18.07.2007

Überlebende von Halabja: Krank, traumatisiert, enttäuscht!

aus: bedrohte völker_pogrom 242, 3/2007
Beim Giftgasangriff auf die irakisch-kurdische Stadt Halabja am 16.März 1988 war Shaho erst neun Jahre alt. Trotzdem erinnert er sich noch genau an die Gaswolken, den durchdringenden süßlichen Geruch von Früchten und das Gefühl der Panik, als die ersten Menschen da, wo sie gerade standen, tot umfielen.

Über einen Zeitraum von drei Tagen bombardierten irakische Flugzeuge in Geschwadern von je sieben bis acht Maschinen in mehreren Wellen die 80.000 Einwohner zählende Stadt und alle Zufahrtsstrassen, um möglichst viele Menschen zu töten. Während dieses Gasangriffes wurde ein regelrechter Giftcocktail eingesetzt: Senfgas, Nervengas, Sarin, Tabun und sehr wahrscheinlich Cyanid.

Die Menschen in Halabja waren dem Bombardement schutzlos ausgeliefert. Die chemischen Substanzen fraßen sich durch ihre Kleider und griffen Haut, Augen und Lungen an. Mindestens 5000, niemand weiß die genaue Zahl, starben innerhalb von Stunden. Viele suchten Schutz in den Kellern, die zur tödlichen Falle wurden, da sich die schweren Gase langsam auf den Boden absenkten.

Unter den vielen Gräueltaten, die vom Tyrannen Saddam Hussein angeordnet wurden, war der Gasangriff auf Halabja eine der schlimmsten. Bis heute, 19 Jahre nach dem Angriff, kämpfen die Überlebenden mit den Folgen dieser barbarischen Tat.

Zum dem Zeitpunkt des Angriffes war Shaho kerngesund. Doch danach bekam er innerhalb von wenigen Wochen zunächst starke Rückenschmerzen, bis er nach einigen Monaten nicht mehr aufrecht stehen oder laufen konnte. Er leidet seitdem an schwerer Skoliose, einer Verkrümmung der Wirbelsäule. Er macht das Gas, das er damals eingeatmet hat, für seine jetzige Verfassung verantwortlich. Obwohl die Langzeitfolgen solcher hochgiftiger Substanzen für den menschlichen Körper noch nicht ausreichend erforscht sind, ist es erwiesen, dass diese Substanzen zu Funktionsstörungen führen und damit auch die Verkrümmung der Wirbelsäule verursacht haben könnten.

Shaho ist nur einer von vielen Langzeitgeschädigten der Gasangriffe aus dem Jahre 1988. In Halabja gibt es ungewöhnlich viele Fälle von bösartigem Krebs, Hautkrankheiten, Atemproblemen, Unfruchtbarkeit und angeborenen Missbildungen. Die Zahl der von diesen Erkrankungen Betroffenen ist im Vergleich zu anliegenden Ortschaften, die von Gasangriffen verschont blieben wie z.B das Dorf Suleimaniya, drei- bis viermal so hoch. Dass Ärzte zu Notfallpatienten gerufen werden, denen sie eine Kugel aus dem Leib operieren müssen, ist in Halabja nichts Ungewöhnliches: Die Menschen dort sind so tief verzweifelt, dass Versuche, sich das Leben zu nehmen, häufig sind.

Zehn Jahre nach den Giftgasangriffen besuchte die britische Genforscherin Prof. Gosden von der Universität Liverpool Halabja. " Die Situation gleicht einer genetischen Zeitbombe, die bei den kommenden Generationen explodieren wird", sagte sie mir.

Noch Jahre nach den Gasangriffen und selbst nach der Errichtung einer Flugverbotszone über dem irakischen Teil Kurdistans hatten die Menschen dort das Gefühl, von internationalen Hilfsorganisationen gemieden zu werden, obwohl es einige internationale Initiativen gab, darunter ein von Schweden finanziertes Krankenhaus. Die kontinuierliche Behandlung der Erkrankungen würde Millionen kosten, aber keine westliche Regierung scheint dafür einen finanziellen Beitrag leisten zu wollen. Das Gefühl, von der Außenwelt ignoriert und alleingelassen worden zu sein, kann dazu beigetragen haben, dass der islamische Fundamentalismus innerhalb der Gemeinde an Einfluss gewonnen hat, die sich inzwischen auch innerhalb Irakisch-Kurdistans isoliert fühlt.

Die Menschen in Halabja sind besorgt, dass ihre Umwelt noch immer von giftigen Überresten der Gase verseucht ist. Doch keine internationale Institution hat bisher untersucht. ob dies tatsächlich so ist. Vor sieben Jahren, als ich in der landwirtschaftlichen Abteilung von Suleimaniya arbeitete, ging ich nach Halabja, um Boden- und Wasserproben aus den Gebieten zu nehmen, die am heftigsten von den Gasangriffen betroffen waren.

Doch als es darum ging, diese Proben zu analysieren, stand ich vor großen Schwierigkeiten. Ein Labor der finnischen Regierung, das toxische Rückstände in den Proben nachweisen konnte, bot auf meine Anfrage hin die Untersuchung zwar zunächst an. Lehnte dann jedoch – offenbar auf Druck des finnischen Außenministeriums hin – ab, als ich aus Kurdistan zurückgekehrt war. Versuche, andere Labore in Holland, Schweden und weiteren europäischen Ländern dazu zu bewegen, die Analyse der Proben zu übernehmen, führten zu dem gleichen Ergebnis. Selbst die UN-Organisation für das Verbot chemischer Waffen lehnte es ab, in diesem Zusammenhang aktiv zu werden.

Woher kommt die ablehnende Haltung der westlichen Länder? Die Einwohner von Halabja behaupten, dass die westlichen Regierungen einen wichtigen Grund haben, warum sie jegliche Einmischung ablehnen. Sicher ist, dass Saddam Hussein die Hauptschuld für die Gasangriffe trägt, denn er hat sie befohlen. Doch ohne die materielle Unterstützung des Westens hätten sie nicht durchgeführt werden können. Große Chemieunternehmen unterstützten Saddam mit chemischem Ausgangsmaterial für das Gas, ohne jemals kritische Fragen zu stellen. So sind die Menschen in Halabja der festen Überzeugung, dass diese Unternehmen unbescholten davon kommen sollen, weil dies im nationalen Interesse der jeweiligen westlichen Regierungen sei.

Es ist zutreffend, dass die UN 1993 mit der irakischen Regierung eine formale Vereinbarung getroffen hat, die Namen der Unternehmen nicht zu nennen, die das Regime in Irak mit chemischen Ausgangsstoffen versorgt haben. Kurz vor Beginn des letzten Irakkrieg, als die USA starken Druck auf die irakische Regierung ausübten, über das eigene Waffenarsenal Auskunft zu geben, ließ Saddam Hussein der Atomenergiebehörde (IAEA) ein 12.000 Seiten langes Dokument zukommen, in welchem alle westlichen Konzerne aufgelistet waren. Doch die IAEA hat es bis heute nicht für nötig gehalten, diesen Bericht der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Es wurde erwartet, dass Saddam Hussein die Verwicklung westlicher Unternehmen in seine Waffenprogramme während seines Prozesses in Bagdad ansprechen würde. Doch seine rasche Hinrichtung Ende Dezember 2006 verhinderte dies.

Unterdessen sind die Menschen in Halabja zunehmend frustriert. Sie beschweren sich über Arbeitslosigkeit, schlechte Straßen, mangelhafte Wohnmöglichkeiten, schlechte Gesundheitsversorgung und die mangelhaften hygienische Verhältnisse. Sie haben das Gefühl, dass der wirtschaftliche Aufschwung, schon deutlich sichtbar im Rest von Kurdistan, an ihnen vorbeigegangen ist.

Genau vor einem Jahr führte diese Verzweiflung während einer Zeremonie zum 18.Jahrestag des Gasangriffs auf Halabja führte zu Gewalttätigkeiten. Dabei zerstörten meist junge Menschen ein Denkmal, das zur Erinnerung an die Opfer der Gasangriffe errichtet worden war, in einem bilderstürmerischen, willkürlichen Akt der Brandstiftung, der Schockwellen über die ganze Umgebung schickte. Das Denkmal zeigte im Todeskampf ineinander verwobene Hände.

Die Wut der jungen Menschen richtete sich gegen die kurdischen und internationalen Politiker, die ihrer Meinung nach nur Gedenkkränze an dem zerstörten Denkmal ablegten und die Gasangriffe gern als Rechtfertigung für den Sturz von Saddam Hussein anführen, sich aber nach dem Verlassen des Dorfes nicht weiter für die Opfer der Gasangriffe interessieren.

"Viele Menschen in Halabja brauchen medizinische Versorgung, die nicht in Kurdistan erhältlich und aus diesem Grunde sehr teuer ist", sagte mir kürzlich ein führendes Mitglied der Gesellschaft für Opfer Chemischer Angriffe in Suleimaniya. "Wir brauchen Unterstützung, und in gleichem Maße ist es notwendig, die Verantwortlichen im Irak und in anderen Ländern, die Saddam Hussein unterstützt haben, zur Rechenschaft zu ziehen."

Doch es gibt durchaus positive Ansätze für die Zukunft Halabjas. Die Proben, die ich vor sieben Jahren aus Kurdistan mitgebracht habe, wurden schließlich von der niederländischen Polizei untersucht, die gegen Franz van Anraat, einen holländischen Geschäftsmann ermittelte. Dieser wurde angeklagt und zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt, weil er Saddams Regime Chemikalien für sein Gasprogramm besorgt hatte.

Die Ergebnisse der Analyse werden in den nächsten Monaten nach dem Berufungsverfahren van Anraats veröffentlicht werden. Die gute Nachricht ist, dass dann deutlich werden wird, dass die Umwelt in Halabja - wenigstens in den letzten sieben Jahren - frei von jeglicher chemischer Verschmutzung ist. Darauf kann man eine Zukunft aufbauen.

Gwynne Roberts

Autor mehrere investigative Filme über Verbrechen an irakischen Kurden und GfbV-Beiratsmitglied lebt in London