatt, ob die Stimmen der krimtatarischen Politiker*innen und Expert*innen wirklich gehört werden und entsprechend gehandelt wird. Leider dürfte das Misstrauen des ukrainischen politischen Establishments von vor 2014 gegenüber den Krimtataren noch immer nicht ganz verschwunden sein (aus Gründen, die eine gesonderte Analyse erfordern würden). In der Ukraine fehlt noch immer Bewusstsein dafür, was indigene Völker und ihre Rechte wirklich bedeuten. Als Staat hat die Ukraine nie wirklich Kompetenzen in dieser Sache entwickelt. Ein Beispiel dafür ist die Planung für die Wiedereingliederung der Krim in die Ukraine. Wie sollen die Rechte der Krimtataren auf der befreiten Krim gewährleistet werden? Es ist in keiner Weise sichergestellt, dass die UNDRIP dort vollständig und ordnungsgemäß umgesetzt wird, auch wenn die Ukraine dieses Dokument offiziell anerkennt und kürzlich ein Gesetz über die Rechte indigener Völker verabschiedet hat.

 
Warum musste erst etwas Schlimmes passieren, nämlich die Annexion, bevor die Krimtataren von den Ukrainern anerkannt wurden?

Diese Frage richtet sich an die politische Führung der Ukraine sowohl vor als auch während und nach der Annexion der Krim: Was war Ihr Problem mit den Krimtataren? Warum war es für Sie so schwierig, ihre Selbstidentifikation als indigenes Volk gemäß internationalem Recht und internationalen Normen anzuerkennen? Warum haben Sie den Menschen misstraut, die sich am Ende als größere ukrainische Patriot*innen erwiesen haben als Sie alle zusammen? 

Persönlich glaube ich, dass in der Ukraine viele der Stereotypen aus der Sowjetzeit über die Krimtataren weiterlebten. Durch die engen politischen Beziehungen der Ukraine zu Russland wurden diese noch bestärkt. Die Politik der Ukraine gegenüber den Krimtataren spiegelte ihren allgemeinen Status als Vasallenstaat Russlands wider. Es bedurfte tatsächlich der Annexion der Krim, damit das ukrainische politische Establishment aufwachte und seinen Kurs änderte.
 

Was bedeutet die Anerkennung der Krimtataren, Karäer und Krimtschaken als indigene Völker der Ukraine konkret für die Betroffenen?

Solange die Krim von der Russischen Föderation besetzt ist, hat diese Anerkennung vor allem symbolischen Wert. Aber selbst das ist bedeutsam: Es prägt die individuelle und kollektive Identität dieser Völker und stärkt ihr Selbstbewusstsein und ihren Stolz auf ihre Ethnie und ihr kulturelles Erbe. Politisch ist die Anerkennung insofern wichtig, als dass Russland diese Gruppen nicht als indigene Völker anerkennt, sondern als ethnische Minderheiten bezeichnet. Die Anerkennung als indigene Völker hat jedoch hinsichtlich der Menschenrechte Bedeutung: Diese drei Gruppen – die Krim ist für sie alle die historische Heimat – könnten auf der befreiten Krim ihr Recht auf Selbstbestimmung einfordern. Auch alle anderen Rechte, die in der UNDRIP und der ukrainischen Gesetzgebung aufgeführt sind, sollten ihnen dann zukommen. 

Doch wie bereits gesagt, ist dies zum jetzigen Zeitpunkt keineswegs garantiert. Auch nach der Befreiung der Krim wird der Kampf der Krimtataren um ihre Rechte, einschließlich einer gewissen Autonomie, in der Praxis nicht zu Ende sein. Er wird lediglich in einem neuen politischen Kontext und einer neuen Realität weitergehen. Daher ist diese Anerkennung als indigenes Volk wie ein Versprechen, das darauf wartet, eingelöst und mit Inhalt gefüllt zu werden.

Beim Ständigen Forum der Vereinten Nationen für indigene Angelegenheiten (UNPFII) in New York nehmen die Krimtataren regelmäßig aktiv teil und nutzen die Gelegenheit, um der internationalen indigenen Gemeinschaft ihre menschenrechtliche Situation zu schildern.
(Symbolbild des Forums von 2017)
Foto: © Claus Biegert/GfbV

 Was sollten die UN- und EU-Organe tun, um die Krimtataren zu stärken und zu schützen?

Die UN haben gute Arbeit geleistet, indem sie den Krimtataren die Möglichkeit gegeben haben, sich an der Arbeit ihrer indigenen Mechanismen, wie beim UNPFII und beim EMRIP, zu beteiligen. Der dritte UN-Mechanismus für indigene Völker, der Sonderberichterstatter für die Rechte indigener Völker, widmet der Situation der Krimtataren dagegen leider nicht genügend Aufmerksamkeit. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass das Personal dort – einschließlich des derzeitigen Sonderberichterstatters Francisco Calí Tzay – nicht in den größeren Konflikt zwischen Russland und der Ukraine hineingezogen werden wollte. Man zog es vor, neutral zu erscheinen. 

Auf jeden Fall wurde die Gelegenheit verpasst, einen Beobachtungsbesuch auf der Krim zu machen, als dies theoretisch noch möglich gewesen wäre und positive Auswirkungen für die Krimtataren hätte haben können. Hier kommt ein breiteres Problem in der Arbeitsweise internationaler Institutionen zum Ausdruck: Sie ziehen es vor, sogenannte „Grauzonen“ oder „eingefrorene Konflikte“ möglichst nicht anzupacken, meist aus persönlicher oder institutioneller Angst. Dabei gibt es in Wirklichkeit überhaupt nichts Graues oder Eingefrorenes auf der Krim oder bei den Krimtataren. Sie sind einer illegalen Besetzung durch die Russische Föderation lebt, seine Rechte selbst verteidigt und von der Ukraine und der internationalen Gemeinschaft erwartet, dass sie es in seinem Streben nach einem Leben in Würde und Freiheit unterstützen.

Oliver Loode ist ein estnischer Menschenrechtsaktivist der internationalen finnougrischen Bewegung. Er ist der geschäftsführende Direktor des URALIC Zentrum in Tallinn, Estland, welches er 2017 gründete. Die Nichtregierungsorganisation engagiert sich für die kulturelle und zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit uralischer (finno-ugrischer und samojedischer) Völker sowie für indigene Rechte und Schutz auf internationaler Ebene. Loode war von 2014 bis 2016 Expertenmitglied beim Ständigen Forum der Vereinten Nationen für indigene Angelegenheiten (UNPFII) und von 2015 bis 2017 Leiter des Kulturprogramms bei der Minority Rights Group International.
Foto: © privat
 

[Info]
Sarah Reinke führte das Interview im Januar 2024 in schriftlicher Form. Salome Müller übersetzte es anschließend aus dem Englischen und passte es sprachlich leicht an.
 



GfbV-Zeitschrift im Abo

Wir würden uns besonders darüber freuen, wenn Sie unsere Zeitschrift regelmäßig lesen möchten: Das Abonnement umfasst sechs Ausgaben im Jahr und kostet inklusive Versand 25 Euro pro Jahr (ermäßigt 20 Euro).

Jetzt Zeitschrift abonnieren oder kostenloses Probeheft anfordern.

Lesen Sie weiter