16.04.2010

Vertrieben aus dem Kaukasus

Die Tscherkessen

Tscherkessien 1830 foto www.circassianworld.com.jpg

Kaukasus

Aus: bedrohte völker_pogrom 254, 03/2009


In ihrer ursprünglichen Heimat im Nordkaukasus lebt heute in den drei autonomen Republiken Kabardino-Balkarien, Adygeja und Karatschai-Tscherkessien nur noch eine Minderheit von etwa 570.000 Tscherkessen. Dafür gibt es eine große Diaspora, die sich vor allem in der Türkei (ca. 1,5 Millionen), in Syrien (ca. 80.000) und Jordanien (ca. 40.000), der EU (ca. 10.000), Israel (ca. 3.000), in Südosteuropa und in den USA (ca. 1.000) niedergelassen hat. Viele waren als "türkische" Gastarbeiter in den 1950er und 1960er Jahren auch nach Deutschland gekommen. In Deutschland haben sie einen prominenten Vertreter: den Grünen-Vorsitzenden Cem Özdemir. Hierzulande nur als "Politiker türkischer Herkunft" bekannt, stammen seine Vorfahren eigentlich aus dem Kaukasus.

Vertreter dieser großen Diaspora versammelten sich vom 22. bis 24. Mai 2009 in Berlin. Erörtert wurde wie die Diaspora besser zusammenarbeiten könne, um ihre politischen Forderungen durchzusetzen sowie ihr kulturelles Erbe zu bewahren. Admiral Dasdemir, Vorsitzender der Föderation der Tscherkessen in Europa, erklärte, die tscherkessische Sprache sei akut gefährdet. Trotz des Interesses der Jugend für ihre tscherkessische Herkunft spräche die junge Generation häufig nur noch Türkisch oder Russisch. Auch die politische Positionierung zwischen den Interessen der "Großen" wie der Türkei, Russland, der EU sei schwierig.

Im 18. und 19. Jahrhundert hatten die Tscherkessen über mindestens 100 Jahre Widerstand gegen die russische Kolonisation des Kaukasus geleistet. Schließlich unterlagen sie jedoch der gewaltigen Übermacht des russischen Militärs. Dieses ging mit größter Brutalität gegen die Menschen im Nordkaukasus vor. Dörfer wurden systematisch niedergebrannt, Männer, Frauen und Kinder rücksichtslos ermordet. Am 28. Mai 1864 begann die Deportation der noch Verbliebenen ins Osmanische Reich. Über das Schwarze Meer schickte man die Menschen in offenen Barkassen, kleinen, hoffnungslos überfüllten Booten. Viele von ihnen sanken und tausende Menschen ertranken. Während und nach der Deportation grassierten Hunger und Krankheiten unter den Tscherkessen.

Bis heute ist nicht bekannt, wie viele Menschen durch diese russischen Verbrechen umkamen. Laut dem Historiker Stephen Shenfield gab es vor der russischen Kolonisierung rund zwei Millionen Tscherkessen im Nordkaukasus. 1864, nur wenige Monate nach der Niederlage der Tscherkessen, war der nordwestliche Kaukasus fast vollständig "gesäubert". Zwischen 120.000 und 150.000 Tscherkessen wurden in anderen Regionen des Russischen Reiches angesiedelt. Rund 500.000 wurden ins Osmanische Reich zwangsdeportiert. Bereits 1858 waren rund 30.000 Familien freiwillig ausgewandert. Von rund einer Million Tscherkessen fehlt ab 1864 also jede Spur. Wenn man noch diejenigen dazuzählt, die durch die Vertreibung umgekommen sind, gab es wohl fast 1,5 Millionen Opfer.

Dennoch haben die Tscherkessen bis heute als Volk überlebt. Es gibt eine breite tscherkessische Bewegung im Nordkaukasus, in der Diaspora in der Türkei, dem Mittleren Osten und Europa. Seit Jahren drängt die Minderheit die Türkei, auch von offizieller Seite ihre Sprache, Geschichte und Kultur anzuerkennen.

Die Tscherkessen richten ihre Bitten auch an die russische Regierung. Ein erster Schritt wäre die Ankerkennung des Völkermordverbrechens durch das zaristische Russland und eine Entschuldigung dafür von Seiten der heutigen russischen Regierung. Leider macht diese keinerlei Anstalten, sich mit dem Leid der Tscherkessen und ihrer heutigen Situation zu beschäftigen. Es droht eher eine andere Gefahr: Obwohl sie friedlich und demokratisch ihre Forderungen vortragen, werden die Tscherkessen des Öfteren als Separatisten bezeichnet und diskriminiert. Das könnte auf der einen Seite zu einer Radikalisierung der jungen Generation der Tscherkessen führen, auf der anderen Seite könnte Russland die Tscherkessen unter dem Vorwurf des Separatismus genauso drangsalieren wie viele andere Gruppen im Land, insbesondere im Nordkaukasus.