23.04.2005

Wie Lhasa verschandelt wird

Ein Bauboom zerstört Tibets Kulturerbe

In der 2122-jährige Geschichte Tibets waren die weiten Hochlandsteppen von den Karawanen der Nomaden geprägt. Auch heute ziehen die meisten Menschen ein nomadisches, relativ freies Leben dem der seßhaften Bauern und Städter vor. Wohl deshalb haben sich in meinem Heimatland nur einige Städte entwickeln können: Chamdo, Gyangste und Shigatse sowie Lhasa, die Hauptstadt und das religiöse Zentrum von Tibet.

Lhasa liegt im breiten Tal des Kyi-chu (Glücksfluß). Alle Tibeter wollen einmal in ihrem Leben diese heilige Stadt besuchen, um dort für eine bessere Wiedergeburt und ihre Erleuchtung zu beten. Die Berichte derer, die Lhasa gesehen hatten, waren phantastisch. Man erzählte von wundertätigen Mönchen und heiligen Tempeln, vom quirligen und manchmal auch lasterhaften Stadtleben, wo man Menschen aus den verschiedensten Ländern treffen und ihre kostbaren Waren kaufen konnte. Als Kind glaubte ich, Lhasa sei eine Märchenstadt.

Stadt der Götter

 

Im 7. Jahrhundert, zur Zeit des Königs Songsten Goupo, wurde Lhasa zur Hauptstadt Tibets. Dieser König führte den Buddhismus ein. Neben einigen tibetischen Königinnen heiratete er zwei buddhistische Prinzessinen, Brikute aus Nepal und Wen Chen aus China. Sie brachten zwei der heiligsten Statuen als Mitgift mit, den Akshobbhya Buddha und den Jo-wo-Shak-yamuni. Für den Akshobbhya Buddha wurde der heiligste Tempel des Landes, der Jo-khang, erbaut, der mit seinen goldenen Dächern das Stadtbild bis heute prägt.

In der wechselvollen Geschichte Tibets konnte sich Lhasa als religiöses und kulturelles Zentrum behaupten. Der Dalai Lama, das geistliche und weltliche Oberhaupt der Tibeter, hatte hier seinen Sitz. Im Laufe der Zeit wurde der Potala zu einem Komplex von 999 Räumen ausgebaut. An seinem Fuß entwickelten sich zwei Siedlungskerne, die Orte Shol und Barkhor. Barkhor, die Siedlung rund um den Jo-khang, wurde zum Zentrum der Altstadt und zum beliebten Ziel der Pilger und Händler.

Nachdem Tibet im Jahre 1959 durch die Chinesen besetzt worden war, gingen der Dalai Lama und mehr als 100 000 Tibeter ins Exil. Die kommunistischen Machthaber verlangten von den Tibetern, ihrem buddhistischen Glauben abzuschwören. Seither wurden mehr als eine Million Menschen ermordet oder verschleppt und 6 000 Klöster vernichtet. Mit dem Ende der "Kulturrevolution" begannen die Chinesen einen Teil der religiösen Bauten als Touristenattraktion neu zu entdecken. Aber das Zerstörungswerk unter dem Vorwand der "Stadtentwicklung" ging weiter. Die ebenfalls alten Wohnsiedlungen aus Lehm-Fachwerkhäusern werden abgerissen und durch eine pseudo-tibetische Architektur ersetzt. Diese entspricht weder den Bedürfnissen der Menschen noch paßt sie zu ihrer Umgebung. Aus dem alten Lhasa soll eine sozialistische Boomtown werden, welche die Ansprüche einer schnell wachsenden Bevölkerung befriedigt. Innerhalb von nur drei Jahren wich die alte Bausubstanz mit ihren verwinkelten Gassen und Innenhöfen, wo sich das soziale Leben Tibets abspielte, funktionellen Reihenhäusern aus Beton, die nur für zahlungskräftige Kleinfamilien erschwinglich sind.

Stadt meiner Kindheitsträume

 

Als ich Lhasa 1993 zum ersten Mal besuchte, fand ich noch einen Teil von der Stadt meiner Kindheitsträume. Ich ging durch die noch vorhandenen Gassen und genoß die Gastfreundschaft mehrerer Familien. Selbst kleine Häuser vermochten damals mehreren Generationen eine Wohnung zu bieten. Die Menschen lebten im Großfamilienverband, der ihnen wirtschaftliche und soziale Sicherheit bot. Nachbarschaftshilfe gehörte zum guten Ton. Die Mütter konnten ihre Kinder ohne Sorge allein zu Hause lassen, weil sie wußten, daß sich jemand um sie kümmern wird.

Die Altstadt von Lhasa hat früher den Armen gehört. Das sind etwa 95 Prozent der Bevölkerung. Zwei Tage lang suchte ich dort nach meiner alten Tante. Dann erfuhr ich, daß sie neuderdings in einem provisorischen Zeltlager wohnt und kein eigenes Einkommen mehr hat. Sie war Straßenverkäuferin, bevor sie ihr Haus räumen mußte. aber Straßenverkäufer werden nur geduldet, wenn sie in der Altstadt auch einen Wohnsitz haben.

Das neue Lhasa soll einer kommunistischen und überwiegend chinesischen Elite gehören. Die einstige Stadt der Götter, die spirituelle Mitte der gläubigen Buddhisten, das verbotene Traumziel vieler fremder Abenteurer, wird bald eine Stadt wie viele andere in China sein. Wo früher Gebetsfahnen die Menschen begrüßten, plärren heute Lautsprecher chinesische Gesänge und politische Parolen. Wo einst im Schatten der weißen Stupas (Reliquienschreine) die Pilger meditierten, stehen heute Polizeipatrouillen und Überwachungskameras. Verschandelt wird auch die Umgebung von Lhasa: Nach dem Willen Beijings (Pekings) soll dort Schwerindustrie angesiedelt werden. So wird aus dem ehemaligen Sitz des Dalai Lama eine Goldgräberstadt, wo Geld, Gewalt und Korruption regieren. Die tibetische Hauptstadt ist wohl eines der schlimmsten Beispiele dafür, wie eine falsch verstandene Modernisierung das kulturelle Erbe eines Volkes zerstört und die Chancen für eine humane Entwicklung verschüttet.

Der Autor dieses Beitrages ist Exiltibeter. Aus Rücksicht auf seine Familie in Tibet zieht er es vor, ungenannt zu bleiben.