31.05.2005

Ureinwohnern droht Zwangsbekehrung zum Hinduismus

Christenverfolgung in Indien

 

Jede Zivilisation ist daran zu messen,

wie sie mit ihren Minderheiten umgeht!

Mahatma Gandhi

 

In den vergangenen zwölf Monaten hat es in Indien über 100 Übergriffe gegen Christen gegeben. Allein an den Weihnachtstagen 1998 zerstörten Hindu-Fanatiker über 20 Kirchen, verbrannten Bibeln und störten Gottesdienste. Ende Januar 1999 wurden ein australischer Missionar und seine beiden Söhne ermordet. Die meisten Übergriffe ereigneten sich im Bundesstaat Gujarat im Nordwesten Indiens. Aber auch in den Bundesstaaten Punjab, Uttar Pradesh, Maharashtra, Rajasthan, Madhya Pradesh, Bihar und Kerala wurden Christen überfallen. In Kerala im Südwesten des Subkontinents leben etwa 25 Prozent Christen, 25 Prozent Muslime und 50 Prozent Hindus. Dort hat es lange keine religiös motivierten Konflikte gegeben. Um so alarmierender sind die Nachrichten, daß nun auch dort Übergriffe auf Christen provoziert werden.

In großer Sorge über die zunehmende Eskalation der Menschenrechtsverletzungen an Christen fordert die Gesellschaft für bedrohte Völker die indische Regierung dringend dazu auf, die in der indischen Verfassung garantierte Religionsfreiheit zu erhalten. Die Rechte aller ethnischen und religiösen Minderheiten müssen geachtet und geschützt werden. Besonders bedrängt werden die 70 bis 80 Millionen Ureinwohner Indiens, die Adivasi. Deshalb fordert die GfbV insbesondere die an der Regierung beteiligte hindu-nationalistische Partei BJP (Bharatiya Janata Party; Indische Volkspartei) auf, Pläne zur Zwangsbekehrung der Adivasi zum Hinduismus sofort zu unterbinden.

Hetze gegen Christen

Seit den 20er Jahren propagieren Fanatiker unter Berufung auf die "Hindutva" (das Hindutum) einen uniformen Hindu-Staat. In diesem würden u.a. Muslime und Christen als Fremde gelten. Die Fanatiker rekrutieren sich aus der "Sangh Parivar", der ‚großen Familie' Hindu-nationalistischer Organisationen. Ihnen gehören u.a. das "Reichsfreiwilligenkorps" (RSS, Rashtriya Svayamsevak Sangh), der Weltrat der Hindus VHP (Vishva Hindu Parishad ) und die hindu-nationalistische BJP an.

Weil die BJP an der Regierung beteiligt ist und den Premierminister stellt, fühlen sich Fanatiker jetzt offensichtlich zu Übergriffen ermuntert. Sie scheinen zuversichtlich zu sein, Verbrechen ungestraft begehen zu können. So hat Premierminister Vajpayee zwar die Gewalt gegen Christen in Gujarat und Süd-Indien verurteilt. Nach den Morden an dem Missionar und seinen Söhnen rief er jedoch nicht zu einem Dialog zwischen den Religionen auf, sondern regte eine Debatte über die Bekehrung von Christen zum Hinduismus an.

Hindu-Fanatiker behaupten, internationale christliche Kräfte hätten sich gegen sie verschworen. Ausgerechnet dem Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) wird unterstellt, er wolle in den beiden ersten Jahrzehnten des neuen Jahrtausends ganz Indien bekehren. Der ÖRK sei terroristisch und müsse deshalb auch mit terroristischen Aktionen verfolgt werden, lautet die Hetzpropaganda.

Besonders das soziale Engagement der christlichen Kirchen für Bildung, Gesundheitsversorgung und Lebenshilfe für die Armen ist Hindu-Fanatikern ein Dorn im Auge. Diese Hilfen ermöglichen den im Kastensystem Chancenlosen einen sozialen Aufstieg. Angesichts ihrer eigenen Erfolglosigkeit in sozialen Fragen fühlt sich gerade dadurch auch die BJP-geführte Regierung herausgefordert. Zudem wird ihre schärfste Rivalin um die politische Macht, die wieder erstarkte Congress-Partei, von Sonia Gandhi geführt. Die Italienierin stammt aus katholischem Hause. Den politischen Abwind spürend, setzt die BJP wieder auf prohinduistische Parolen, mit denen sie schon einmal zur stärksten politischen Partei wurde. Damals, Anfang der 90er Jahre waren die Muslime die Opfer. Die BJP hatte wesentlich dazu beigetragen, die Muslime aus der Gesellschaft auszugrenzen und Ausschreitungen gegen sie zu provozieren. Jetzt könnten die machtpolitisch schwachen Christen ein bequemes Feindbild abgeben, um das nationalistische Profil der BJP wieder zu schärfen.

Doch in Indien gibt es auch protestantische Sekten, die aggressiv missionieren und jegliche tolerante Grundeinstellung vermissen lassen. Dies liefert dem Weltrat der Hindu VHP Argumente. Er schlägt einen Kreuzzug gegen die ‚Kreuzes-Religion' vor. VHP-Führer bezeichneten die Vergabe des Nobelpreises an Mutter Theresa sowie an den indischen Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen als "christliche Verschwörung". Der indische Ökonom plädierte für verstärkte Anstrengungen zur Alphabetisierung. Dahinter vermuten Hindu-Fanatiker eine westliche Taktik, indische Kinder in die Schulen und damit den Christen in die Arme zu treiben.

Adivasi droht Zwangsbekehrung

Das Kastensystem der Hindus garantiert bis heute eine starke hierarchische Gliederung der Gesellschaft. Doch der Einfluß der Eliten auf die untersten Kasten schwindet. Dort werden die Adivasi wie auch die rund 160 Millionen Dalits, die "Unberührbaren" angesiedelt. Zusammen stellen sie rund ein Viertel der indischen Bevölkerung; ein wichtiges Wählerpotential. Unter den Dalits und Adivasi gibt es besonders viele Christen. Gerade die Ureinwohner können sich mit den Losungen der christlichen Kirchen - Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung, Partnerschaft, Selbstorganisation und Demokratisierung der Gesellschaft - besonders identifizieren. Sie sollen jetzt gezwungen werden, sich in das Hindu-Kastensystem zu integrieren, gleich ob sie sich zum Christentum bekennen oder noch in ihren eigenen Religionen verwurzelt sind.

Die Anhänger der BJP nennen die Adivasi 'Vanavasi', d.h. Waldbewohner bzw. 'Hinterwäldler', die der Hindu-Zivilisation zugeführt werden müssen. Dabei wird unterstellt, die Adivasi seien von Natur aus Hindus. Mit einem Etat von ca. zwei Millionen DM will der Weltrat der Hindu VHP arbeitslose Jugendliche anheuern und in die Dörfer der Adivasi sowie in den Nordosten Indiens schicken. Gemeinsam mit der Schlägertruppe Bajrang Dal sollen sie Christen einschüchtern und bekehren sowie Missionare verjagen. In rund 200 Distrikten mit etwa 50.000 Gemeinden sollen Gebetsplätze und christliche Schulen besetzt und Missionsstationen angegriffen werden, wie dies im Süden des Bundesstaates Bihar (im Hazaribagh-Chatra-Gebiet) oder in Westbengalen (Kospara Village) bereits vorexerziert wurde.

Adivasi in Indien

In Indien leben laut Zensus von 1991 zwischen 70 und 80 Millionen Adivasi in 461 Gemeinschaften. Sie stellen rund sieben bis acht Prozent der Bevölkerung. Die Sammelbezeichnung Adivasi ist das Hindi-Wort für "erste Siedler".Vor etwa 3500 Jahren eroberten arisch-stämmige Hirtenvölker aus Zentralasien den Subkontinent. Die ursprünglichen Bewohner weddiden, austro-asiatischen und dravidischen Ursprungs mußten sich in dicht bewaldete Bergregionen zurückziehen. So konnten sie auch spätere Invasionen von Hunnen, Persern, Afghanen und Europäern größtenteils überleben. Diejenigen Ureinwohner, die der Unterwerfung nicht entrinnen konnten, mußten den neuen Herren dienen und wurden als "Unberührbare" auf der untersten Stufe in die Kastengesellschaft der Hindus integriert.

Während der Invasionen wurden ganze Adivasi-Gemeinschaften zum Teil mehrfach vertrieben, ihr Land wurde geraubt. Die Ureinwohner litten unter Verfolgung, Unterdrückung und psychischer Verelendung. Heute siedeln sie vorwiegend in sechs Großregionen sowie auf den Andaman-Inseln. Beim Blick auf die Landkarte fällt auf, daß sie vorwiegend dort zuhause sind, wo noch naturwüchsige Wälder erhalten sind, in Orissa, Madhya Pradesh, West Bengal und Bihar (mit Chotanagpur / Jharkhand), Andhra Pradesh, Maharashtra, Gujarat, Rajasthan, Karnataka, Kerala, Tamilnadu, Himachal Pradesh, in Nordost-Indien (Assam, Arunachal Pradesh, Nagaland, Manipur u.a.).

Die Adivasi haben einen außergewöhnlichen religiösen Reichtum entwickelt. In ihren traditionellen Religionen wird von einer "beseelten Natur" ausgegangen. Ebenso vielfältig sind ihre Kulturen, Sprachen und Wirtschaftsweisen. Einige halten sich an Brandrodungssysteme, andere haben Rotationssysteme für Wald und Ackerflächen entwickelt, züchten Vieh oder betreiben Handel. Grundlegend für alle ist der gemeinschaftliche Besitz.

Bedrohungspotentiale für Adivasi

Indien strebt den Status einer Industrienation an. Der indische Sozialwissenschaftler Walter Fernandes schätzt die Zahl der durch Modernisierungs- und Industrialisierungspläne vertriebenen Adivasi für den Zeitraum von 1951 bis 1990 auf mindestens 15 Millionen. Die häufigsten Gründe der zwangsweisen Umsiedlung - laut UNO ein grober Verstoß gegen die Menschenrechte - sind:

     

  • Staudämme (u.a. Narmada, Koel-Karo),

  • Bergbau (z.B. Kohle, Bauxit in Bihar, West Bengal),

  • Industrieanlagen (z.B. das Stahlwerk Rourkela; Rourkela war früher ein Dorf mit 2.000 Einwohnern, heute ist es eine Stadt mit 300.000),

  • Naturschutzgebiete (z.B. die Nationalparks Rajugi, Gandhi, Semarsot, das Biosphärenreservat Nilgirit, in denen für die Adivasi ein Anbau- und Sammelverbot besteht),

  • andere Nutzungen wie der Schießübungsplatz Netarhat

  • sowie die zahlreichen Holzeinschläge in den Wäldern, die einen lebenswichtigen Reproduktionszyklus für die Adivasi unterbrechen. Denn für sie ist der Wald Vorratskammer und Gotteshaus zugleich.

     

Nur ein Viertel aller Vertrieben hat eine Entschädigung erhalten. Manche Adivasi-Gemeinschaften wurden mehrfach vertrieben: z.B. zuerst durch Kohleabbau, dann durch ein thermisches Kraftwerk und darauf durch die Ausweisung ihres neuen Gebietes als Naturschutzgebiet. Selbst dort, wo Mittel für eine Umsiedlung bereitgestellt wurden, führte dieser Weg meist ins Elend. Früher eher verstreut siedelnde Adivasi, die Zugang zu sauberem Wasser aus den Flüs-sen und keine Probleme mit der Abfallentsorgung hatten, mußten in eng gebaute Baracken-Siedlungen ziehen oder ihnen wurden verödete Flächen zugewiesen.

Dem Verlust der Lebensgrundlagen folgte der kulturelle Zerfall. Millionen von Adivasi müssen heute als rechtlose Landarbeiter oder als Kulis in den Slums der Städte ums nackte Überleben kämpfen. Ungefähr 15 Millionen müssen Zwangsarbeit leisten. Zwei bis drei Millionen sind in Schuldknechtschaft geraten. Etwa 10 Millionen fristen in Slums ihr Dasein. Statistisch gesehen leben 85 Prozent der Adivasi unterhalb der Armutsgrenze. Nach 50 Jahren Unabhängigkeit und klassischer Entwicklungspolitik geht es den meisten Ureinwohnern schlechter als je zuvor. Sie selbst sprechen von einer 'schleichenden Vernichtung'.

Die indische Verfassung gewährt den Ureinwohnern, in der Amtssprache als "scheduled tribes" bezeichnet, einige Vorrechte und Quoten bei der Besetzung von Parlamentssitzen, Behördenposten und Ausbildungsplätzen. "Indien besitzt, was den rechtlichen Schutz der Adivasi betrifft, eine der besten Verfassungen der Welt", urteilt Prof. Ram Dayal Munda, ein führender Adivasi-Politiker. Die Praxis sehe jedoch anders aus: "Leider werden deren Vorgaben aber so miserabel umgesetzt, daß man sich eine schlechtere Politik kaum vorstellen kann."

Forderungen der Adivasi

I. Selbstbestimmung und Religionsfreiheit

In einigen Teilen Indiens fordern Adivasi vehement autonome Regierungsformen. So kämpfen in der Berglandschaft Chotanagpur im Süden des Bundesstaates Bihar etwa zehn Millionen Adivasi für die Einrichtung eines autonomen Bundesstaates "Jharkhand" (Waldland). Dieser soll letztlich 16 zusammenhängende Verwaltungsbezirke in den momentanen Bundesstaaten Bihar, West-Bengal, Orissa und Madhya Pradesh umfassen. Selbstbestimmung fordern die Adivasi jedoch nicht nur auf der politischen Ebene. Sie wollen auch über ihre Kultur und Religionszugehörigkeit frei entscheiden können. Die meisten beharren nach wie vor auf ihren traditionellen Religionen und wehren sich gegen das Überstülpen des Hinduismus.

II. Adivasi-gerechte Entwicklung

Die Vergangenheit hat gezeigt, wie zerstörerisch von außen aufgezwungene Entwicklung auf Adivasi-Gemeinschaften wirkt. Die Ureinwohner müssen vor gewaltsamer Modernisierung geschützt werden. Auch sie fordern ihr Recht ein, über ihre Zukunft selbst zu entscheiden. Die Gesellschaft für bedrohte Völker fordert deshalb auch von der deutschen Entwicklungspolitik, die Adivasi als gleichberechtigte Partner in Projekte einzubeziehen.

III. Entschädigung

Adivasi fordern eine gerechte Entschädigung. Kann gemeinschaftliches Eigentum nicht angemessen durch ein anderes Stück Land ersetzt werden, soll eine Entwicklungsmaßnahme besser unterbleiben. Einen finanziellen Ausgleich lehnen Adivasi-Repräsentanten vorläufig ab. Sie sagen, die Adivasi hätten bislang kaum gelernt, Geld unter dem Aspekt der Vorsorge zu verwalten und Kapitalinvestitionen vorzunehmen.

IV. Normen zum Schutz vor Vernichtung

Adivasi fordern von Indien und Deutschland die Ratifizierung der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organisation ILO). Dieses internationale Übereinkommen erkennt überlebenswichtige Rechte der Adivasi an: Landrechte, traditionelle Nutzungsrechte an Bodenschätzen, das Recht auf eigene Identität. Gefordert wird auch eine freiwillige Selbstverpflichtung im Sinne eines Verhaltenskodex' (Code of Conduct) für alle, die im Rahmen von Investitionen oder Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit auf Adivasi-Territorien tätig werden. Insgesamt kämpfen die Adivasi für die Verwirklichung ihrer Rechte in der indischen Verfassung. Unabdingbar dazu gehört die Religionsfreiheit.