26.04.2005

Wir sterben auch ohne dass sie uns bombardieren

Eine Reise nach Inguschetien

Seit meinem letzten Aufenthalt in Moskau hat sich viel verändert. überall in der Stadt wird gebaut, Glas- und Stahlgebäude ragen in den Himmel als Zeichen des Stolzes. Autos quälen sich dicht an dicht durch die Straßen. Der Fortschritt hat die Menschlichkeit jedoch nicht erreicht. Den Krieg sehen wir, kaum angekommen, im Gesicht der sterbenden alten Frau auf einer Bank im überfüllten Warteraum der Menschenrechtsorganisation "Bürgerhilfe" in Moskau. Die alte Frau kommt aus Tschetschenien. Die Moskauer Krankenhäuser verweigern ihr die Aufnahme, weil sie in Moskau nicht registriert ist. "Sie wird bald sterben", resigniert Swetlana Gannuschkina, die Leiterin der "Bürgerhilfe", als sie ihr eine Bescheinigung ausstellt, die ihr die Krankenhaustür öffnen soll. "Wir sterben auch so, ohne dass sie uns erschießen oder bombardieren", fügt Zainap hinzu, unsere Freundin, mit der wir von Moskau aus in die inguschische Hauptstadt Nasran fliegen. Am Flughafen trifft sie eine Familie. Die Mutter ist ganz in schwarz: Ihre 36-jährige Tochter ist vor wenigen Tagen an Krebs gestorben. Krebs, Aids, Drogenprobleme, Minenunfälle – daran sterben die Tschetschenen, wenn sie nicht von russischen Soldaten oder pro-russischen tschetschenischen Verbänden verschleppt und zu Tode gefoltert werden, erklärt uns Zainap. Mit der Maschine nach Nasran fliegt auch die bekannte russische Journalistin Anna Politkovskaja.

In Nasran empfangen uns Sonne und Hitze. über staubige Straßen fahren wir in ein Flüchtlingslager. Das letzte der großen Zeltlager ist vor wenigen Tagen abgebaut worden, viele Flüchtlinge sind unter Zwang nach Tschetschenien zurückgekehrt, die übrigen wurden in stillgelegten Fabrikanlagen oder Kolchosen untergebracht. "So sieht es in unserer Seele aus", sagt der tschetschenische Künstler Mohmad Rasheedov, als er mir sein Gemälde "Wirrnis" schenkt. Wir befinden uns in einer ehemaligen Kolchose etwa 30 Kilometer von Nasran entfernt. Hierher wurden 268 Personen – die letzten, die im Zeltlager "Sazita" lebten – geschickt, weil sie sich weigerten, nach Tschetschenien zurückzukehren. Hier treffen wir die Familien, die erst vor drei Tagen ankamen. Alte Männer bessern die schadhaften Dächer aus. Wäsche flattert an einem Seil, das von einem ehemaligen Kuhstall zum anderen gespannt ist. Als ein Windstoß kommt, reißt das Seil und die Wäsche liegt im Schmutz. "Man hat uns versprochen, hier sei alles besser als im Zeltlager", klagen die Flüchtlinge. "Schauen Sie, in diesem Verschlag muss ich mit meinen sechs Kindern leben. Wir haben kein Wasser, kein Gas, die Wände sind voller Löcher. An den Verschlägen sind nicht einmal Türen, die man abschließen könnte", sagt uns Aischat. Die Situation in den 400 Lagern ist in Deutschland zwar bekannt, aber keine Meldung mehr wert. Wir kommen hierher wie in den Zoo, aber offensichtlich erleichtert es die Menschen, wenigstens über ihre Lage sprechen und ihrer Empörung Ausdruck verleihen zu können. Die Kinder lächeln uns an, wir verteilen Süßigkeiten.

Im Lager "Altieva", das wir anschließend besuchen, wurde von einer tschechischen Hilfsorganisation eine Schule gebaut. Die Kinder haben ein kleines Theater errichtet und stellen sich bei unserer Ankunft auf der Bühne auf, singen und tanzen. Die Trostlosigkeit des Lagers scheint vergessen. Hier gibt es sogar einen "Sportsaal"; Jungs aus diesem Flüchtlingslager fahren zu Wettkämpfen in ganz Russland und bringen ihre Preise mit in die ehemaligen Kuhställe.

In diesem Lager wurden nach den übergriffen auf Inguschetien in der Nacht vom 21. auf den 22. Juni viele Flüchtlinge verhaftet. 14 von ihnen konnen durch die Hilfe der Menschenrechtler vor Ort befreit werden, darunter vier Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren, die systematisch geschlagen wurden, so dass ihre Rücken vom Hals bis zum Rumpf noch Tage nach der Befreiung schwarz von Wunden waren. Einer von ihnen war Ali, der viereinhalb Jahre in Filtrationslagern war. Er zeigt die Wunden der Folter. Vor Angst, wieder geholt zu werden, kann er nicht schlafen; wenn er ein Auto hört, versteckt er sich. Eine Tochter studiert in Grosny Jura. Er ist sehr stolz auf sie, vielleicht kann sie irgendwann für ihn Gerechtigkeit erlangen. Die über 1.200 Flüchtlinge, die in Altievo gelebt hatten, haben nach den Verhaftungen panisch ihre Sachen gepackt und sind – bis auf zwei Familien – verschwunden.

Später fahren wir wieder Richtung Stadtzentrum. Auf den Straßen verkehren viele große Westautos – wem die wohl gehören, frage ich unseren Fahrer. Ich solle mir die Kleintransporter ohne Nummernschilder nicht so genau ansehen, sagt er. "Darin sitzen Mitarbeiter der Geheimdienste, die jeden einfach anhalten und verhaften können."

Der erste Eindruck von Inguschetien ist friedlich, fast bukolisch. Als unser Wagen angehalten wird, steigt nur der Fahrer aus, wird kontrolliert, schmiert den Milizionär und fährt weiter. Die Häuser rechts und links der Straße voller Schlaglöcher sind klein und ärmlich. Kühe und Schafe weiden auf den Wiesen und Hügeln, die die 80.000 Einwohnerstadt Nasran umgeben. In Tschetschenien war die Landschaft schöner, die Berge höher, das Wasser der Flüsse klarer, die Tomaten röter, die Städte größer, loben die Menschen, die nun als Flüchtlinge in Inguschetien leben. Wir träumen zusammen: Wenn der Krieg vorbei ist, fahren wir hin und grillen in den Bergen, besuchen die alten tschetschenischen Wehrtürme oder das, was die russischen Bomben von ihnen übrig gelassen haben, und fahren durch Grosny, die ehemals schönste und grünste Stadt des Nordkaukasus. Aber die Realität holt uns schnell ein. Ein junger Menschenrechtler ist in Inguschetien verschwunden. Seine Familie will nicht, dass diese Neuigkeit veröffentlicht wird. Vielleicht können sie ihn doch finden und freikaufen. Das Gespräch über den Verschleppten löst Panik aus: Wer wird der oder die nächste sein? Wie hat man ihn gefunden? Man erzählt uns, er sei über sein Mobiltelefon lokalisiert worden. Die Telefonnummern aller Menschenrechtler, mit denen wir zusammen sind, seien auf diesem Telefon gespeichert. Plötzlich steht alles in Frage. Wie lange werden wir hier noch arbeiten können? Was ist sicher, wie sollen wir uns verhalten? Schon jetzt übernachten die Mitarbeiter von Menschenrechtsorganisationen nicht mehr in ihren eigenen Wohnungen, sondern gehen an jedem Abend zu jeweils anderen Freunden oder Bekannten. Aber es sind Gäste da und man will sie nicht einschüchtern. Schnell wird gekocht, der Tisch gedeckt, nicht mehr über die Arbeit gesprochen, sondern über die Familien.

Es fällt uns schwer, Inguschetien, unsere Kollegen aus den Menschenrechtsorganisationen und die Flüchtlinge wieder zu verlassen. Das Flugzeug hebt mit mehreren Stunden Verspätung in einen schwarzen Gewitterhimmel ab. Wenige Tage später verlassen wir auch Moskau. Das Bild des tschetschenischen Künstlers und Flüchtlings Rasheedov steckt in meiner Plastiktüte. Bei der Kontrolle muss ich es entrollen. "Der Freundin des tschetschenischen Volkes" steht als Widmung auf der Rückseite. Die blondierte Zollbeamtin schaut zuerst mich, dann das Bild an, schüttelt den Kopf und winkt mich durch.