15.11.2006

"Wir haben keine Lobby"

Russlands Neokolonialismus

aus: bedrohte völker_pogrom 238, 4/2006
Interview mit der Ärztin Larisa Abryutina, Angehörige des Volkes der Tschuktschen, die auf der Tschuktschenhalbinsel in äußersten Nordosten der Russischen Förderation leben. Abryutina ist Vizepräsidentin des Dachverbandes der indigenen Völker Russlands RAIPON.

Frau Abryutina, Wie sieht es bei den Tschuktschen heute aus – inwieweit ist ihre Lebensweise noch traditionell?

Larisa Abryutina: Es gibt Tschuktschen, die in den Städten leben, solche, die in Dörfern leben und eine Gruppe, die noch der traditionellen nomadischen Lebensweise in der Tundra nachgeht. Große Probleme haben sie alle. Eines der größten ist die weit verbreitete Arbeitslosigkeit, die tiefe Armut und der Alkoholismus.

Ich habe den Eindruck, dass den Menschen in den letzten Jahrzehnten zu viele Veränderungen zugemutet wurden. Ihre Fähigkeit, sich anzupassen, die es ihnen ermöglicht hat, unter den extremen Bedingungen der Arktis zu überleben, kommt mit dem Tempo der Veränderungen nicht mit. Nach der Revolution und dem Entstehen der Sowjetunion wurden die Rentierherden, die Basis des Lebens und der Kultur der Tschuktschen und anderer indigener Völker, kollektiviert. Ihnen allen wurden in der damaligen Sowjetunion die Kinder weggenommen und in Internaten aufgezogen. So haben sie ihre Sprache verloren und auch den Bezug zu ihrem Land. Die Folgen dieser Internatserziehung sind für alle Indigenen verheerend, denn in den Internaten wurde den Kindern und Jugendlichen auch immer vorgeschrieben, was sie zu tun und zu lassen hatten. Das selbständige Denken, für das Überleben in der Tundra und Taiga unverzichtbar, wurde ihnen abgewöhnt. Während der Sowjetperiode gab es jedoch keine Arbeitslosigkeit und die Menschen waren, wenn auch auf niedrigem Niveau, versorgt. Während der Perestroika brach diese Versorgung zusammen. Monatelang wurden die Gehälter nicht ausgezahlt, es herrschte Willkür und Gesetzlosigkeit. Mittlerweile hat sich die Lage etwas stabilisiert. Die Kriminalität ist zurückgegangen. Der Staat kommt seinen Verpflichtungen jedoch nur in wenigen Punkten nach. Dazu kommt, dass die Menschen mit den Folgen des Klimawandels überfordert sind und gar nicht begreifen, weshalb sich ihre Umwelt verändert und wie sie damit umgehen können.

Fachleute sagen, dass sich der Klimawandel in der Arktis dreimal schneller vollzieht als im globalen Durchschnitt. Woran kann man die Auswirkungen des Klimawandels auf Tschukotka ablesen?

Larisa Abryutina: Es gibt da eine ganze Reihe an Indikatoren. Wenn früher die Küstengewässer Tschukotkas im November so zugefroren waren, dass darauf mit Lastwagen Nahrungsmittel und andere Waren transportiert werden konnten, ist das Eis jetzt erst im Januar fest und dann auch nur für vier Monate. Das hat für uns enorme wirtschaftliche Nachteile, weil dann vieles eingeflogen werden muss, was viel teurer ist. Wir haben Zecken auf Tschukotka; das ist etwas ganz Neues, die Menschen wissen nichts von den Krankheiten, die von den Zecken übertragen werden. Es kommen fremde Vögel, die bei uns noch nie gesichtet wurden. Es regnet zum Beispiel im Winter, der wärmer und kürzer geworden ist und dann kommen starke, bisher unbekannte Winde auf. Die Winde sind für uns deshalb wichtig, weil wir uns bislang an ihnen orientieren konnten; das geht jetzt nicht mehr. Die wilden Rentiere, auf die wir Jagd machen, haben ihre Wildwechsel geändert. Weil das Wasser wärmer geworden ist fürchten wir, dass auch der Fisch abwandert, der sonst in den Küstengewässern lebte. Ein weitere Veränderung kann man in unserer Hauptstadt Anadyr feststellen: früher konnten nur kleinwüchsige Bäume wachsen – wie eben für die Taiga typisch –, mittlerweile gibt es auch große Bäume.

Wie kann eine kleine Gemeinschaft auf den Klimawandel reagieren?

Larisa Abryutina: Wir haben eigentlich keine Möglichkeiten, etwas aufzuhalten. Wir beobachten einfach, was passiert und tauschen uns auch aus mit Ureinwohnergruppen auf Alaska und Grönland beispielsweise, die das Gleiche beobachten. Es ist uns wichtig, dass wir in die internationalen Klimaschutzbemühungen viel stärker als bisher mit einbezogen werden. Aus unseren Gebieten kommen die Rohstoffe wie Erdöl und Erdgas. Unser Land wird durch die Ausbeutung dieser Ressourcen vielfach zerstört. Durch die Verbrennung der Ressourcen entsteht CO2, das für die Klimaerwärmung maßgeblich verantwortlich ist. Wir sind also doppelt betroffen, werden in die wichtigsten Entscheidungsprozesse aber trotzdem nicht miteinbezogen. Wenn sich die Lage weiter so dramatisch verändert, wird Rentierzucht und traditioneller Fischfang bald nicht mehr möglich sein. Dann brauchen wir Hilfe im Aufbau neuer Wirtschaftszweige, die das Überleben der indigenen Gruppen sichern helfen.

Viele Menschen bei uns bringen die Indigenen Sibiriens in Verbindung mit dem Schamanismus. Wieviel Schamanismus ist denn tatsächlich übrig geblieben?

Larisa Abryutina: Die sowjetischen Machthaber setzten alles daran, den Schamanismus auszurotten. Die Schamanen der unterschiedlichen Völker wurden ermordet oder deportiert. 70 Jahre sind eine lange Zeit. Der Schamanismus wurde traditionell immer vom Vater zum Sohn weitergegeben. Nur ganz außergewöhnliche Menschen konnten Schamanen werden. Sie mussten lange Initiationsriten auf sich nehmen, lebten als Einsiedler in der Tundra und Taiga, wo sie in Verbindung mit der Natur, mit den Göttern und Geistern traten und diese Verbindung durch Rituale festigten. Es hat in der Sowjetperiode immer wieder Menschen gegeben, die diese Gabe in sich trugen und das auch spürten. Sie praktizierten im Geheimen, aber das waren eben nur Einzelfälle. Ich weiß, dass es Gebiete gibt, wo man sich sehr bemüht, den Schamanismus wieder zu beleben, zum Beispiel im Altai. Ich habe jedoch sehr große Zweifel. Manchmal wird das nur zur Belustigung der Touristen getan und daher nicht mit der gebotenen Ernsthaftigkeit. Bestimmte Rituale haben aber selbst die 70 sowjetischen Jahre überlebt. Wenn wir an einem Feuer sitzen, muss ich zum Beispiel immer wieder das Feuer mit kleinen Essensresten füttern. Ich versprenge Wasser oder auch ein anderes Getränk auf der Erde, damit auch sie etwas bekommt, wenn wir trinken. Weil alles von ihr kommt und wir ihr als Dank etwas zurückgeben müssen. In unsere Medizin sind Kenntnisse der Schamanen eingeflossen. Aber ich fürchte, dass der authentische Schamanismus als Religion der russischen Urbevölkerung tot ist.

In der russischen Arktis sind nur 4% der Bevölkerung Angehörige indigener Gruppen, im Rest der Arktis sind die Indigenen mit bis zu 80% vertreten. Woran liegt das?

Larisa Abryutina: Während der Sowjetperiode zahlte der Staat hohe Summen, um die Weiten in Sibirien zu bevölkern. Die Reichtümer Russlands – Öl, Gas, Gold und andere Mineralien – liegen hier. Daher kamen sehr viele Russen in unsere Gebiete, ließen sich für viele Jahre nieder und fanden da auch eine Heimat. Soviel ich sagen kann, haben sie sich auch mit dem Norden identifiziert, es gab etliche Ehen zwischen Russen und Angehörigen indigener Gruppen. So sind zum Beispiel mein Vater und mein Mann Russen. Nach der Perestroika aber sind viele Russen nach Zentralrussland zurückgekehrt, weil die Renten, die nach der Geldumstellung viel an Kaufkraft verloren haben, für das teure Leben im Norden nicht mehr ausreichten. Jetzt kommen andere Russen zu uns. Sie kommen über Verträge mit Unternehmen, die im Norden tätig sind.

Sie lassen sich nicht für längere Zeit nieder, sondern ihnen geht es nur ums Geld. Sie sehen den Norden als Ort, dessen Ressourcen ausgebeutet werden sollen, und haben keinen Kontakt zu uns, sie interessieren sich auch nicht für uns. Das ist eine überaus problematische Entwicklung.

Die GfbV hat Sie nach Deutschland eingeladen. Was erhoffen Sie sich von dem Besuch?

Larisa Abryutina: Ich hoffe, dass zum Beispiel die Bundestagsabgeordneten, die wir getroffen haben, mit ihren russischen Duma-Kollegen darüber sprechen, was ich ihnen berichtet habe, und sie auf die Lage der russischen Ureinwohner ansprechen. In Russland haben wir nämlich keine Lobby. Dann hoffe ich, dass Bundesumweltminister Sigmar Gabriel unsere Forderung, in die UN-Klimaprozesse aktiv eingebunden zu werden, ernst genommen hat und versucht, sie in der UN durchzusetzen, so wie er es in unserem Gespräch angedeutet hat. Für mich war es ermutigend zu sehen, dass sich in Deutschland eine breite Öffentlichkeit für den Umwelt- und damit auch für den Klimaschutz interessiert und engagiert. Wir müssen diese Menschen immer wieder daran erinnern, dass wir als indigene Gruppen in der Arktis schon seit Jahren unter den Auswirkungen der Klimaerwärmung leiden. Es wäre natürlich auch sehr schön, wenn es uns gemeinsam gelänge, ein Projekt zu realisieren. Wir haben in Berlin über eine Schule in der Tundra gesprochen, und zwar für ein Dorf, in dem es keine Schule mehr gibt; die Kinder werden deshalb in Internate gegeben und können so nicht bei ihren Familien in der Tundra aufwachsen. Ich habe einen Mann getroffen, der sein Enkelkind zehn Kilometer durch die vereiste Tundra fahren musste, um an einen Ort zu gelangen, wo die Kinder für das Internat abgeholt wurden. Besser wäre es, eine Schule in diesem Dorf einzurichten und die Kinder wieder in ihrer Heimat und über ihre Heimat zu unterrichten.

Was macht der Dachverband der indigenen Völker der russischen Föderation?

Larisa Abryutina: Die 43 "kleinen Völker Sibiriens, des fernen Ostens und Nordens" der Russischen Föderation haben sich unter dem Dach der RAIPON zusammengeschlossen. RAIPON macht Lobbyarbeit in der russischen Duma, hat beratenden Status beim Arktischen Rat und bei der UNO. RAIPON versucht auch, die internationale Öffentlichkeit auf die Probleme der russischen Ureinwohner aufmerksam zu machen. Die Organisation führt jedoch auch ganz praktische Hilfsprogramme im gesundheitlichen, schulischen und sozialen Bereich durch. Als Ärztin bin ich Leiterin des Gesundheitsprogramms. Um die Gesundheit der Indigenen ist es sehr schlecht bestellt. Wir haben eine sehr hohe Geburtenrate, aber auch eine sehr hohe Sterberate. Die Lebenserwartung liegt bei nur 45 Jahren.

Das Interview führte Sarah Reinke