04.12.2006

"Unser Leben lag in Eurer Hand - Srebrenica trauert! Keine Medaillen für Dutchbat III!"

Überlebende aus Srebrenica protestieren gegen Ehrung niederländischer Blaumhelmsoldaten:

Überlebende des Bosnienkrieges verlesen die Namen der über 8000 Ermordeten von Srebrenica. Rechts: GfbV-Südosteuropareferentin Jasna Causevic.

Mit einem Transparent mit der Aufschrift "Unser Leben lag in Eurer Hand - Srebrenica trauert! Keine Medaillen für Dutchbat III!" und einem 60 Meter langen Transparent mit den Namen von 8106 Toten aus Srebrenica protestiert die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) am heutigen Montag in Assen gegen die Ehrung niederländischer Blauhelme, die 1995 in der damaligen UN-Schutzzone stationiert waren. Gemeinsam mit Hinterbliebenen der Ermordeten werden Mitarbeiter der internationalen Menschenrechtsorganisation für ethnische und religiöse Minderheiten die Namen Getöteter verlesen.

 

In einem offenen Brief an den niederländischen Ministerpräsidenten Dr. Jan Pieter Balkenende und Verteidigungsminister Henricus Gregorius Jozeph (Henk) Kamp, der zu der Zeremonie für die Dutchbat-Soldaten heute in Assen erwartet wird, fordert die GfbV eine offizielle Entschuldigung und einen humanitären Fonds für die Überlebenden sowie die Initiierung eines internationalen Wiederaufbau- und Investitionsprogrammes in der früheren UN-Schutzzone.

 

 

Es folgt der offene Brief im Wortlaut:

 

Offener Brief

 

An den Ministerpräsidenten der Niederlande

Herrn Dr. Jan Pieter Balkenende

Postbus 20001, 2500 EA Den Haag

 

Das Ministerium der Verteidigung der Niederlande

Herrn Minister Henricus Gregorius Jozeph (Henk) Kamp

Postbus 20 701, 2500 ES Den Haag

 

Göttingen/Assen, 4.12.2006

 

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,

Sehr geehrter Herr Minister,

 

Sie werden am heutigen Montag, den 04.12.2006, 300 niederländische Soldaten des ehemaligen Dutchbat III Verdienstmedaillen verleihen. Dieses Bataillon hatte in den Jahren 1994/95 die Aufgabe, die bedrohte Bevölkerung der UN-Schutzzone von Srebrenica vor den serbischen Belagerern zu schützen. Im umgebenden Drina-Tal, von Zvornik bis hinunter nach Foca, hatten serbische Truppen zuvor bereits 1992 Völkermord an den Bosniaken verübt. Die Region war ethnisch gesäubert. Die Überlebenden wurden vertrieben.

 

Die niederländischen Truppen haben die Menschen von Srebrenica nicht geschützt. Sie haben versagt, wie die UNO insgesamt, wie Europa und die USA versagt haben. Das Ergebnis ist bekannt: 8376 Jungen und Männer wurden ermordet. Hunderte, möglicherweise bis zu 2000 Kinder, Frauen und Alte kamen ums Leben. Die Soldaten wurden Augenzeuge dieser Morde und sahen die Leichen in den geplünderten Häusern und an den Straßen und Plätzen, als die serbischen Einheiten einmarschierten. Ungezählte Alte und Kinder fielen den Strapazen, während der Flucht aus den 56 Dörfern der Enklave zum Opfer. Junge Mädchen wurden vergewaltigt und verschwanden oft für immer.

 

Das Dutchbat III trägt Mitverantwortung für diese Tragödie. Die niederländischen Soldaten sind vor den eindringenden Serben davon gelaufen. Sie haben keinen Schuss abgegeben. Sie haben während dieser Tage den Verteidigern der Stadt die wenigen letzten Waffen und die spärliche Munition abgenommen. Aber sie haben nicht einmal versucht, die berüchtigten Mordformationen der maskierten "Weißen Tiger" Arkans, der "Schwarzen Adler", die Einheiten von Mladic oder die jugoslawische Bundesarmee zu entwaffnen. Und sie haben, laut "Ärzte ohne Grenzen", sogar die Behandlung der verwundeten und kranken Bosniaken verweigert. 38 verletzte Bosniaken wurden von Dutchbat im serbischen Hospital von Bratunac "entsorgt", einer nahgelegenen "bosniakenfreien" Stadt, in der 1992 2000 Bosniaken ermordet wurden. "Dutchbat -Soldaten fanden im März 1994 in Srebrenica ein schmutziges Chaos vor", heißt es in einer holländischen Chronik.

 

Tausende von Männern irrten ziellos durch die Straßen. Die ständige Schar bettelnder Kinder, Menschen, die sich durch Müllhaufen wühlten. Die Bevölkerung der isolierten Stadt hungerte, während sogar die Dutchbat-Soldaten monatelang von Konserven leben mussten. Jede Verbindung der Einwohner mit der Außenwelt war unterbrochen. Ein Funkamateur hielt einzig den Kontakt der Eingeschlossen nach draußen aufrecht.

 

Wofür also wollen Sie, verehrter Herr Ministerpräsident, Sie verehrter Herr Minister, Ihre erfolglosen, unglücklichen Soldaten eigentlich auszeichnen? Wir haben den Eindruck, Sie wollen von der Verantwortung der niederländischen Regierung aber auch der anderen international Verantwortlichen ablenken. Denn die damalige niederländische Regierung und nicht die UN gab den Befehl zur Evakuierung ihrer Truppen aus Srebrenica, ohne auch nur einen Gedanken an die tausenden Einwohner der Stadt zu verschwenden, die gerade unbewaffnet um ihr Leben rangen. Ihr Oberkommandierender Thomas Karremans tauschte mit Mladic Geschenke und prostete seinem Siege zu. Ihre Regierung verbot den Soldaten über den Völkermord zu sprechen. Vier Tage wurden sie völlig isoliert. UNO-Sonderberichterstatter Tadeusz Mazowiecki wurde das Gespräch mit ihnen verboten. Material, Fotos und Videoaufnahmen, verschwanden nach der Rückkehr. Karremans wurde befördert und verschwand als Militärattache in die USA.

 

Weniger die Dutchbat-Soldaten als vielmehr Armeeführung und Regierung der Niederlande sind für den Verrat an den gejagten und schließlich vieltausendfach ermordeten Menschen von Srebrenica verantwortlich, für die verweigerte Hilfeleistung und für die Komplizenschaft mit den Mördern.

 

Wir fordern:

 

- dass sich die niederländische Regierung endlich bei den Überlebenden von Srebrenica entschuldigt - dass sie einen humanitären Fond für die überlebenden Frauen und Mütter von Srebrenica einrichtet - dass die Niederlande ein internationales Wiederaufbau- und Investitionsprogramm für Srebrenica initiieren.

 

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrter Herr Minister, auch in den Niederlanden haben große Teile der Bevölkerung den verfolgten Juden damals die Hilfe versagt. Auszeichnungen Israels werden heute an jene verliehen, die damals die Bedrohten schützten und versteckten. Bitte zeichnen Sie jene mutigen Niederländer aus, die in den schlimmsten Stunden den Opfern von Srebrenica zur Hilfe eilten und jene, die ihnen bis heute zur Seite stehen.

 

Mit freundlichen Grüßen

 

Tilman Zülch*, Gesellschaft für bedrohte Völker Deutschland

André Rollinger, Gesellschaft für bedrohte Völker Luxemburg

Fadila Memisevic, Gesellschaft für bedrohte Völker Bosnien-Herzegowina

 

*Träger des "Srebrenica Award Against Genocide 1995" der Mütterbewegung