30.04.2005

Unabhängige Justiz in der Volksrepublik China

59. Sitzung der UN Menschenrechtskommission 2003 - Genf 17.03.03-25.04.03

Schriftliche Stellungnahme der Gesellschaft für bedrohte Völker

Item 11d

Der Sonderberichterstatter zu Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten Dato Param Cumaraswamy hat in seinem Report (E/CN.4/2002/72) sein bedauern darüber geäußert, dass die Unabhängigkeit der Judikative und der Rechtsstaatlichkeit in vielen Teilen der Welt weiterhin sehr kritisch betrachtet werden muss. Er gab insbesondere seiner Sorge darüber Ausdruck, dass einige Regierungen mehrfach versucht haben, die Unabhängigkeit der Judikative einzuschränken und dabei auch vor einer Absetzung von Richtern nicht zurückschrecken.

Die Verfassung Chinas legt fest, dass die Gerichte die Rechtsprechung gemäß der Gesetzgebung und unabhängig ausüben sollen. Tatsächlich aber unterliegt die Judikative der politischen Einflussnahme sowohl der Regierung als auch der Kommunistischen Partei (KP). Auf lokaler und zentralern Ebene mischen sich Regierung und KP häufig in die Urteilsfindung und Verfahren ein und schreiben die Urteile vor. Am 8. Juli 2002 zitierte der BBC Online News Report "China vows to Overhaul Courts" (China will das Gerichtswesen gründlich überprüfen) Xiao Tang, den Präsidenten des Obersten Volksgerichtshofes von China, mit der Bemerkung, das "unfähige" Richter das Gerichtswesen ungerecht machen würden. Der Bericht stellte fest, dass die meisten von Chinas 200.000 Richtern keine juristische Ausbildung haben und ausschließlich aus politischen Gründen ernannt worden wären. Mr. Xiao offenbarte sogar: "Die Gerichte wurden oft als Abteilungen der Regierung benutzt und Richter wurden als Beamte betrachtet, die sich den Anweisungen ihrer Vorgesetzten zu beugen hätten, was sie wiederum davon abhält, mit einer Mandatschaft versehene rechtliche Pflichten auszufüllen wie andere Mitglieder des Justizapparates."

In der Autonomen Region Tibet beispielsweise haben die meisten als Richter eingesetzten Personen wenig oder gar keine juristische Ausbildung. Prozesse sind nicht öffentlich und ausnahmslos allen Angeklagten werden qualifizierte Verteidiger vorenthalten. Das Chinesische Strafgesetzbuch garantiert jedem Angeklagten das Recht, innerhalb von 10 Tagen nach Verkündung eines Urteils in Berufung zu gehen - erfolgreich sind solche Verfahren jedoch nur selten, wie die in dieser Stellungnahme dargestellten Beispiele zeigen werden. Auf internationaler Ebene am bekanntesten wurde in den vergangenen Monaten das Todesurteil gegen die beiden Tibeter Tulku Tenzin Delek (aka Angag Tashi oder Tenzin Delek Rinpoche) und Lobsang Dhodup. Der Zeitung Sichuan People's Daily vom 3. Dezember 2002 zufolge wurde Lobsang Dhondup zur sofortigen Vollstreckung des Todesurteils verurteilt, während die Vollstreckung im Falle von Tulku Tenzin Delek für zwei Jahre ausgesetzt wurde.

Am 2. Dezember 2002 fand am Karze Internediate People's Court in Karze bei der so genannten "Tibet Autonomous Prefecture" (Autonomen Präfektur Tibets) in der heutigen Provinz Sichuan der VR China eine Anhörung statt. Beide Tibeter wurden beschuldigt, am 3. April an einem Bombenanschlag auf dem Hauptplatz (Tianfu) der Provinzhauptstadt Chengdu beteiligt gewesen zu sein. Außerdem lautete die Anklage auf "illegalen Waffenbesitz" und "Beteiligung an separatistischen Aktivitäten". Tulku Tenzin Delek soll berichten zufolge das Gericht falscher Anklagen und unfairer Prozessführung beschuldigt und ausgerufen haben: "Lange lebe Seine Heiligkeit der Dalai Lama".

Als der Fall vor der nächsten Instanz, dem Sichuan Higher People's Court, zur Verhandlung kommen sollte, hatte der Bruder von Tulku Tenzin Delek, Tsering Lolo, dafür gesorgt, dass zwei prominente chinesische Strafverteidiger, Zhang Sizhi und Li Huigeng, zur Verfügung standen. Doch am 29. Dezember teilte der Richter am Provinzgericht von Sichuan Wang Jinghong den beiden Anwälten mit, dass ihre Dienste nicht benötigt würden, da an ihrer Stelle zwei ortsansässige Anwälte die beiden Tibeter verteidigen würden. Nach Einschätzung von Beobachtern wären aber nur auswärtige Anwälte zu einer kompetenten Verteidigung in der Lage gewesen, da sie nicht unter der Kontrolle der Provinzregierung stehen. Entsprechend unwahrscheinlich war es, dass die beiden ortsansässigen Verteidiger die Fähigkeit und den Mut zu einer entschlossenen Verteidigung besitzen, da sie als Einwohner der Region von den chinesischen Behörden abhängig sind. Die Sorge wuchs, dass ein Wiederaufnahmeverfahren nicht fair verlaufen würde.

Es gibt Informationen, denen zufolge chinesische Beamte Tsering Lolos Wohnsitz im Bezirk Lithang am 27. Dezember 2002 aufgesucht und ihn bedroht hätten, weil er versucht habe, Anwälte aus Peking zu beschäftigen. Am 6. Januar 2003 begann Tulku Tenzin Delek schließlich mit einem unbefristeten Hungerstreik aus Protest gegen seine Haftbedingungen und gegen die Verweigerung eines fairen Verfahrens.

Diese beispiellose Entwicklung der Menschenrechtssituation in Tibet fand breiten Widerhall in den Weltmedien und führten zur Intervention westlicher Regierungen einschließlich der Europäischen Union und der USA bei den chinesischen Behörden. Am 21. Januar strahlte Radio Free Tibet, Tibetischer Service, eine auf Band aufgenommene und aus dem Gefängnis geschmuggelte Botschaft von Tulku Tenzin Delek aus, in der dieser einflussreiche tibetisch-buddhistische Lehrer und Sozialarbeiter eindringlich darauf hinwies, dass er mit der Serie von Bombenanschlägen nichts zu tun hatte. "Was auch immer (die Behörden) tun oder sagen, ich bin absolut unschuldig", sagte Tulku Tenzin Delek in seiner Botschaft, die am 18. Januar in seiner Gefängniszelle in Dartsedho (Chinesisch: Kangding) aufgenommen worden ist. "Ich habe die Menschen immer bedrängt, freundlich zu sein und sich umeinander zu kümmern. Jeder weiß, was ich sage und wie ich handele."

Am 23. Januar 2003 gab die US-Regierung ihrer Sorge über Berichte Ausdruck, denen zufolge die chinesischen Behörden in den vergangenen Monaten im Zusammenhang mit den Festnahmen von Tulku Tenzin Delek und Lobsang Dhondup bis zu 10 Tibeter verhaftet hätten. Ein chinesischer Beamter bestätigte Berichte, dass mindestens ein weiterer Tibeter im Zusammenhang mit diesem Fall inhaftiert und weitere festgenommen worden seien. Die US-Botschaft in Peking erwähnte, dass chinesische Beamte diese weiteren Fälle gegenüber Mr. Craner nicht erwähnt hätten, obwohl er während der Gespräche ausdrücklich seiner "großen Sorge" um den verurteilten "Lobsang Dhondup und einen mit ihm zusammen verurteilten Führer der tibetischen Buddhisten Ausdruck gegeben hatte. "Es steht nun fest, dass diese Verhaftungen lange vor dem Dialog stattgefunden hatten und wir sind enttäuscht darüber, dass die chinesischen Behörden uns nicht einmal dann über sie informiert hatten, als wir uns nach diesen beiden Fällen erkundigten", gab die Botschaft in einer schriftlichen Stellungnahme bekannt.

Am 27. Januar 2003 berichtete die staatliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua, dass der Revisionsantrag von Tulku Tenzin Delek durch den Higher People's Court der Provinz Sichua abgelehnt worden sei und dass Lobsang Dhondup keinen Antrag gestellt habe. Außerdem bezichtigte die Nachrichtenagentur die beiden Tibeter des Versuchs, die Einheit des Landes und seiner verschiedenen ethnischen Gruppen zu sabotieren. Beide hätten Sprengkörper an öffentlichen Plätzen entzündet und sich terroristischer Verbrechen schuldig gemacht. Beide hätten gestanden. Dieser Bericht behauptet, dass die beiden Wiederaufnahmeanträge von Tulku Tenzin Delek von Chen Shichang und Yu Jianbo vertreten worden seien, zwei Anwälten aus dem Anwältebüro der Präfektur Garze. lrang Toinzhub (Lobsang Dhondup) habe keinen Verteidiger beauftragt. Daher hätten der Intermediate People's Court of Garze und der Sichuan Higher People's Court Kuai Qinghua und Liu Shijan, zwei Anwälte aus demselben Büro, als Verteidiger bestellt.

Lobsang Dhondup wurde etwa um 7 Uhr morgens am Sonntag, 26. Januar 2003, an einem geheim gehaltenen Ort hingerichtet. "Die Vollstreckung von Todesstrafen geschieht gemäß einem umfassenden Regelwerk und nach strengen Untersuchungen", sagte die Sprecherin des chinesischen Außenministeriums Zhang Qiyue in Peking am 27. Januar. "Daher ist es wie in jedem anderen Staat auch Aufgabe unseres Justizministeriums, sich mit Terroristen zu befassen, die Bomben werfen oder mit jeder anderen Person, die die Sicherheit unseres Staates gefährdet", fügte sie hinzu. Nach nicht bestätigten Informationen aus Tibet sollen Lobsang Dhundup die Ohren abgeschnitten worden sein; auch sein Mund und seine Nase sollen übel zugerichtet gewesen sein. Sein Leichnam wurde seiner Familie nicht ausgehändigt. Vor seiner Hinrichtung wurde Lobsang Dhundup grausam gefoltert.

Lobsang Dhundup wurde am 15. Juni 1974 im Dorf Duphutse in Ngyachu, Provinz Kham, geboren. Kham ist heute Teil der chinesischen Provinz Sichuan. Sein Vater Phuntsok starb vor einigen Jahren, seine Mutter Kathar Lhamo ist heute etwa 50 Jahre alt. Als Kind half Lobsang Dhundup seinen Eltern ihr kleines Stück Land zu bestellen. Jahre später heiratete er und wurde Vater zweier Söhne. Schließlich verließ er seine Familie und trat als Mönch in das Kloster ein, das von Tulku Tenzin Delek geleitet wurde. Dort blieb er etwa ein Jahr und lebte danach vom Verkauf von Pilzen und Heilpflanzen an Chinesen.

Am 27. Januar stellte der Beauftragte der Regierung der Bundesregierung Deutschland für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe Gerd Poppe fest: "Die Bestätigung der Todesurteile gegen die beiden Tibeter Tenzin Deleg Rinpoche und Lobsang Dhondup durch den Chengdu Higher Peoples Court am 26. Januar gibt zu großer Sorge Anlass. Auch wenn Berichte darüber, dass das Urteil gegen Lobsang Dhondup bereits vollstreckt wurde, noch offiziell bestätigt werden müssen, ist das Urteil schon jetzt ein eindeutiger Bruch der Versprechungen Chinas gegenüber der EU, dass die EU über alle Entwicklungen in dieser Angelegenheit informiert werden würde. Die weltweite Abschaffung der Todesstrafe ist eines der wichtigsten Ziele deutscher und europäischer Menschenrechtspolitik. Ich appelliere daher eindringlich an die Regierung Chinas, Rechtsstaatlichkeit zu garantieren und den Angeklagten eine faire Chance für eine Verteidigung zu geben."

Am 28. Januar heißt es in einer Stellungnahme des US-Außenministeriums: "Seit Dezember haben wir mehrfach gegenüber den chinesischen Behörden unserer Sorge um Lobsang Dhondup und Tenzin Delek Rinpoche Ausdruck gegeben. Die Geheimhaltung, mit der dieser Prozess belegt war, die Tatsache dass den beiden Angeklagten Rechtsstaatlichkeit vorenthalten wurde und die Härte der gegen sie ausgesprochenen Urteile belegen den miserable Menschenrechtsleumund Chinas. Das chinesische Außenministerium hat uns und anderen Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft mehrfach versichert, dass der Oberste Volksgerichtshof (Supreme People's Court) beide Fälle prüfen würde, bevor eines der Urteile vollstreckt werden würde. Wir wissen jetzt, dass diese Prüfung nicht stattgefunden hat. Dieser Sachverhalt lässt große Zweifel daran aufkommen, wie weit China sich an sein eigenes Strafgesetz gebunden fühlt sowie am Respekt der Volksrepublik China für Rechtsstaatlichkeit und internationale juristische Standards."

Am selben Tag nahm auch Bill Rammell, Mitarbeiter im britischen Außenministerium, die Hinrichtung von Lobsang Dhondup und das Todesurteils gegen Tenzin Delek Rinpoche zum Anlass, um seine Forderung nach Abschaffung der Todesstrafe in China zu erneuern. "Mit Bestürzung habe ich von der Exekution von Lobsang Dhondup am 26. Januar erfahren. Das Vereinigte Königreich hat die beiden Eingaben des EU-Präsidiums in dieser Angelegenheit unterstützt. Wir ersuchen unsere EU-Partner eindringlich um weitere Eingaben bei den Chinesen", fährt das Statement fort.

Auf dem Hintergrund der Entwicklung der Menschenrechtssituation in Tibet appellieren wir an die Menschenrechtskommission alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um China wegen seiner allgemeinen Menschenrechtssituation zu tadeln. Die Exekution von Lobsang Dondup und die Inhaftierung von Tulku Tenzin Delek und anderen Tibetern widerspricht selbst minimalen Standards. Die Exekution von Lobsang Dondup hat ganz eindeutig die Tibeter provoziert, die seit mehr als vier Jahrzehnten einen gewaltlosen Freiheitskampf führen. Diese Repression setzt ein zu einer Zeit, in der die Regierung Chinas als Folge des 11. September zunehmend politische Aktionen als Terrorismus brandmarkt. Ergänzungen zum Strafgesetz Chinas von Dezember 2001 belegen jeden mit drakonischen Strafen, der "eine terroristische Organisation gründet oder leitet", die sich zwischen 3 bis 10 Jahren Haft und 10 Jahren bis lebenslänglicher Haft bewegen (Art. 120 des Strafgesetzbuches). Der Terminus "terroristische Organisation" ist jedoch nicht definiert, so dass eine großen Bandbreite willkürlicher Interpretationen Tor und Tür geöffnet werden und gewaltlose politische Arbeit einschließt.