Die benachbarten Kul-Scharif-Moschee (mit türkiser Kuppel rechts) und Mariä-Verkündigungs-Kathedrale (blaue Kuppeln links) in Kasan sind ein Symbol für das friedliche
Zusammenleben von Christ*innen und Muslim*innen in Russland.
Foto: A. Savin/Wikipedia; Free Art License

 

Der Islam gehört mit seinen unterschiedlichen Formen traditionell zu Russland. Doch der Staat beansprucht das alleinige Wissen um die Auslegung der Religion. Wer sich nicht daran hält, gilt es Terrorist. Diese staatliche Instrumentalisierung führt in eine Spirale der Gewalt.

von Sarah Reinke

In Moskau sollte im Frühling 2023 der Bau einer neuen Moschee mit 60.000 Plätzen beschlossen werden. Es wäre die größte Moschee in Europa geworden. Doch mehr als 27.000 Menschen unterzeichneten einen Aufruf gegen den Bau. Zudem vergrub ein Unbekannter dort, wo die Moschee entstehen sollte, einen Schweinekopf. Mehrere muslimische Verbände und der Präsident der Republik Tschetschenien, Ramzan Kadyrow, mischten sich ebenso in den Streit um den Bau ein wie der Metropolit von Moskau [orthodoxer Oberbischof, der einem Verbund von Bistümern vorsteht; Anm. d. Red.]. Geplant gewesen war die Moschee im Moskauer Bezirk Kosino-Ukhtomsky. Dort gibt es auch eine russisch-orthodoxe Kirche sowie einen heiligen See.

Der Moskauer Mufti [islamischer Rechtsgelehrter; Anm. d. Red.] Ildar Alyautdinov gibt an, dass in der russischen Hauptstadt zwischen drei und dreieinhalb Millionen Muslime leben. Rund eine Million davon seien Migranten. Doch in den vier Moscheen in Moskau finden nur etwa 18.000 Gläubige Platz. Neben den Moscheen gibt es noch rund 25 Gebetsräume. Auch diese reichen nicht für alle. Die neue Moschee sollte dem Rechnung tragen.

Ein Journalist aus der überwiegend muslimischen Teilrepublik Dagestan kritisiert den Streit: Im Krieg gegen die Ukraine würden Muslime, insbesondere aus dem Nordkaukasus, überdurchschnittlich häufig eingezogen. Auch die Todeszahlen seien überdurchschnittlich hoch. Wenn jedoch eine Moschee für die Glaubensbrüder in Moskau gebaut werden solle, würden die Menschen um ihren Stadtbezirk fürchten, Muslime beschimpfen und Unterschriften sammeln.

Schließlich endete der Streit um den Bau der Moskauer Moschee, indem ein anderer Ort für den Neubau gefunden wurde. Wie unter einem Brennglas zeigt sich an diesem Beispiel, wie politisch das Thema Islam in Russland ist und wie sich die russische Politik auswirkt: Während sie offiziell immer betont, das Land sei multireligiös, nährt sie starke Vorurteile gegen Muslime, die sich auf die Gesellschaft übertragen.

 

Vorgeblich gegen den Terror

Unter dem Vorwand, traditionelle Religionen in Russland zu schützen und islamistischen Terror zu bekämpfen, greift das Regime massiv in die Religionsfreiheit ein. Einen Beginn dieser Politik gegen angeblichen Terrorismus markierte der erste Krieg in Tschetschenien 1994 bis 1996. Nicht leugnen lässt sich, dass Russland in den vergangenen 30 Jahren ein Problem mit Terrorismus hatte. Die Verfolgung von und die Gewalt gegen friedliche Religionsgemeinschaften wie die Zeugen Jehovahs verdeutlichen jedoch, dass es dem russischen Staat um mehr geht als um Terrorismusprävention. Der Staat reguliert – in den unterschiedlichen Republiken unterschiedlich stark – ganz direkt das Privatleben, die Religionsfreiheit seiner Bürger. Gläubige Muslime sind besonders betroffen.

Offiziell sind rund 10 Prozent der russischen Bürgerinnen und Bürger Muslime. Der Islam kam bereits im 8. Jahrhundert nach Russland, viel früher als das Christentum. Muslime sind nach den orthodoxen Christen die zweitgrößte Religionsgruppe und diesen rechtlich gleichgestellt. In zwei Gebieten des heutigen Russlands leben traditionell vorwiegend Muslime: Vom Südural bis ins Gebiet südliche Wolga und im Nordkaukasus. Daneben gibt es außerdem die große muslimische Diaspora auch aus den Staaten Zentralasiens. Sie lebt besonders in den großen Städten Russlands, wo die Menschen als Arbeitsmigranten versuchen, Geld zu verdienen.

Südural bis südliche Wolga umfassen die Republiken Tatarstan, Baschkirien, Udmurtien, Mordwinien, Tschuwaschien und Mari El. In dem Gebiet leben etwa 10 Millionen Muslime, davon allein sechs Millionen Tataren. Kasan, die Hauptstadt Tatarstans, gilt als Zentrum des Islams in Russland. Bis auf wenige Ausnahmen gelingt in diesem Gebiet ein friedliches Zusammenleben. Im Nordkaukasus ist die Lage anders.

Die heutigen Teilrepubliken Tschetschenien, Dagestan, Inguschetien, Kabardino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien wurden teils erst im 18. beziehungsweise 19. Jahrhundert von Russland erobert. Durch die Deportationen der ansässigen Völker unter Josef Stalin Mitte der 1940er Jahre sowie die Kriege in Tschetschenien ist die Region unruhig. Es gibt nationalistische, separatistische und auch streng muslimische Strömungen.

Gerade die russische Regierungspolitik gegenüber Tschetschenien hat das Verhältnis zum Islam in Russland stark geprägt. Bewusst nutzte der russische Präsident Wladimir Putin das Feindbild des Islamisten, um gegen Tschetschenien zu mobilisieren. Die Rhetorik veränderte sich über die Jahre, doch die Tendenz blieb bis heute – ob Putin nun von Wahhabiten, Dschihadisten, Salafisten oder radikalen Islamisten spricht.

 

Guter Muslim, böser Muslim

Der Staat bestimmt, wie der sogenannte traditionelle Islam in Russland ausgelegt werden soll. Dieser traditionelle Islam mit seinen Würdenträgern ist staatstreu. Wer sich nicht in dessen Strukturen organisieren lassen möchte, wird schnell als Islamist bezeichnet. Mit diesem Etikett sind Gläubige staatlicher Gewalt ausgeliefert. Muslime beklagen: Sobald ein Verbrechen verübt werde, hieße es, das seien die Islamisten gewesen. Menschen würden in der Moschee angesprochen, zu Verhören geholt. Muslime seien verunsichert. Auch so drücke sich die Regierung aus, die die Menschen in Angst versetzen wolle, meint ein Repräsentant der Muslime in Tatarstan.

In Tschetschenien herrscht seit 2007 Ramzan Kadyrow. Er beansprucht für sich, die einzig wahre Interpretation des traditionellen tschetschenischen Islams zu kennen und zu leben. Diese kadyrow‘sche Ausprägung des Islams ist tief chauvinistisch und frauenfeindlich. Er mischt sie zudem mit tschetschenischem Ethnonationalismus. So stützt Kadyrow seine Macht und profiliert sich als Haupt aller Muslime Tschetscheniens sowie als politischer Führer in Russland.

Insbesondere Frauen und Minderheiten wie Angehörige der LGBTQ-Community leiden in Tschetschenien unter dieser Form des Islams: Frauen müssen strenge Kleidungsvorschriften befolgen, sie sind ihren männlichen Verwandten (Väter, Brüder, Ehemänner) untergeordnet und dürfen ihre Berufe nicht frei wählen. Ehrenmorde und Polygamie sind verbreitet. Die als „krank“ oder „unnatürlich“ gebrandmarkten Angehörigen der LGBTQ-Community werden verfolgt, teils auch ermordet. Diese Politik, die dazu führt, dass in Tschetschenien die russische Verfassung außer Kraft gesetzt ist und nur noch das „Gesetz Kadyrow“ Geltung hat, wird von Putin gestützt.

2014 annektierte Russland widerrechtlich die ukrainische Schwarzmeerhalbinsel Krim. Seitdem werden dort die muslimischen Krimtataren systematisch verfolgt. Die russischen Medien und die russische Politik stellen sie immer stärker als islamistische Terroristen dar. Das ist eine gefährliche Entwicklung: Sind Angehörige eines Volks einmal als Terroristen abgestempelt, werden sie von keinem Gesetz mehr geschützt. Ihre Verfolgung und Unterdrückung werden so noch zunehmen.

In Tschetschenien hat ein solches Vorgehen zu einer Zunahme von tatsächlichem islamistischen Terrorismus geführt, was eine Spirale der Gewalt auslöste. In ihrem Sog wurden unzählige Zivilisten verfolgt, verhaftet und getötet. Das darf sich bei den Krimtataren nicht wiederholen. Der Diffamierung ihres gesamten Volks muss man entgegenwirken. Denn die Krimtataren heute sind eine heterogene Gruppe, streben nach Europa und leben die europäischen Werte von Gleichberechtigung und Toleranz auch unterschiedlichen Auslegungen des Islams gegenüber. Sie setzen sich für eine freie Krim in einer demokratischen Ukraine ein.

 

[Die Autorin]
Sarah Reinke ist Teamleiterin der Menschenrechtsreferate bei der Gesellschaft für bedrohte Völker. Inhaltlich liegt ihr Schwerpunkt auf der Menschenrechts- und Minderheitensituation in Ländern Osteuropas. Von 2017 bis 2022 war Reinke geschäftsführende Studienleiterin der Stiftung Adam von Trott, Imshausen e.V.



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