22.04.2005

Uganda / Flüchtlinge:Wenn es Nacht wird, kommt die Angst

Ruth wirkt verstört. Die Mutter von vier Kindern ist traumatisiert: "Sie kamen am frühen Morgen und haben mein Haus niedergebrannt. Meine zwei ältesten Kinder haben sie mitgenommen", berichtet sie weinend von einem überfall der Lord’s Resistance Army (LRA) auf ihr Dorf. Ihre beiden jüngeren Kinder haben ihr die Rebellen gelassen. "Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie auch meine Jüngsten entführen", fürchtet die verzweifelte Mutter. Wenige Wochen vor dem überfall war ihr Mann in einen Hinterhalt geraten und von der LRA getötet worden. Nun lebt Ruth mit ihren beiden verbliebenen Kindern in einem der vielen Flüchtlingslager im Norden Ugandas. "Das Leben hier ist die Hölle", klagt sie. "Die wenigen Soldaten der ugandischen Armee, die das Camp bewachen sollen, schützen uns nicht, sondern holen sich, was sie brauchen: Nahrungsmittel, Frauen für die Nacht, Kinder, die für sie arbeiten..." Fast täglich kommen auch LRA-Kämpfer, drohen mit überfällen und erpressen Nahrungsmittel. "Dabei haben wir schon viel zu wenig für uns zu essen", klagt Ruth.

Mehr als 800.000 Menschen sind alleine im Norden Ugandas auf der Flucht vor dem Terror der LRA und der ugandischen Armee. Rund 80 Prozent der im Norden Ugandas lebenden Acholi sind auf der Flucht. Nicht besser ergeht es den Karamojong und anderen ethnischen Minderheiten. Zehntausende Menschen wurden von Regierungssoldaten in Lager oder "Wehrdörfer" gepfercht, die mangelhaft versorgt sind und keine Sicherheit bieten. Grundlegende internationale humanitäre Standards und Menschenrechte werden in den Camps missachtet. Internationale Hilfsorganisationen stellen nach überfällen der LRA immer wieder ihre humanitäre Arbeit zeitweilig ein. Für die Regierung ist der Schutz der insgesamt 1,2 Millionen Flüchtlinge im Norden und Osten des Landes zweitrangig, obwohl die humanitäre Lage der Zivilbevölkerung in den 17 Jahren des Bürgerkrieges niemals so katastrophal war. Allein seit Beginn der Großoffensive "Eiserne Faust" der ugandischen Armee im März 2002 hat sich die Zahl der Flüchtlinge verdoppelt. Das öffentliche Leben ist in vielen Gegenden im Norden und Osten Ugandas zusammengebrochen.

Waffen aus dem Sudan für die Rebellen

Mit Zustimmung der sudanesischen Regierung operieren ugandische Soldaten seit Beginn der Großoffensive im Südsudan, um Nachschublinien und Rückzugsmöglichkeiten der LRA zu zerstören. Denn in den Süden des Sudan zog sich die LRA nach überfällen in Uganda immer wieder zurück. Zwar bestreitet die Regierung in Khartum vehement jede Unterstützung der Rebellenbewegung, räumt angesichts vieler glaubwürdiger Berichte über Waffenlieferungen der sudanesischen Armee an die LRA jedoch ein, dass einzelne Offiziere die LRA mit Waffen und Munition versorgen würden. Das Dementi aus Khartum klingt wenig glaubwürdig, da die sudanesische Regierung jahrelang die Nachbarländer Äthiopien, Eritrea, Kenia und Tschad systematisch destabilisierte, weil es sie verdächtigte, die südsudanesische Freiheitsbewegung Sudan People’s Liberation Army (SPLA) zu unterstützen.

Doch die vollmundig von Ugandas Staatspräsident Yoweri Museveni angekündigte Zerschlagung der LRA ist heute von der Realität weiter entfernt als je zuvor. Denn die LRA wich vor der Großoffensive in den Osten Ugandas aus und verursacht seit Juni 2003 in der Region Teso mit ihrem Terror unendliches Leid. Fast täglich werden Dörfer überfallen, Kinder entführt, Dorfbewohner erschossen, Massaker verübt, Frauen vergewaltigt, Häuser niedergebrannt und Viehherden geraubt. Tausende Flüchtlinge, die in der Nähe der Stadt Soroti Aufnahme gefunden haben, strömen jeden Abend in die Stadt. In Schulen, Kirchen, Busstationen, ämtern und anderen öffentlichen Einrichtungen suchen sie für einige Stunden Schutz vor übergriffen. Denn oft kommen die LRA-Kämpfer in den frühen Morgenstunden, brennen die Häuser nieder und entführen die Kinder.

Schutzlose Kinder

Im Norden Ugandas suchen jede Nacht mehr als 20.000 Kinder aus dem Umland in den Städten Gulu und Kitgum Schutz. Bis zu zehn Kilometer laufen sie jeden Abend, um vor Entführungen der LRA sicher zu sein. "Wenn es Abend wird, schlägt das Herz von Kindern und Eltern schneller", erklärt John Baptist Odama, der Erzbischof der Stadt Gulu. "Dann ist es Zeit, sich zu verstecken", sagt der Erzbischof, dessen Kirche viele Flüchtlinge betreut und der sich seit 1998 für Frieden in der Region einsetzt. "Wenn du glücklich bist, hast du eine Decke und findest irgendwo eine geschützte Ecke auf einer Veranda oder in einer Busstation. Und dann versuchst du zu schlafen, wenn du es kannst. Viele Flüchtlinge singen gemeinsam abends oder hören Radio, um sich abzulenken und nicht an die Nacht zu denken." Viele sind nach Wochen der Flucht erschöpft und geschwächt. Husten, Malaria, Masern und Durchfall-Erkrankungen sind weit verbreitet.

Kinder sind in der LRA sowohl Opfer als auch Täter. Rund 90 Prozent der LRA-Kämpfer sind in den vergangenen 17 Jahren selbst als Kinder entführt und zwangsrekrutiert worden. Mehr als 20.000 Kinder sind von der LRA bereits im Norden und Osten Ugandas verschleppt worden. In den letzten zwei Jahren hat die Zahl der Entführungen dramatisch zugenommen. Von Juni 2002 bis Juni 2003 wurden nach Angaben der Vereinten Nationen alleine 8.400 Kinder entführt. Zwischen Juli und Oktober 2003 wurden erneut 2.000 Kinder verschleppt, von denen jedoch 1.280 wieder von Regierungssoldaten befreit wurden. Die Verschleppten müssen als Träger, Soldaten, Minensucher, Spione, menschliche Schutzschilde oder als Sexsklaven der LRA-Kommandeure dienen.

Zum Töten erzogen

Wer als Soldat ausgewählt wird, wird von seinen Ausbildern mit großer Brutalität zum Töten und Brandschatzen erzogen. So werden Kinder oft dazu gezwungen, ihre eigene Geschwister vor den Augen der übrigen Kinder zu töten, wenn diese den Ausbildern zum Dienst an der Waffe nicht tauglich erscheinen, berichten geflohene LRA-Kämpfer. Mit blutigen Ritualen wird den Kindersoldaten die Angst vor dem Töten genommen. Das Totschlagen von Kindern ist in den LRA-Lagern ein alltägliches Ritual. Auch wird den jungen Kämpfern mit Drogen die Angst vor Gewaltanwendung und übergriffen genommen. Ihre Versorgung ist katastrophal, da das bei ihren Beutezügen beschaffte Schweine- und Ziegenfleisch ihren Kommandeuren vorbehalten ist. Die kämpfenden Kinder ernähren sich von Getreide und Wildfrüchten. Mit großer Brutalität überfallen die Kinder Dörfer und Flüchtlingslager. Mitte August 2003 hackten sie im Bezirk Lira 13 Kinder mit Macheten zu Tode. Nicht minder schrecklich war das Schicksal von 45 Kindern, die am 15. Juli 2003 aneinandergekettet in den Fluss Moroto geworfen wurden, um die Wassertiefe zu testen. Die Jungen und Mädchen im Alter von neun bis fünfzehn Jahren sind alle ertrunken. Mit unvorstellbarer Brutalität gehen die LRA-Kommandeure gegen Kindersoldaten vor, die zu fliehen versuchen. Der 14 Jahre alte Peter Ochan wurde während der zehn Monate, die er für die LRA kämpfen musste, mehrfach Zeuge, wie Kindersoldaten nach Fluchtversuchen ermordet wurden. Einmal hätten sie zur Abschreckung den Leichnam eines Flüchtlings tagelang tragen müssen, bis der Körper schon ganz verwest gewesen sei. Später seien sie angewiesen worden, sein Hirn herauszutrennen und es überall zu zeigen.

Teufelskreislauf der Gewalt

Trotz der drohenden Strafen versuchen immer wieder Kindersoldaten, aus den Lagern der LRA zu fliehen. Tausenden gelang bereits die Flucht, doch sie sind nicht nur ihr Leben lang traumatisiert von den schrecklichen Verbrechen, die sie im Namen der LRA begehen mussten. Besonders fürchten sie, erneut von der Rebellenbewegung verschleppt zu werden. Denn sie wissen, dass entflohene Kindersoldaten besonders grausam ermordet werden.

Ugandas Staatspräsident behauptete jüngst voller Stolz, die ugandische Armee habe in den vergangenen zwölf Monaten 6.000 Kinder aus den Fängen der LRA befreit. Doch Musevenis Sprachgebrauch muss schon verwundern: was wenige Stunden zuvor bei Reden vor ugandischen Soldaten noch um jeden Preis zu vernichtende Terroristen waren, sind nun plötzlich arme verschleppte Kinder. Je nach Publikum verändert der Staatspräsident seine Botschaft, doch die Sorge um eine Verbesserung des Schutzes der terrorisierten Zivilbevölkerung spricht nicht aus seinen Worten. Museveni macht keinen Hehl daraus, dass er trotz der katastrophalen Folgen der Großoffensive "Eiserne Faust" auf eine militärische Lösung des Bürgerkrieges setzt. Museveni warnte am 8. September 2003 nachdrücklich vor jeder geheimen Kontaktaufnahme mit der LRA. Wer mit der Rebellenbewegung insgeheim spreche, riskiere wegen Staatsverrat gehängt zu werden. Nun lässt die Regierung auch Milizen unter der Minderheit der Karamojong im Osten des Landes aufbauen und mit Waffen ausrüsten, eine fatale Entscheidung, die die Gewalt nur weiter eskalieren lässt.

Es gab viele Ursachen für den Ausbruch des Bürgerkrieges vor 17 Jahren. Einer der wichtigsten Gründe war sicherlich, dass sich viele Menschen im Norden Ugandas von der Regierung vernachlässigt fühlten. Doch inzwischen hat die LRA mit ihrem Terror jedes Vertrauen unter den Acholi und anderen Bevölkerungsgruppen im Norden und Osten des Landes verspielt. Mit dem von ihr angestrebten Sturz der Regierung Museveni und dem Aufbau eines Staates nach den biblischen zehn Geboten verbindet niemand mehr die Hoffnung auf eine Verbesserung der katastrophalen Lage. Rund 20.000 Kinder und Erwachsene demonstrierten am 14. Juli 2003 in der Stadt Kitgun für ein Ende des Krieges. "Wir wollen keine Killer werden" und "Wir wollen nicht sterben" war auf Spruchbändern zu lesen.

Seit 1998 engagiert sich die "Friedensinitiative der religiösen Führer von Acholi" (ARLPI) für ein Ende des Bürgerkrieges. Christen, Orthodoxe und Muslime setzen sich gemeinsam für ein Ende des Krieges und der humanitären Tragödie ein. "Warum hat die internationale Staatengemeinschaft uns vergessen", fragen die religiösen Führer im Norden Ugandas jeden Staatsgast, der das Land besucht. Massiv dringen sie auf mehr internationale Aufmerksamkeit für den Bürgerkrieg und fordern die Einrichtung von gesicherten Korridoren, durch die humanitäre Hilfe zur Not leidenden Bevölkerung gebracht werden kann. Vor allem aber fordern sie internationale Initiativen zur Beendigung des Krieges. Angesichts des mangelnden Friedenswillens der Konfliktparteien erhoffen sie sich nur noch von einer Stationierung internationaler Friedenstruppen ein Ende des Terrors gegen die Zivilbevölkerung. Zu Recht verweisen sie darauf, dass die internationale Staatengemeinschaft im Jahr 2003 mit Friedenstruppen im Kongo, in Liberia und in der Elfenbeinküste intervenierte, um massive Menschenrechtsverletzungen zu stoppen. Doch bislang haben weder der Weltsicherheitsrat, noch die Europäische Union oder die USA konkrete Schritte unternommen, um die Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Norden und Osten Ugandas zu stoppen.