23.04.2005

Vertrieben und verarmt - Indiens Urbevölkerung

Indiens Urbevölkerung ("Adivasi") kämpft ums überleben. Für Industrieprojekte werden sie von ihrem Land vertrieben und verlieren ihre natürliche Lebensgrundlage. Indiens Industrielle werden immer reicher, die Adivasi immer ärmer. In städtischen Slums und Umsiedlungsdörfern leben sie entwurzelt von der Stammesgemeinschaft. Die Kultur der Adivasi-Völker ist akut bedroht.

Die Adivasi sind "die, die als Erste hier waren" – die Ureinwohner Indiens. Mit über 70 Millionen Menschen und mehr als 460 Völkern und Gemeinschaften bilden sie die weltweit größte indigene Bevölkerung innerhalb der Grenzen eines einem Landes. Die Adivasi sprechen Sprachen austro-asiatischen und dravidischen Ursprungs. Ihre Wirtschaft basiert auf Selbstversorgung (subsistenz orientiert). Einige jagen und sammeln, andere züchten Vieh, wieder andere betreiben Brandrodungs-Feldbau. Sie leben also von den natürlichen Ressourcen und gehen entsprechend schonend mit diesem Gemeinschaftsbesitz um. Doch ihre kulturelle Identität und ihr natürlicher Lebensraum werden immer mehr zerstört. Zunächst von indoeuropäischen Zuwanderern, später der britischen Kolonialmacht und heute durch die indische Regierung, werden die Ureinwohner vertrieben, in ihren Rechten unterdrückt und ausgebeutet. 10 Millionen Adivasi leben mittlerweile in städtischen Slums, mehrere Millionen sind in Schuldknechtschaft geraten. Nach über 50 Jahren Unabhängigkeit und klassischer Entwicklungspolitik geht es den Ureinwohnern in Indien schlechter als je zuvor.

Die Kolonisierung der Adivasi

Indiens Kolonialgeschichte begann vor etwa 3.500 Jahren. Damals wanderten Hirtenstämme aus Zentralasien ein und eroberten den Subkontinent. Sie nannten sich "Arier", die Edlen, deren Sprache zur indo-europäischen Gruppe gehört. Die Zuwanderer zogen in süd-östliche Richtung, wobei sie die damaligen Ureinwohner unterwarfen oder vertrieben und ihr Land an sich rissen. Die Arier führten den Hinduismus als Religion ein und setzten das heute noch bestehende Kastensystem durch. Die Kastengesellschaft ist streng hierarchisch gegliedert und ordnet die Menschen gemäß ihrer Geburt und ihres Berufes Kasten zu. Die höchste Kasten ist den Brahmanen (die "arischen" Priester) vorbehalten. Dann folgen Könige und Krieger, Handwerker und Bauern bis hin zu den Dalits (Unberührbare). Wenn Adivasi-Völker in das Kastensystem integriert wurden, dann überwiegend als Dalits am Ende der sozialen Hierarchie. Viele Adivasi-Gemeinschaften konnten sich dieser Unterwerfung durch Rückzug in Wälder und Gebirge zunächst entziehen, wurden aber ebenfalls als sozial randständig, behandelt.

Einige Adivasi-Völker konnten ihre matriarchale (mutterrechtliche) Gesellschaftsstruktur teilweise bewahren. Ein Beispiel hierfür sind die Gond, Bhil und Oraon, die in Zentralindien leben und den Frauen grundsätzlich die gleichen Rechte einräumen wie den Männern. Frauen wählen den Ehepartner selbst, können ihn wechseln und sich ohne Verlust des Ansehens auch als Witwen wieder verheiraten. Ansonsten zerstörten die Eroberer Indiens jedoch die mutterrechtlichen Kulturen der Adivasi-Gemeinschaften. Der hohe soziale Status der Frauen war ihnen ein Dorn im Auge. Sie übernahmen zwar die alte Muttergottheit Kali in den Hinduismus, verkehrten ihre Bedeutung jedoch in eine Todesgöttin. Bis heute gibt es bei den Hindus Witwenverbrennungen – nach außen meist als "Küchenunfälle" dargestellt.

Sonderrechte nur auf dem Papier

Die indische Verfassung ist mit 395 Artikeln und neun Anhängen eine der längsten und detailliertesten der Welt. Sie trat 1951 in Kraft und stellt Minderheiten formal unter ihren besonderen Schutz. Darunter fallen die "scheduled tribes" (d.h. die in der Verfassung registrierten Stämme der Adivasi), die "scheduled castes" (die ebenfalls registrierten Dalits) oder die "backward castes" (rückständige Kasten). Für die Dalits und Adivasi sieht die Verfassung Quotenregelungen vor, um ihre historische Benachteiligung beim Zugang zu Ausbildung, Arbeit und Politik nach und nach auszugleichen. Entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung stehen den Adivasi 7,5 Prozent und den Dalits 15 Prozent der Stellen und Ausbildungsplätze im öffentlichen Dienst (Indian Civil Service) oder an den staatlichen Hochschulen zu.

Doch zwischen Verfassung und Realität besteht in Indien ein tiefer Graben: So sind auf der höchsten Stufe des öffentlichen Dienstes die Adivasi mit nur 2,2 Prozent vertreten. Im Ausbildungsbereich werden den Ureinwohnern Steine in den Weg gelegt, ihre Kinder werden häufig gezwungen, in den Schulen eine ihnen fremde Regionalsprache zu lernen. Es fehlt am politischen Willen. "Indien besitzt eine der besten Verfassungen der Welt", urteilt Prof. Ram Dayal Munda, ein erfahrener Adivasi-Politiker. "Leider werden deren Vorgaben so miserabel umgesetzt, dass man sich kaum eine schlechtere Politik vorstellen kann." Bisher hat die Quotenregelung vor allem dazu geführt, dass sich eine kleine Adivasi-Elite entwickeln konnte, die sich von ihrem sozialen und kulturellen Hintergrund losgelöst und an den Mainstream angepasst hat.