Lalisch ist das zentrale Heiligtum der Yezid*innen. Hierher kommen die Seelen der Verstorbenen, um über ihr Leben auf der Erde Rechenschaft abzulegen

Foto: © Kamal Sido/GfbV

 

Das Diesseits und das Jenseits sind in der Vorstellung der Yezid*innen eng miteinander verbunden. Jenseitsgeschwister begleiten die Seele eines Menschen zum Beispiel über dessen Tod hinaus. Im Interview beschreibt Dr. Khalil Jindy Rashow, wie Begräbnisrituale Trost spenden, welche Bedeutung yezidische Gräber in den Heimatdörfern haben und wie die während des Genozids Ermordeten und in anonymen Massengräbern Verscharrten, ihre Identität und Würde zurückbekommen.

Interview geführt von Johanna Fischotter

Wikipedia; gemeinfrei
Bearbeitung: studio mediamacs Bozen

 

Welche Vorstellung gibt es im Yezidentum vom Leben nach dem Tod?

Der Tod ist eng verbunden mit dem ewigen Leben bei den Yeziden. Die yezidische Religion vertritt die Meinung, dass der Geist, die Seele, unsterblich ist. Beim Tod trennt sich die Seele vom Körper. Das Schicksal dieser Seele ist davon abhängig, was diese Seele in jenem Körper auf Erden gemacht hat. In Lalisch, das ist das zentrale Heiligtum der Yeziden, ist ein Engel, der für Seelen zuständig ist. Die Seele muss sich vor diesem Engel einem Gericht stellen, muss Rede und Antwort stehen. Sie hat dabei einen Beistand: ihren Scheich [Angehöriger der obersten geistlichen Kaste im Yezidentum; Anm. d. Red.], einen Pīr [ebenfalls geistliche Kaste; etwa vergleichbar mit einem Priester; Anm. d. Red.] und ihren Birayê axretê beziehungsweise ihre Xweha axretê, also ihren Bruder oder ihre Schwester für das Jenseits. Dann wird aufgerollt, was die Seele Gutes und Schlechtes auf Erden vollbracht hat.

Wenn der Mensch zu Lebzeiten mehr gute als schlechte Taten vollbracht hat, kehrt diese Seele in den Körper eines Menschen zurück – also sagen wir, wenn die Person mehr als 50 Prozent gute Taten vollbracht hat. Die Fragen, die vor Gericht ausschlaggebend sind, können zum Beispiel sein: Hat er andere Menschen gut behandelt? Hat er seinen Scheich gut behandelt? Seinen Pīr? Seinen Bruder des Jenseits? Hat er die Armen gut behandelt? War er gerecht? Hat er nicht gelogen?

Wenn die Antworten negativ ausfallen und er schlechte Taten vollbracht hat – gar Menschen getötet hat, nicht gut zu seinem Scheich war, zu seinem Pīr, zu seinem Bruder oder seiner Schwester Jenseits – dann wird sich diese Seele im Körper eines Tieres wiederfinden. Es gibt dann einen bestimmten Zeitraum, in dem die Seele Lehren ziehen kann aus ihrem ersten Leben. Mit dem Dazulernen sammelt sie wieder gute Punkte. Wenn die Seele nicht lernen will, dann bleibt sie im Tierkörper.

Wegen dieser Vorstellung vom Leben nach dem Tod sagen wir, dass das Yezidentum an Seelenwanderung glaubt. Sie ist die Grundlage. Ein ähnlicher Glaube an die Seelenwanderung kommt auch in vielen anderen Religionen vor: etwa bei den Drusen, den Hindus oder Buddhisten.

Wandern die Seelen immer von Yeziden zu Yeziden, wenn sie gute Taten vollbracht haben; oder beispielsweise auch in die Körper von Christen?

Das ist unbegrenzt. Die Seele eines Yeziden kann im nächsten Leben auch im Körper eines Christen sein. Sie kehrt einfach in einen guten Menschen zurück, unabhängig davon, wer er ist.

Unterstützt der Bruder oder die Schwester Jenseits den Menschen schon als Lebenden?

Ja: Das ist sein Zeuge auf Erden und im Jenseits.

Aber die sterben doch meistens nicht gleichzeitig…

Nein. Es ist die Seele, die im Jenseits vor Gericht anwesend ist. Der Jenseitsbruder kann noch hier auf Erden anwesend sein und leben, aber seine Seele erscheint für ihre Aussage beim Prozess. Das ist die Theologie.

 

Dr. Kamal Sido, Dr. Khalil Jindy Rashow und Johanna Fischotter (v.l.n.r.) am 31. August 2023 im Bundesbüro der GfbV kurz nach dem Interview.
Foto: © Serdar Baysal/GfbV

Was passiert hier auf der Erde, wenn jemand stirbt? Welche Rituale gibt es beispielsweise, die eingehalten werden sollten?

Wenn jemand krank ist und kurz vor dem Tod steht, kommt nochmal sein Scheich zu ihm. Jeder Yezide weiß, wie sein Scheich oder seine Scheich-Kaste heißen. Auch sein Pīr kommt nochmal und sein Jenseitsbruder oder seine Jenseitsschwester. Sie alle kümmern sich um den Sterbenden.

Wenn die Person schließlich gestorben ist, wird der Leichnam vom Scheich gewaschen – oder wenn der Scheich nicht anwesend sein kann, von einer anderen Person. Danach wird der Tote in einen Stoff eingehüllt, den Kafan. An der Stelle, wo der Kopf ist, wird der Stoff zugebunden. Der Tote muss tagsüber beerdigt werden, nicht in der Nacht. Das Grab wird dafür vorbereitet und ausgehoben: etwa zwei Meter tief. Bis zu seiner Beerdigung liegt der Tote zuhause auf dem Bett oder auf dem Boden. Bevor man den Marsch zum Friedhof antritt, wird der Leichnam dreimal hochgehoben und wieder hingelegt. Damit lässt man den Toten sich von seinem zuhause verabschieden.

Auf dem Friedhof ist wieder der Scheich anwesend. Es werden hauptsächlich drei Arten von Texten rezitiert: Talqin (eine Trauerrede), Dur Salmangeh (dt.: Begräbniszitate) und Midinur Dahur. Übersetzt bedeutet der letztgenannte Text in etwa „Du Armer“. Durch ihn zeigen die Trauergäste ihr Mitleid mit dem Verstorbenen und wünschen ihm alles Gute für seinen Weg ins Jenseits.

Bevor man den Leichnam ins Grab legt, hebt man ihn nochmal dreimal hoch und wieder runter. So hat der Verstorbene Gelegenheit, sich von den anwesenden Trauergästen zu verabschieden. Es ist für ihn der Schlussstrich, den er unter sein Leben auf Erden zieht – unter die guten Taten und unter die schlechten Taten. Dann wird er ins Grab hinabgelassen. Die Füße des Verstorbenen zeigen dabei in Richtung Osten, der Kopf Richtung Westen. Warum Westen? Weil es die Richtung des Sonnenuntergangs, des Endes ist.

Liegt der Verstorbene im offenen Grab, wirft sein Scheich ein wenig Barat, heilige Erde aus Lalisch, symbolisch auf verschiedene Bereiche des eingehüllten Körpers. Die gleiche Person, die das Tuch zugebunden hat, steigt jetzt hinunter ins Grab und löst den Knoten am Kopfende. Bevor die Trauergäste danach den Friedhof verlassen, setzen sich alle für sehr kurze Zeit vor dem Grab hin. Dann stehen sie auf und gehen nach Hause. Nur der Tote bleibt von der Gemeinschaft jetzt auf dem Friedhof zurück. Später wird das Grab geschlossen.

 

In dem yezidischen Dorf Kocho erinnern Fotos an die vielen Ermordeten, die einst hier gelebt haben. Der „Islamische Staat“ hatte das Dorf am 15. August 2014 überfallen.
Foto: © Kamal Sido/GfbV
Einen Ort des Gedenkens an den Genozid aber auch des gemeinsamen Weiterlebens hat der Yezide Dr. Mirza Dinnyai in Sinjar gegründet: das „House of Coexistence“. Bei seinem Besuch im April 2023 pflanzte GfbV-Mitarbeiter Kamal Sido (rechts) symbolisch einen Baum.
Foto: © GfbV

Welche Trauerphasen gibt es im Yezidentum?

Nach dem Tod eines Menschen setzt für die Angehörigen und Gäste eine dreitägige Trauerphase ein. Dafür werden Speisen vorbereitet und gemeinsam gegessen. In dieser Trauerzeit rezitieren die Scheichs, Qewals – ebenfalls Würdenträger im Jesidentum – und Pīrs aus den yezidischen Texten. Am siebten Tag nach dem Tod kommen nochmal alle zum gemeinsamen Essen zusammen. Serviert wirdnicht nur Fleisch, sondern auch viel frisches Obst, getrocknete Trauben und Walnüsse. Am 40. Tag nach dem Tod gibt es nochmal eine Trauerfeier.

Ein Jahr später spenden die Angehörigen nochmal Essen. In dieser Trauerzeit, also bis zu einem Jahr, kann es vorkommen, dass die Familie des Toten unbegrenzt oft Essen im Gedenken an die Seele des Verstorbenen spendet. Früher war es auch oft so, dass die Angehörigen die Leute, die sich im Kontext der Beisetzung um den Toten gekümmert haben – ihn gewaschen haben, oder für ihn am Grab rezitiert haben – beschenkt haben: zum Beispiel mit Kleidung, oder anderen wertvollen, eigenen Sachen.

Sie haben eben ein einzelnes Grab schon ein wenig beschrieben. Wie sieht denn insgesamt ein typischer yezidischer Friedhof aus?

Früher hat jedes Grab einen Grabstein am Kopfende und einen am Fußende gehabt. Die einzelnen Gräber sind mit Steinen voneinander abgegrenzt. Außerdem liegt je eine Felsplatte auf jedem Grab. Nach dem Glauben der Yeziden ist es nämlich so: Wenn der Tote mal versucht, aufzustehen, stößt er sich den Kopf an dem Stein. Dadurch weiß er sofort, dass er tot und dass hier jetzt sein Zuhause ist. Hier muss er bleiben.

Früher hat man auf dem Grabstein Symbole aus der Biografie des Toten abgebildet. Wenn er zum Beispiel ein tapferer Mensch war, ein Krieger, wurden zum Beispiel ein Dolch oder eine andere Waffe abgebildet. Mittlerweile ist das Symbol der Sonne oft auf den Grabsteinen an den Kopfenden zu finden. Außerdem zeigen die Grabsteine heutzutage auch Bilder der Verstorbenen. Das ist aber neu.

Stoßen Yezid*innen in der Diaspora, etwa hier in Deutschland, auf Probleme, diese Rituale von Beerdigung, Trauer und Trost durchzuführen?

Nein, in Deutschland haben wir keine Probleme. Wir führen die gleichen Rituale wie in der Heimat durch. Mittlerweile gibt es auch yezidische Friedhöfe in Deutschland, etwa in Hannover, Bremen, Bonn oder Köln. Überall.

Und wie kommt die Erde aus Lalisch nach Deutschland, die für die Beerdigung benötigt wird?
Jeder Mensch, der nach Lalisch reist, bringt einfach ein bisschen Erde mit.

Durch den Genozid 2014 an den Yezid*innen wurden viele Opfer anonym in Massengräbern verscharrt. Wie gehen die Yezid*innen damit um?

Bis heute wurden 81 Massengräber in Irak entdeckt. Bei 23 dieser Gräber wurden bisher alle Opfer ausgegraben und identifiziert. Bei manchen Opfern findet man die Ausweise oder andere Dokumente oder Gegenstände, die belegen, wer die Person war. Bei den anderen stellt die Gerichtsmedizin in Bagdad (Hauptstadt des Irak) die Identitäten per DNA-Analyse mit 100 prozentiger Sicherheit fest. Die Opfer aus diesen 23 Massengräbern wurden bei einer offiziellen Zeremonie in dem Dorf Kocho in
Nordirak beigesetzt. Wenn es ein Bild von dem Opfer gibt, kommt es zusammen mit dem Namen und dem Geburtsdatum mit auf den Grabstein.

Bei den restlichen 58 bisher entdeckten Massengräbern wird aktuell noch daran gearbeitet, die Toten zu bergen und zu identifizieren. Diese Arbeit schreitet im Moment aber nicht voran, weil es politische Streitigkeiten gibt und sich viele Menschen einmischen. Die Situation in Sinjar [Hauptsiedlungsgebiet und Heimat der Yeziden in Nordirak; Anm. d. Red.], der Streit um die Region um Sinjar herum, haben negativen Einfluss auf die Identifizierung der Opfer und die feierlichen Beisetzungen. Aber trotzdem: Wenn eine Familie erfährt, dass ein Angehöriger unter den geborgenen Leichen ist, führen sie die Beerdigungsrituale durch.

 

Ein traditioneller yezidischer Friedhof im Sinjar in Nordirak.
Foto: © Kamal Sido/GfbV

Ist die Seelenwanderung nur möglich, wenn Yeziden nach den traditionellen Riten der Beisetzung beerdigt wurden?

Nein, die Seelenwanderung ist immer möglich.

Viele Angehörige der Ermordeten müssen bis heute in Lagern für Geflüchtete ausharren oder leben mittlerweile in anderen Ländern. Ob und wann sie in ihre ursprüngliche Heimat zurückkehren können, ist ungewiss. Wie handhaben sie die Suche nach Angehörigen und deren Beerdigung?

Es gibt viele Leute, die noch nach Verwandten oder Nachbarn aus einem Ort suchen. Da wird viel telefoniert. Wenn Angehörige erfahren, dass eine vermisste Person unter den identifizierten Toten ist, reisen sie nach Möglichkeit in den Sinjar – egal ob sie aus Australien, Europa oder Amerika kommen –, um an den Begräbnissen teilzunehmen. Wenn ihnen die Reise nicht möglich ist, bitten sie meistens Bekannte, dass jemand für die Angehörigen an der Beerdigung teilnimmt.

Sie haben gesagt, dass es mittlerweile auch in der Diaspora, etwa hier in Deutschland, yezidische Friedhöfe gibt. Kann das auch ein Problem sein?

Früher haben die Yeziden, wenn jemand in Deutschland oder in anderen Ländern in der Diaspora gestorben ist, den Leichnam in die Heimat, in das Dorf, wo die Person geboren wurde, überführt. Die Mehrheit macht das auch immer noch so, aber es wird weniger. Die Yeziden aus der Türkei bringen ihre Toten zum Beispiel immer noch in ihre Dörfer zurück. Das ist wichtig, weil diese Friedhöfe, die in den Dörfern sind, ein Teil des yezidischen Glaubens sind, der Tradition, der Geschichte, der Kultur.

Wenn man in den Dörfern nicht mehr begraben würde, ginge dort das yezidische Leben für immer verloren. Deswegen wollen manche unbedingt in ihren Dörfern begraben werden. Mit dem Begräbnis im eigenen Dorf will man ein Zeichen setzen: Das ist meine Erde, die Erde meiner Eltern, Großeltern, und so weiter; das ist yezidische Erde, ein yezidisches Dorf. Außerdem signalisieren die Angehörigen: Wenn ich meine Toten hier begrabe, kann es sein, dass ich eines Tages zurückkehre in meine Heimat.

Viele Friedhöfe, Dörfer, Ackerland, Ländereien beispielsweise im syrischen Afrin oder in der Türkei werden von Muslimen beschlagnahmt. Wenn aber die Möglichkeit besteht, die politischen Umstände es erlauben, können Yeziden bei Landraub vor Gericht ziehen und belegen: Das ist meine Erde, mein Dorf, hier habe ich meine Angehörigen seit Generationen begraben.

Was sind die nächsten Forderungen und Ziele der Yeziden?

18 Parlamente von Staaten haben den Genozid an den Yeziden anerkannt – plus viele internationale Organisationen. Das ist für die Yeziden sehr wichtig und eine Grundlage für Wiedergutmachung für die Opfer des Genozids. Es ist wichtig, die Täter und die Hintermänner zu bestrafen. Die Angehörigen der Opfer müssen entschädigt werden, davon abhängig, wie viel Schaden den Familien zugefügt wurde. Das ist das Ziel. Außerdem soll diese Anerkennung die Yeziden schützen, damit nicht wieder ein Völkermord passiert. Die Yeziden waren in ihrer Geschichte immer wieder Genoziden ausgesetzt. Die Anerkennung soll ein Stück weit zum Schutz verpflichten.

Ich habe jetzt auch einen Entwurf für ein Projekt geschrieben, das ich ins Leben rufen möchte: eine internationale yezidische Organisation. Dafür brauchen wir eine internationale Konferenz, einen Kongress, an dem möglichst viele Yeziden unabhängig ihrer Parteien, Vereine und Hintergründe aus möglichst vielen Ländern teilnehmen. Auf diesem Kongress soll die Organisation entstehen und die Perspektiven der Yeziden aus allen Ecken der Welt bündeln. In Zukunft soll sie dann für die Yeziden sprechen und die Anliegen der Yeziden weltweit vertreten.

 

Dr. Khalil Jindy Rashow vertrat die Republik Irak viele Jahre als Botschafter. Er arbeitete als solcher in Oslo (Norwegen), Hanoi (Vietnam) und Manila (Philippinen). Rashow war der erste Yezide, der das Amt eines Botschafters für den Irak bekleidete. Seit 2016 war er Mitglied des Rats für interreligiösen Dialog in Irak. Rashow hat diverse Bücher über die yezidische Religion und Kultur, aber auch die politischen Zusammenhänge in Irakisch-Kurdistan veröffentlicht.
Foto: © privat

[Info]
Johanna Fischotter führte das Interview am 31. August 2023 im Bundesbüro der Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen und transkribierte es anschließend. Dr. Kamal Sido dolmetschte während des Interviews zwischen Deutsch und Kurdisch.



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