22.09.2004

Wirtschaftswachstum auf Kosten der Adivasi

Soziale Lage der Adivasi

Indien
Die mit staatlicher Unterstützung vorangetriebene Industrialisierung zerstört den natürlichen Lebensraum der Adivasi. Die indische Wirtschaft boomt, doch das Wirtschaftswachstum kommt bei den Armen nicht an. Die sozialen Unterschiede verstärken sich. Einer kleinen, mächtigen Oberschicht und etwas breiteren Mittelschicht steht eine zahlenmäßig große Unterschicht gegenüber, die in zum Teil bitterer Armut lebt. Nach einer Studie des Tribal Research Instituts leben 90 Prozent der Adivasi unterhalb der Armutsgrenze. Sie werden im Zuge von Dammbauten, Tier- und Nationalparks, Infrastrukturprojekten oder Industrieansiedlungen von ihrem rohstoffreichen Land vertrieben - ungeachtet der Tatsache, dass die Zwangsvertreibung von Menschen eine Menschenrechtsverletzung darstellt. Der indische Sozialwissenschaftler Walter Fernandes schätzt, dass zwischen 1951 und 1990 mindestens 15 Millionen Adivasi für Modernisierungs- und Industriepläne verjagt worden sind.

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In den Fluten ertrinken – Protest gegen Staudammprojekte

"Wir werden ertrinken, aber nicht wegziehen", sagen immer mehr Adivasi angesichts des Baus riesiger Staudämme auf ihrem Land, mit denen die indische Regierung Strom für neue Industrieansiedlungen und Wasser für die Landwirtschaft erzeugen will. Folge der großangelegten Projekte: Das Land der dort lebenden Bevölkerung wird überflutet, die Menschen werden vertrieben. Doch die Adivasi wehren sich. Sie blockieren die Zufahrt der Baugebiete, bilden Menschenketten, viele werden verhaftet.

Besonders erbittert wird im Tal der Narmada protestiert. Hier sollen insgesamt 30 Großstaudämme, 135 mittlere und 3.000 kleine Dämme entstehen. Zu den großen gehört – neben dem Sardar Sarovar-Damm – der Maheshwar-Damm im Bundesstaat Madhya Pradesh. Er soll einmal 400 Megawatt Energie produzieren. Dafür müssen 61 Dörfer überflutet werden. Obwohl das Projekt seit 1978 in Planung ist, wurden die Betroffenen erst im Januar 1998 offiziell informiert. Seitdem haben etwa 20.000 Menschen die Baustelle aus Protest besetzt. Sie sind fest entschlossen, den Dammbau zu verhindern.

Proteste der Gond gegen die Narmada-Staudaemme; Fotot R. Hoerig, credit GfbVIn den 1990er Jahren sind über 100.000 Menschen für den Bau von Großstaudämmen vertrieben worden. Die Regierung hat nur wenige für den Landverlust entschädigt. Viele Adivasi wurden auf unfruchtbares Land umgesiedelt. Sie müssen ihre traditionelle Wirtschaftsweise aufgeben und werden oft zu abhängigen Schuldknechten.

Stahlwerk Rourkela: Deutsche "Entwicklungshilfe" vertrieb Adivasi

Wo die Menschen mehrere Tausend Jahre lang vom Ackerbau lebten, ziehen heute düstere Rauchschwaden über riesige Slumsiedlungen, verschmutzen Chemikalien und Schmiermittel den Fluss. Vom einst dichten Urwald ist nichts mehr zu sehen. Aus dem Dorf Rourkela im bergigen Norden des Unionsstaates Orissa ist eine Industriestadt geworden. 1958 begannen hier die Bauarbeiten für eines der modernsten Hüttenwerke der damaligen Zeit. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit finanzierte mit über einer Milliarde Mark den Aufbau, an dem sich 35 große Firmen unter Leitung von Krupp und Mannesmann beteiligten. Rourkela wuchs zum größten deutschen Auslandsprojekt heran. Die Bedürfnisse der Ureinwohner wurde dabei ignoriert.

Über die Jahrtausende hatten sich Angehörige der Stammesvölker Oraon, Munda, Kharia, Bhumji, Kolha und Kisanin in die Bergregion um Rourkela zurückgezogen und sie als ihre Heimat betrachtet. Als das Hüttenwerk in den 50er Jahren aus dem Dschungel gestampft wurde, enteigneten die Behörden 32 Dörfer, von denen sie 16 völlig zerstörten. Fast 16.000 Adivasi wurden umgesiedelt, 6.000 Ureinwohner blieben. Sie vertrauten der offiziellen Arbeitsplatzgarantie. Doch nur 850 wurden zu Beginn im Stahlwerk eingestellt, in dem 40.000 Menschen arbeiteten. Einmal mehr hatten die Adivasi ihr Land zwangsweise hergeben müssen und wurden ungeachtet ihrer Stammeszugehörigkeit in Siedlungsgebiete gepfercht. Entwurzelt von der eigenen Gemeinschaft und ohne Aussicht auf Beschäftigung versinken viele im apathischen Nichtstun.