10.06.2005

Unterliegen Alaskas Gwich´In Indianer der Ölindustrie?

Heilige Karibus ohne Lobby

pogrom - bedrohte völker, Nr. 210, Heft 3 / 2001
"Die Karibus sind alles für uns, der Mittelpunkt unseres Lebens. Unsere Nahrung, unsere Kultur, unsere Tänze, unsere Spiritualität hängen vom Karibu ab. Indigene Menschen auf der ganzen Welt haben ein heiliges Tier. Unseres ist das Karibu", sagt Norma Kassi, Sprecherin der Gwich'In Nation in Alaska. Als das US-Repräsentantenhaus Anfang August dem Energiepaket von Präsident George W. Bush zustimmte, spielten derartige Nebensächlichkeiten offenbar keine Rolle. Die Abgeordneten machten den Weg frei für Ölbohrungen in einem der letzten Naturreservate Alaskas. Doch hier, in der "Serengeti Amerikas", leben die Gwich´In Indianer, deren wichtigste Nahrungsquelle die nordamerikanische Rentiere, die Karibus, sind. Seit Jahrzehnten schon wehren sie sich gegen das Ansinnen der Industrie, in ihrem Lebensraum nach Öl und Gas zu bohren.

Schauplatz der Auseinandersetzung ist das Arctic National Wildlife Refuge (ANWR) im Norden Alaskas. Mit 80.000 km² ist es eines der größten Naturschutzgebiete der Erde. Etwa 6.000 km² des Territoriums wurden 1980 zum "Gebiet 1002" erklärt. Zwischen 4 und 16 Mrd. Barrel Öl (1 Barrel (Fass) = 159 Liter) werden dort vermutet. Das Refugium an der Grenze zu Kanada bietet etwa 200 Vogel- und Säugetierarten ein Zuhause - so auch der Porcupine-Karibu-Herde. Mit 130.000 Tieren ist sie eine der größten Wildtierherden der Welt. Jeden Frühling überqueren die Rentiere den Porcupine-River, um von ihrem Winterlager in den Wäldern zur Küste zu gelangen. Hier ist ihre Sommerweide, und hier bringen sie ihre Jungen zur Welt.

Im April 2001 demonstrierten die Gwich'In und ihre Unterstützer für den Erhalt des ANWR. Dave Lacey, Mitglied des Advisory Committee (rechts im Bild) fordert auf seinem Schild "Menschenrechte für die Gwich'In Nation", Elder Howard Luke (in der Mitte) klagt an: "Sie rauben uns unsere Lebensgrundlage".

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Für die Gwich´In ist die Geburtsstätte der Karibus "der heilige Ort, an dem das Leben beginnt". Seit Jahrhunderten bestimmen die Tiere ihre Kultur; sie sind ihnen Nahrung, Kleidung, Werkzeug und spirituelle Quelle. Noch heute lebt ein Großteil der 7.000 Gwich´In längs der Wanderroute der Karibus und nahe der Weidegebiete der Herde. Doch das Leben, das sie in Harmonie mit der Natur und ihren Traditionen führen, könnte schon bald zuende sein. Die Indianer befürchten, dass die Ölbohrungen das natürliche Gleichgewicht der Region zerstören und die Karibus in die Bergausläufer vertreiben, wo Wölfe und Grizzlies die Kälber bedrohen. So könnte sich die Herde erheblich reduzieren.

Die Forderungen der Gwich´In nach Erhalt ihres Lebensraumes treffen nicht überall in Alaska auf Verständnis. Viele Bewohner befürworten die Bohrungen - unter ihnen die Inupiat-Inuit, die im ANWR zuhause sind. Neben den Karibus gehören Meerestiere wie Robben und Grönlandwale zu ihren Nahrungsquellen. Heilig sind den Inupiat lediglich die Gewässer; von den Bohrungen auf dem Festland erhoffen sie sich einen wirtschaftlichen Schub.

Ginge die Rechnung von Öllobby und republikanischen Politikern überhaupt auf? Populäre Argumente für die Ölbohrungen sind das Dahinschwinden der eigenen Ölfelder und die zunehmende Abhängigkeit von Ölimporten. Nach Berechnungen von Experten jedoch würde das Öl aus dem ANWR die USA nur wenige Monate mit Energie versorgen. Durch die Reduzierung des Energieverbrauchs bei Kleinlastwagen, Sportautos und Minivans könnte hingegen mehr Öl eingespart werden, als das Naturschutzgebiet hergibt. Einen entsprechenden Antrag der Demokraten auf Drosselung des Energiekonsums lehnte das Repräsentantenhaus allerdings ab.

Die Bush-Administration setzt ganz auf kurzfristige Wirtschaftsinteressen und einen verschwenderischen Umgang mit den Schätzen der Erde - statt die natürlichen Ressourcen zu schonen und erneuerbare Energieformen zu fördern. Nur eine Hoffnung bleibt den Gwich´In noch: Der Senat hat das Energiepaket bisher nicht gebilligt. Vielleicht wird dessen demokratische Mehrheit eine vernünftige Entscheidung treffen - zugunsten eines kleinen Volkes, das die Natur respektiert.