In ihrer Zeit in Kyiv entdeckte unsere Autorin die traditionellen Tänze der Krimtataren neu für sich.
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Das Jahr 2014 änderte das Leben unserer Autorin schlagartig: Die russische Annexion der Krim raubte ihr ihre Heimat, ihren Alltag und ihre damaligen Zukunftspläne. Trotzdem fühlt sie heute eine noch stärkere Verbundenheit mit der Krim als je zuvor. Sie ist überzeugt, dass die Krimtataren alle Herausforderungen überwinden können, wenn sie zusammenstehen. 

Von Elnara Nuriieva-Letova
 

Zusammen mit dem krimtatarischen Superstar Jamala (rechts) besuchte unsere Autorin im Jahr 2015 in Kyiv zum ersten Mal die Demonstration zum Gedenken an die Deportation der Krimtataren.
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Februar 2014… Ein sehr dunkler Monat für jede pro-ukrainische Person auf der Krim. Ich arbeitete damals für eine US-amerikanische IT-Firma. Meine Karrierechancen sahen vielversprechend in diesem Bereich aus. Aber mit der russischen Annexion der Krim änderte sich alles für mich. Ich dachte ernsthaft darüber nach, alles hinzuwerfen, was mir vorher wichtig erschienen war. Ich wollte einfach zum Medschlis [Krimtatarisch: Qırımtatar Milliy Meclisi; das höchste Exekutiv- und Repräsentationsorgan des krimtatarischen Volks; Anm. d. Autorin] gehen und sagen: „Bitte, gebt mir etwas zu tun. Ich kann nicht rumsitzen und die Dinge geschehen lassen!”

Obwohl ich damals keine Erfahrung mit NGOs oder in der Medienwelt hatte, wollte ich mich der Bewegung der Aktivist*innen anschließen, um die russische Invasion zu stoppen. Ich konnte damals einfach nicht glauben, was passierte. Zum ersten Mal in meinem Leben kam mir die Idee, Journalistin zu werden: Ich wollte die ganze Welt darüber informieren, was auf der Krim geschah; wie ernst es war und vor allem wie ungerecht – zumindest für diejenigen, die nicht gefragt und die nicht darauf gewartet hatten, dass Russland kommt. Bis ich tatsächlich Journalistin wurde, dauerte es noch ein paar Jahre. Doch 2014 war der Auslöser für die Wende meines Lebens.

Tage und Monate wie im Zeitraffer

Ich habe mich vor 2014 nie besonders für Politik interessiert. In der Spalte „Politische Ansichten“ auf meiner Seite des damals in der Ukraine sehr beliebten russischen sozialen Netzwerks „VKontakte“ hatte ich „Gleichgültig“ angegeben. Darauf bin ich nicht stolz. Aber ich hatte einfach andere Prioritäten. 2014 weckte mein Interesse an Dingen, die mich vorher nie beschäftigt hatten, insbesondere für die Geschichte der Invasionen des Nachbarstaats Russland beziehungsweise zuvor der Sowjetunion.

Erst 2014 erfuhr ich von der Existenz Pridnestrowiens [Pridnestrowische Moldauische Republik/Transnistrien; Gebiet in Südosteuropa an der moldauisch-ukrainischen Grenze; völkerrechtlich Bestandteil der Republik Moldau; steht unter starkem (militärischem) russischem Einfluss; Anm. d. Red.]. Erst 2014 begann ich, mich für die genauen Ereignisse in Tschetschenien, Georgien und Afghanistan zu interessieren. Am Ende begann meine bescheidene journalistische Karriere mit einer langen Facebook-Nachricht, die ich an alle meine englischsprachigen Freund*innen verschickte. Meine US-amerikanischen Freund*innen leiteten diese dann sogar weiter an ihren Senator, aber… 

Alles passierte damals so schnell… Dieses hastig durchgeführte Pseudo-Referendum [durchgeführt am 16. März 2014; Anm. d. Red.], das die meisten meiner Freund*innen und Bekannten boykottierten und nicht daran teilnahmen… Es hätte keinen Unterschied gemacht. Denn natürlich, um die Annexion zu rechtfertigen, zählte Russland nur die Stimmzettel derjenigen Menschen, die das Referendum für legitim hielten und für den Anschluss der Krim an Russland stimmten. Mit diesem Ergebnis musste ich ziemlich schnell eine Entscheidung treffen, was ich als Nächstes tun wollte… 

Nach der Ankunft Russlands auf der Krim versuchte die Firma, bei der ich damals arbeitete, mit allen Mitteln, unser Büro in Simferopol [Hauptstadt der Autonomen Republik Krim; Anm. d. Red.] zu halten. Viele Mitarbeitende hatten Kinder und Angehörige im Seniorenalter. Sie konnten die Stadt nicht einfach verlassen. Und allgemein wollten nur wenige freiwillig irgendwo anders hinziehen und ein neues Leben beginnen. Die Krim war unser Zuhause. Doch Ende Dezember 2014 verhängten die USA ein Sanktionspaket, das US-amerikanischen Unternehmen jegliche Aktivitäten auf dem Territorium der Krim untersagte. Im Fall eines Verstoßes hätte den Firmeninhabern eine hohe Geldstrafe, die Auflösung des Unternehmens, die Beschlagnahmung von Eigentum und sogar eine Gefängnisstrafe drohen können. Eine Zukunft in Simferopol war unmöglich.

Die Firmenleitung führte deswegen eine Umfrage unter den Mitarbeitenden durch. Sie bot folgende Städte als Optionen für die Verlegung des Büros an: Kyiv, Lviv, Odessa [alle drei Städte befinden sich auf ukrainischem Festland; Anm. d. Red.], Krasnodar, Novorossiysk und Stawropol [diese drei Städte liegen in Russland; Anm. d. Red.]. Die letzten drei Optionen habe ich für mich sofort verworfen – viele meiner Kolleg*innen aber nicht. Etwas mehr als 50 Prozent der Mitarbeitenden stimmten für Krasnodar. So war die Entscheidung gefallen. Krasnodar liegt östlich von der Krim. 

Eine Ironie des Schicksals war, dass unsere Firma aus Kostengründen nur zwei von vier Abteilungen nach Russland verlegen konnte. Zwei andere mussten geschlossen werden. Die Schließung betraf etwa 50 von 100 Personen – und unter diesen 50 Mitarbeitenden waren viele derjenigen, die für Krasnodar als neuen Standort gestimmt hatten. Jetzt brauchte die Firma sie nicht mehr wirklich. Leute wie mich versuchte das Top-Management dagegen zu überzeugen, mit nach Krasnodar zu ziehen. Die Versuchung war groß: Die Leitung versprach ein höheres Gehalt und ein Startgeld für sechs Monate, um die Miete und andere Kosten zu decken. Zudem stellte sie mir Geschäftsreisen nach New York City oder sogar einen Umzug dorthin in Aussicht, falls sich Krasnodar als völlig unerträglich für mich herausstellen sollte… 

Aber ich weigerte mich. Ich beschloss stattdessen, nach Kyiv zu gehen. Es reichte mir, dass Russland zu mir nach Hause gekommen war. Ich wollte kein „zusätzliches Russland” in meinem Leben haben. Nach Russland zu ziehen, wäre ein Verrat an allem gewesen, woran ich jemals geglaubt habe. 
 

Die Arbeit mit dem Angenehmen verbinden: Elnara Nuriieva-Letova (links) zusammen mit ihrem Kollegen Osman Pashayev von UA:SOUTH im „Balkon-Büro“.
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Ein starkes Band zwischen Kyiv und der Krim

Nach meinem Umzug nach Kyiv fühlte ich eine stärkere Verbindung zur Krim als je zuvor. Ich kannte bereits einige Krimtatar*innen in der Stadt, die ich von Zeit zu Zeit traf. Aber das reichte mir irgendwann nicht mehr. Ich begann mit der Suche nach größeren krimtatarischen Gruppen. Außerdem wollte ich meine Kenntnisse der Sprache meines Volks verbessern und fand heraus, dass es tatsächlich krimtatarische Sprachkurse in Kyiv gab. Ich schloss mich dieser Gruppe Lernwilliger an, die aus einer Mischung aus Krimtataren wie mir bestand, die ihre eigene Sprache Krimtatarisch nicht gut beherrschten, und einigen begeisterten Ukrainern, die von den Krimtataren beeindruckt waren und sich so zum Erlernen unserer Sprache inspirieren ließen.

Ich begab mich noch weiter auf krimtatarische Spurensuche. Erst als ich nach Kyiv zog, lernte ich den Text der „Ant Etkenmen“ [Krimtataren-Hymne; Anm. d. Autorin] kennen. Erst als ich nach Kyiv zog, besuchte ich am 18. Mai zum ersten Mal das Treffen, das der Erinnerung an die Deportation des krimtatarischen Volks im Jahr 1944 gewidmet ist. Erst als ich nach Kyiv zog, beschäftigte ich mich wieder mit der krimtatarischen Choreographie, von der ich mich vor 10 Jahren aufgrund einer Wirbelsäulenverletzung hatte verabschieden müssen.

Unsere kleine Tanzgruppe unter der Leitung von Elnara Khalilova wurde 2016 zu einem Ensemble namens „Badem“ [Krimtatarisch für „Mandel“; Anm. d. Autorin]. Wir nähten uns Konzertkostüme und traten bei einigen Veranstaltungen auf, hauptsächlich in Kyiv. Später, im Jahr 2017, wurden wir zum International Black Sea Folk Festival [dt. etwa: internationales Volksfest am Schwarzen Meer] in Georgien eingeladen. Dort traten wir zusammen mit den bekannten Sängerinnen Aliye Khadzhabadinova und Marina Krut auf. 

In einem Moment auf diesem Festival erschien es mir plötzlich sehr unfair, dass wir uns in wenigen Stunden leicht von Kyiv aus in einem anderen Land auf einem Fest wiederfinden konnten – aber unsere Häuser auf der Krim unendlich weit weg erschienen. Um dorthin zu gelangen, mussten wir zehn Stunden mit dem Bus fahren und dann alle Schikanen beim Überqueren der Grenze zur Krim erdulden…

Alle drei bis vier Monate besuchte ich meine Verwandten und Freund*innen auf der Krim. Damals war es noch möglich, mit dem Zug in die Städte Nowooleksijiwka oder Cherson zu gelangen und von dort mit dem Bus oder Taxi jede beliebige Stadt auf der Krim zu erreichen. Auf der Krim schien alles still und ruhig zu sein. Aber die Luft war so schwer geworden. Direkt vor unseren Augen verwandelte sich die Krim vom wichtigsten ukrainischen Ferienort in ein russisches Militärübungsgelände…

Ich lebte damals zwischen zwei Städten: Bağçasaray und Kyiv. 2019 erhielt ich dann ein Angebot, in Deutschland zu arbeiten. Ich war weiterhin in der IT beschäftigt. Doch der Verlust meiner Heimat und die ganze angespannte Situation ist nicht spurlos an mir vorbeigegangen: Ich war erschöpft und litt seit mehreren Jahren unter schweren Depressionen und Burnout. Mit Beginn des Kriegs im Februar 2022 begann ich, Geflüchtete aufzunehmen. Anscheinend habe ich jedoch mehr auf mich genommen, als ich aushalten konnte. Schon am 14. März 2022 schaffte ich es nicht mehr, aus meinem Bett aufzustehen.
 

Ihren Geburtstag feiert Elnara (Mitte) mit ihrer neugefundenen krimtatarischen Familie in Berlin: mit UA:SOUTH Reporter Emil Ibrahimov und seiner Frau, mit Nasibe Hanum und Osman Pashayev (v.l.n.r.).
Foto: © privat

Im Unglück zueinanderstehen

Ein guter Freund bestand darauf, dass ich einen Arzt aufsuchen sollte. Als die Ärztin meinen Zustand sah, schickte sie mich sofort in die Notaufnahme. Die Aussicht auf einen Krankenhausaufenthalt oder der Gedanke, dass ich womöglich mehrere Monate in einer psychiatrischen Klinik verbringen müsste, zogen mich noch tiefer herunter. Doch nach meinem Gespräch mit dem Psychiater in der Notaufnahme kam er zu dem Schluss, dass ich keine Gefahr für mich oder andere darstellte. Ich brauchte keine stationäre Behandlung. Daraufhin gab mir der Arzt einen Zettel mit der Diagnose „schwere depressive Episode“ und bot mir eine Station-äquivalente Behandlung erst zu Hause und später in einer Tagesklinik an.

Mir war klar, dass ich in den kommenden Monaten nicht würde arbeiten können. Das war ein Problem, denn ich hatte nur eine freiberufliche Aufenthaltserlaubnis für Deutschland, die keine bezahlten Krankenurlaubstage vorsah oder andere staatlichen Unterstützungen abdeckte. Ich musste eine Möglichkeit finden, meine vorhandenen Ersparnisse über den Behandlungszeitraum zu verteilen. Doch wie das manchmal ist, ließ eine Lösung nicht lange auf sich warten: Eine gute Freundin von mir postete auf Facebook im Internet einen Beitrag des berühmten ukrainischen Journalisten Osman Pashayev. Dieser suchte damals eine Unterkunft für einen seiner Reporter und dessen Frau in Berlin. Dafür war er bereit, zu zahlen. Ich dachte, dass es eine ideale Option für mich wäre, ein junges krimtatarisches Paar bei mir unterzubringen und die Miete für die Wohnung mit ihnen zu teilen. Ich konnte das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.

So zogen zunächst die zwei jungen Leute bei mir ein. Später besuchte uns auch Osman selbst, wurde zu einem häufigen Gast, da seine Mutter in Deutschland im Krankenhaus lag, und zog schließlich als Mitbewohner bei uns ein. Er fragte mich eines Tages, was ich im Leben mache, außer meinen Kopf in der Tagesklinik behandeln zu lassen. Ich erzählte ihm, dass ich fast mein ganzes Leben als Projektmanagerin in der IT gearbeitet habe, worauf er antwortete: „Oh! Du sprichst also gut Englisch! Unser Projektmanager hat gekündigt, und wir müssen einen vierteljährlichen Bericht für die Krim Medien Plattform/UA:SOUTH erstellen. Was sagst du dazu?“ Natürlich stimmte ich diesem unverhofften Jobangebot in Teilzeit gerne zu.

 

Für Refat Tschubarow, Vorsitzender des Medschlis, und Mustafa Dschemilew (rechts), Anführer der Krimtataren, dolmetschte Elnara 2017 bei einer Veranstaltung zum Tag der indigenen Völker in Kyiv.
Foto: © André Luís Alves

Das UA:SOUTH ist eine Nachrichtenplattform im Internet. Die Berichterstattung konzentriert sich größtenteils auf die Entwicklungen im Krieg Russlands gegen die Ukraine. Das Portal veröffentlicht auf Krimtatarisch, Ukrainisch, Russisch, Türkisch und Englisch. Es zeigt die Perspektiven von uns Krimtatar*innen. 

Neben einer Projektleitung benötigte das UA:SOUTH auch einen Übersetzer vom Ukrainischen/Russischen ins Englische und umgekehrt. Also trat ich, zunächst als Übersetzerin, dem Redaktionsteam bei. Dann begann ich, weitere Aufgaben, gerade auch im IT-Bereich, zu übernehmen. Und dann, eines Tages, habe ich mich hingesetzt, um einen Beitrag auf Facebook zu schreiben. Aber er stellte sich als zu lang für das Format heraus. Ich beschloss, ihn nicht zu kürzen, sondern ihn meinem Kollegen zu zeigen. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir nur wenige Autor*innen, die sich an dem Projekt beteiligten. Mit diesem Moment begann meine echte journalistische und schriftstellerische Karriere. Mein „Bakhchisaray-Berlin Express“ setzte sich endlich in Bewegung… [„Bakhchisaray-Berlin Express“ heißt eine Reihe von Texten, die Elnara Letova über ihre Erinnerungen auf UA:SOUTH veröffentlicht; Anm. d. Red.] 
 

Ihre beiden Katzen sind Elnaras treue Begleitung: Cheetah ist mit Elnara schon von Kyiv nach Berlin gezogen, Luchik hat sie 2023 adoptiert. Der Kater wurde aus Konstantiniwka, einem Dorf an der Front und in direkter Schusslinie in der Region Donezk in der Ukraine, gerettet.
Foto: © privat

Jedes Mal, wenn ich zurückblicke, bin ich wieder erstaunt über die komplexe Kette an Ereignissen, die mich zu dem geführt hat, was ich heute tue. Tatsächlich ist das etwas, wovon ich nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Bis hierher war es ein sehr schwieriger und schmerzhafter Weg. Aber er hat mich an einen Punkt gebracht, an dem ich das Gefühl habe, dass ich meine Kraft und Energie in etwas wirklich Wichtiges und Bedeutungsvolles stecke – in etwas, das mich erfüllt; in etwas, für das ich brenne. 

Ich möchte wirklich glauben, dass all‘ die Prüfungen, die meinem Volk in der Vergangenheit, in der Gegenwart und vielleicht noch in der Zukunft widerfahren, uns letztendlich zu einem besseren, bewussteren und sinnvollen Leben führen werden. Aber zuerst müssen wir die Herausforderungen gemeinsam und mit Würde durchstehen.

[Die Autorin]
Elnara Nuriieva-Letova ist krimtatarische Crossmedia Aktivistin, Autorin und Publizistin. 



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