Angehörige der Ovaherero und Nama fordern die Anerkennung der traditionellen Autoritäten auf politischer Ebene und bei Verhandlungen. Diese legitimen Führer vertreten alle Opfer, nicht nur in Namibia, sondern auch in Botswana, Kanada, USA und der ganzen Welt.
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Geld kann ein Menschenleben nicht aufwiegen. Aber es kann helfen, Folgen eines Genozids aufzuarbeiten und fortbestehendes Unrecht zu durchbrechen. Bald 120 Jahre nach dem Völkermord an den Ovaherero und Nama durch das deutsche Kaiserreich sind dessen Auswirkungen weiterhin verheerend. Doch Verhandlungen der deutschen und namibischen Regierung um Milliardenbeträge gehen an den Betroffenen vorbei. Veraa Barnabas Katuuo berichtet im Interview.

Das deutsche Kaiserreich hat ab 1904 unfassbare Verbrechen in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika, heute Namibia, an den Angehörigen der Ovaherero und Nama begangen. Trotzdem übernimmt Deutschland bis heute keine wirkliche Verantwortung für diesen Völkermord. Welche Bedeutung haben Zahlungen für die Überlebenden und ihre Nachkommen?

Die sozioökonomischen Auswirkungen des Völkermords an den Nama und Ovaherero sind nicht zu beziffern. Die Konfiszierung von Land und Vieh ist die Hauptursache für die systematische, generationenübergreifende Armut in diesen beiden Gemeinschaften. Gegenwärtig sind mehr als 70 Prozent des Landes, das früher den Nama und Ovaherero gehörte, im Besitz von Deutschen, die 2 Prozent der namibischen Bevölkerung ausmachen.

Die Beinahe-Vernichtung der Nama und Ovaherero hat ihre Bevölkerung zu stimmlosen Minderheiten gemacht, die keinen Einfluss auf die Entscheidungsfindung der gegenwärtigen namibischen Regierung haben. Die Regierung ist von der Swapo und den Ovambo dominiert [die Swapo ist eine Partei in Namibia; South-West Africa People’s Organisation; dt.: Südwestafrikanische Volksorganisation; sie stellt seit der Unabhängigkeit Namibias 1990 die Regierung des Landes. Die Ovambo sind ein Bantu-Volk und zahlenmäßig die stärkste Bevölkerungsgruppe Namibias; Anm. d. Red.].

Deutschland nutzte das Fehlen einer politischen Vertretung der Nama und Ovaherero. Es verbündete sich mit der von den Ovambo dominierten namibischen Swapo-Regierung, um seine ausgrenzende Kolonialpolitik in Namibia fortzusetzen. Daher ist die Wiedergutmachung von entscheidender Bedeutung, um diese beiden Gemeinschaften aus der generationenlangen, systematischen Armut zu befreien, die durch die Kolonialpolitik der Nazi-Ära nach dem Genozid verursacht wurde.

 

Veraa Katuuo
Foto: © Veraa Barnabas Katuuo

Wer sollte Zahlungen erhalten?

Es gibt nur zwei Gruppen, die von Deutschland wegen ihres Widerstands gegen die deutsche Kolonialisierung ins Visier genommen wurden. Der berüchtigte deutsche General Lothar von Trotha erließ mit Billigung des Kaisers zwei Vernichtungsbefehle: den ersten am 2. Oktober 1904 gegen das Volk der Ovaherero und den zweiten am 5. April 1905 gegen das Volk der Nama. Es sollte keine Unklarheit darüber bestehen, wer die wirklichen Opfer des Völkermords sind und an wen die Entschädigung gezahlt werden sollte.

Die namibische und die deutsche Regierung haben 2021 nach fünfjährigen Verhandlungen ein Abkommen zum Völkermord getroffen. Es geht um einen Milliardenbetrag. Doch für das Abkommen gibt es Kritik. Was sind die Probleme?

Es gibt viele Probleme in der Vereinbarung zwischen den beiden Regierungen. Der Bericht des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen an beide Regierungen vom 23. Februar 2023 belegt das. Vor allem verstößt das Abkommen gegen die Resolution der Vereinten Nationen über die Rechte indigener Völker, die eine Selbstvertretung in sie betreffenden Angelegenheiten vorsieht. Die deutsche Regierung behauptet, dass die Resolution der Vereinten Nationen über die Erklärung der Rechte der indigenen Völker nicht anwendbar sei, da sie vom namibischen Parlament nicht ratifiziert worden sei. Die Entschädigungsansprüche der Nama und Ovaherero richten sich aber gegen den Verursacher des Völkermords, das heißt gegen die deutsche Regierung, und nicht gegen die namibische Regierung. Und Deutschland hat die Resolution der Vereinten Nationen ratifiziert.

Außerdem ignoriert das Abkommen einen von der namibischen Nationalversammlung am 2. Oktober 2006 verabschiedeten Antrag. Dieser Antrag war vom Ovaherero Paramount Chief Kuaima Riruako eingebracht worden und legte eindeutig fest, wie die Verhandlungen über die Wiedergutmachung des Völkermords geführt werden sollten: Nämlich zwischen den Nama und Ovaherero als Opfer des Völkermords und dem Täter, der deutschen Regierung. Die Rolle der namibischen Regierung „sollte eine interessierte Partei in allen Gesprächen zwischen ihren Staatsangehörigen und der deutschen Regierung über die Frage der Wiedergutmachung des Völkermords sein“. Der damalige Innenminister, Herr Utoni Nujoma, stellte die Rolle der namibischen Regierung wie folgt klar: „Wir sehen die Rolle der namibischen Regierung als Vermittler zwischen der deutschen Regierung und den betroffenen Gemeinschaften.“ Daran hat sich die Regierung aber nicht gehalten.

Ohne den verabschiedeten Antrag zu ändern, verkündete die von der Swapo und den Ovambo dominierte namibische Regierung, dass die Verhandlungen über die Wiedergutmachung des Völkermords zwischen den beiden Regierungen stattfinden. Dies war ein wohl kalkulierter Politikwechsel, um das Volk der Nama und Ovaherero an den Rand zu drängen. Zwar bezog die namibische Regierung augenscheinlich sogenannte Vertreter der betroffenen Gemeinschaften wie die Königshäuser und andere ein; die Königshäuser waren aber nie Teil der traditionellen Ovaherero-Führungsstruktur. Sie vertreten ausschließlich die Interessen der namibischen Regierung – wie zum Beispiel die Abtretung der Verhandlungsführung über die Wiedergutmachung des Völkermords an die Swapo-Ovambo-dominierte namibische Regierung. Die Königshäuser können eine solche Entscheidung für die Ovaherero aber gar nicht treffen.

Der Ausschluss der beiden Gemeinschaften der Ovaherero und Nama, die Opfer des Völkermords sind und die den Antrag eingebracht haben, zeigt, zu welch extremen Maßnahmen die namibische Regierung greifen kann, um Deutschland vor Reparationszahlungen an diese Gemeinschaften zu schützen.

In !Nami-nûs (früher: Lüderitz), Namibia, enthüllten Nachfahren der Überlebenden Ende April 2023 im Rahmen einer großen Veranstaltung einen neuen Gedenkstein für die Genozid-Opfer.
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Wie argumentieren die Regierungen in dem Abkommen über den Völkermord?

Beide Regierungen leugnen den Völkermord an den Nama und Ovaherero. Die von der Swapo und den Ovambo dominierte namibische Regierung beschuldigte die Nama und Ovaherero des Tribalismus [Verfolgen einer Politik, die an die eigene Ethnie gebunden ist; Anm. d. Red.], weil diese den Völkermord als Völkermord an den Nama und Ovaherero bezeichnen und nicht als „namibischen Völkermord“. Letztere Bezeichnung verwendet die Regierung. Doch das ist eine eklatante Leugnung seitens der von der Swapo-Ovambo dominierten namibischen Regierung.

Die „Konvention der Vereinten Nationen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ vom 9. Dezember 1948 definiert den Tatbestand des Völkermords unter anderem in Bezug auf „eine ethnische Gruppe als solche und nicht in Bezug auf einen Staat oder eine ganze Bevölkerung“. Die beiden Vernichtungsbefehle Deutschlands richteten sich nur gegen zwei Ethnien, nämlich die Nama und die Ovaherero.

Deutschland versucht, sich der rechtlichen Verantwortung für die Tötung der Nama und der Ovaherero zu entziehen, indem es sich auf die rassistische Kolonialpolitik beruft, die die Tötung damit rechtfertigt, dass die Nama und Ovaherero unzivilisiert seien. Die von den Swapo-Ovambo dominierte namibische Regierung ist damit offenbar einverstanden. Außerdem behauptet Deutschland, die Konvention über die Verhütung und Ahndung des Völkermords vom 9. Dezember 1948 könne nicht rückwirkend angewandt werden. Das ist falsch und irreführend, denn Deutschland hat den Holocaust an den Juden und die Ermordung der Armenier als Völkermord anerkannt. Beides fand vor 1948 statt.

Ich möchte die Aufmerksamkeit der deutschen Regierung auf das Übereinkommen über die Nichtanwendbarkeit der Verjährung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vom 26. November 1968 lenken. Es schreibt die Unverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die sowohl in Kriegs- als auch in Friedenszeiten begangen wurden, fest; unabhängig davon, wo sie begangen wurden. Das bedeutet, dass es für Verbrechen gegen die Menschlichkeit keine Verjährung gibt.

Die beiden Regierungen können nicht aufrichtig bilateral an den Verhandlungen über den Völkermord an den Nama und Ovaherero teilnehmen, da sie eindeutig den Völkermord an den Nama und Ovaherero leugnen. Nur legitime Führer beider Gemeinschaften, die alle Opfer, nicht nur in Namibia, sondern auch in Botswana, Südafrika und der ganzen Welt vertreten, müssen in ihrem Namen verhandeln.

Ich fasse noch einmal zusammen: Beide Regierungen scheinen nicht zu wissen, worum es geht. Es gibt einen Unterschied zwischen kolonialen Gräueltaten und Völkermord und es gibt einen Unterschied zwischen Wiedergutmachung und Entwicklungshilfe. Bei den Verhandlungen über das bilaterale Abkommen ging es um Entwicklungshilfe. Jetzt ist es an der Zeit, sich mit den Verhandlungen über die Wiedergutmachung des Völkermords an den Nama und Ovaherero zu befassen, wie es in dem vom namibischen Parlament verabschiedeten Antrag deutlich zum Ausdruck kommt.

 

Banknoten des Namibia-Dollar, die seit 1993 in Umlauf sind, zeigen auf der Vorderseite Hendrik Witbooi, einen Anführer der Nama in der Zeit des Kolonialismus. (Seit 2012 zeigen die 10 und 20 Namibia-Dollar-Scheine Sam Nujoma, die anderen zeigen weiterhin Witbooi.)
Foto: (WT-shared) NJR ZA at wts wikivoyage/Wikipedia CC BY-SA 3.0

Sie haben 2017/2018 selbst schon einmal ein Gerichtsverfahren gegen Deutschland geführt, damals in New York. Nehmen Sie uns bitte einmal ein wenig mit zurück in diese Zeit.

In der Klage ging es um Folgendes:

  1. Um den Ausschluss der Nama- und Ovaherero-Führung von den Verhandlungen über die Genozid-Reparationen zwischen Namibia und Deutschland.

  2. Ob die Beinahe- Vernichtung des Nama- und Ovaherero-Volks durch Deutschland ein Völkermord war.

  3. Um Wiedergutmachung von Deutschland für die von ihm begangenen Verbrechen.

Das Gericht entschied, dass der Ausschluss der Führung der Opfer von den Entschädigungsverhandlungen gegen internationales Recht und die Resolution der Vereinten Nationen verstoße. Das Gericht urteilte außerdem, dass die Beinahe-Vernichtung der Nama und Ovaherero einen Völkermord darstellt. Es war das erste Mal in der Geschichte, dass ein Gericht entschied, dass Deutschland Völkermord am Volk der Nama und Ovaherero begangen hat.

In der Frage um die Wiedergutmachung für den begangenen Völkermord wies das New Yorker Gericht die Strafverfolgung der deutschen Regierung jedoch ab. Es begründete diese Entscheidung mit dem Gesetz über die souveräne Immunität [ein Grundsatz des Völkerrechts: ausgehend von der Unabhängigkeit und Gleichheit souveräner Staaten ist es keinem Staat gestattet, über einen anderen Staat zu Gericht zu sitzen; Anm. d. Red.].

Welche Schlussfolgerung haben Sie aus dem Urteil und dem Verfahren gezogen?

Insgesamt war es eine gute Übung, die Türen öffnen wird: für Klagen in Namibia gegen die namibische Regierung, die noch anhängig sind, und in Deutschland gegen die deutsche Regierung – in naher Zukunft auch vor dem Weltgerichtshof.

Viele Ihrer Antworten schildern fortwährendes Unrecht. Erlauben Sie mir eine persönliche Frage: Woher nehmen Sie die Kraft, weiterzukämpfen?

Ich habe in meiner Kindheit vom Krieg der Ovaherero gegen Deutschland gehört, der einen Teil der Ovaherero zur Flucht in die benachbarten Länder Botswana und Südafrika zwang. Als ich in die USA kam, studierte ich afrikanische Geschichte und stieß dabei auf Bücher über den deutschen Ovaherero-Krieg und den Völkermord. Diese Bücher waren in Südwestafrika unter der südafrikanischen Herrschaft nicht erhältlich. Deutschland verhinderte die Veröffentlichung des „Blauen Buchs“, ein detaillierter Bericht der Briten über die Folgen des Völkermords.

Vor allem aber erfuhr ich, dass die Armut der Ovaherero darauf zurückzuführen ist, dass Deutschland nach dem Völkermord ihr Land und ihr Vieh konfisziert hat. Stellen Sie sich vor, wie wohlhabend die Ovaherero heute wären, wenn sie weiterhin ihr Land und ihr Vieh behalten hätten. Heute leben die Ovaherero in Reservaten, die ich als moderne Konzentrationslager betrachte, die überfüllt und überweidet sind. In Botswana und Südafrika werden die Ovaherero nicht als ethnische Gruppe anerkannt, sie haben ihre Kultur und Sprache verloren. Deshalb bin ich bereit, für diese Sache zu sterben.

Wie kann eine Bitte um Verzeihung aussehen, damit eine versöhnliche Aufarbeitung in der Zukunft gelingen kann? Was sind die Forderungen der Ovaherero und Nama für eine Vergangenheitsbewältigung?

Es ist eine Beleidigung für die Opfer des Völkermords, wenn Deutschland eine „einvernehmliche Entschuldigung“ fordert. Die Nama und Ovaherero verlangen nicht von Deutschland, das Rad zu erfinden. Der Präzedenzfall wurde von Deutschland selbst geschaffen, als es sich bei den Opfern des Holocaust entschuldigte. Deutschland kann das Gleiche bei den Ovaherero und Nama tun. Unsere Wunden werden niemals verheilen, solange Deutschland sich nicht unmissverständlich und direkt bei den Nama und Ovaherero entschuldigt – und nicht bei der Swapo-Ovambo-dominierten namibischen Regierung, die den Völkermord leugnet.

Unser Kampf für Wiedergutmachungsgerechtigkeit ist generationenübergreifend. Mit dem Aufschwung der Entkolonialisierungsbewegungen in Europa, besonders in Deutschland, ist es im besten Interesse der deutschen Regierung, Teil der Lösung zu sein. Ansonsten wird ihr etwas aufgezwungen werden.

 

[Info]
Johanna Fischotter führte das Interview im Juli 2023 in schriftlicher Form per Mail und WhatsApp. Anschließend übersetzte sie es aus dem Englischen.



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