22.06.2005

Über die Situation tschetschenischer Flüchtlinge in der Russischen Förderation

Gutachten

Göttingen
Einleitung

60% der insgesamt 340.000 Binnenvertriebenen (hierunter fallen nicht nur Tschetschenen, sondern alle Vertriebenen, wobei davon auszugehen ist, dass die Mehrzahl der Binnenvertriebenen Tschetschenen sind) in der Russischen Förderation leben in Tschetschenien. Dies ist das Resultat einer Innenpolitik, die darauf abzielt, den Flüchtlingen in anderen Regionen der Russischen Föderation Sicherheit und Aufnahme zu verwehren. Seit 2002 verfolgt die russische Politik zudem das Ziel, tschetschenische Flüchtlinge, die in der Nachbarrepublik Inguschetien Zuflucht gefunden hatten, nach Tschetschenien zurück zu schicken. Die Lage der aus Tschetschenien Vertriebenen wird zusätzlich dadurch erschwert, dass es keine Perspektive für eine politische Lösung des seit 1994 mit kurzer Unterbrechung andauernden Krieges gibt. Nur dank der Unterstützung internationaler humanitärer Organisationen hat sich die Versorgungslage für die Vertriebenen etwas verbessert. Dieser Zustand ist jedoch äußerst instabil. Die Ermordung des letzten frei gewählten tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow am 8. März 2005 läßt neue Gewalt befürchten.

Hintergrund und Gründe für die Flucht

Die große Zahl an Binnenvertriebenen in der Russischen Förderation (340.000) ist auf den seit zehn Jahren andauernden Krieg in der kleinen Teilrepublik Tschetschenien zurückzuführen. Während der Sowjetherrschaft war Tschetschenien eine der "autonomen" Republiken. Im Zuge der Perestroika erklärte sich Tschetschenien im November 1991 einseitig für unabhängig. Im Dezember 1994 marschierten russische Truppen in Tschetschenien ein. Die Auseinandersetzungen zwischen russischen Truppen und tschetschenischen Kämpfern, die die Unabhängigkeit ihrer Republik verteidigen wollten, endeten 1996, als im Ort Chasaw Jurt ein Vertrag unterzeichnet wurde, der den Rückzug der russischen Truppen vorsah. Eine Entscheidung über die weitere politische Zukunft Tschetscheniens wurde bis 2001 vertagt.

1999 marschierten erneut russische Soldaten in Tschetschenien ein. Die russische Luftwaffe belegte die Republik mit Flächenbombardements, welche die Hauptstadt Grosny in eine Trümmerwüste verwandelten. Alleine in Grosny sollen dabei etwa 40.000 Menschen umgekommen sein. Bis heute ist die Infrastruktur der Hauptstadt, aber auch des gesamten übrigen Landes weitgehend zerstört. Bombardierungen ziviler Ziele wie Krankenhäuser, Flüchtlingstrecks, Moscheen, Schulen und Marktplätze waren an der Tagesordnung. Auf diese erste "heiße" Phase des Krieges folgte eine Phase massiver "Säuberungen" tschetschenischer Dörfer und Städte durch russische Truppen. Dabei wurden unter dem Vorwand einer Passkontrolle Menschen willkürlich verhaftet und in so genannte Filtrationslager eingeliefert, wo sie systematisch gefoltert und häufig ermordet wurden. Parallel dazu

führten die tschetschenischen Kämpfer einen zermürbenden Guerillakrieg gegen die etwa 100.000-Mann starken in Tschetschenien stationierten russischen Einheiten.

Das "Verschwindenlassen" von Personen ist das häufigste Menschenrechtsverbrechen: Bis zu 8.000 Menschen sollen seit 1999 in Tschetschenien spurlos verschwunden sein, sagt die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in ihrem Report vom März 2005.

Während der ersten Phase des Krieges floh nahezu die Hälfte der tschetschenischen Zivilbevölkerung (etwa 400.000 Menschen) aus der Republik. Mittlerweile sollen nach Angaben der tschetschenischen Regierung 209.600 (Juni 2004) Flüchtlinge zurückgekehrt sein und in der Heimat als Binnenvertriebene leben. Dort finden sie zumeist Aufnahme in den so genannten temporären Aufnahmezentren. Dort ist die Sicherheitslage für die Vertriebenen sehr prekär, weil diese Zentren immer wieder Ziel von "Säuberungen" werden. So wurden am 5. Mai zwei junge Männer aus einem der Zentren in Grosny verschleppt. (Journalistenvereinigung SNO) Gleichzeitig gibt es eine Fluchtbewegung aus Tschetschenien heraus. Zivilisten versuchen z.B. in Kasachstan oder Westeuropa Aufnahme zu finden. So stellten im Jahr 2004 Bürger der russischen Föderation, d.h. insbesondere Tschetschenen laut UNHCR-Angaben die größte Flüchtlingsgruppe in den "entwickelten" Ländern (insb. Westeuropa). Während die Gesamtzahl der Flüchtlinge durchschnittlich um 22 % fiel, kamen 30.100 Flüchtlinge aus der Russischen Föderation, gefolgt von Flüchtlingen aus Serbien und Montenegro (UNHCR, 4.3.2005).

Die so genannte "Tschetschenisierung" des Konfliktes im Nordkaukasus hat zu weiterer Unsicherheit geführt, die sich negativ auf die Binnenvertriebenen auswirkt: Pro-russische Einheiten, geführt vom tschetschenischen Vize-Premier Ramzan Kadyrow sind mittlerweile nach Recherchen der Menschenrechtsorganisationen Memorial und International Helsinki Federation für 75% der Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Willkürliche Verhaftungen, Verschwindenlassen und extralegale Hinrichtungen sind an der Tagesordnung. Solche Menschenrechtsverletzungen werden auch aus den Nachbarrepubliken Tschetscheniens gemeldet, insbesondere aus Inguschetien aber zunehmend auch aus Dagestan, Karbadino-Balkarien, Karatschai-Tscherkessien und anderen Republiken. Auf der tschetschenischen Seite gibt es die radikalisierten Terroristen, die sich schwerster Terrorakte schuldig machen, und die Separatisten. Auch sie sind für Menschenrechtsverletzungen etwa für Morde, den Missbrauch von Zivilisten als menschliche Schutzschilde oder die von ihnen erzwungene Teilnahme am Kampf verantwortlich. Die Ausweitung des Krieges auf die Nachbarrepubliken verschlechtert die dortige Sicherheitslage und verstärkt Gewalt und Spannungen zwischen den einzelnen ethnischen Gruppen im Nordkaukasus.

Zahlen:

Binnenvertriebene in der Russischen Förderation: 340.000 (Dez. 2004 Schätzung Global IDP Project), Gesamtbevölkerung Russische Förderation 148 Millionen

Binnenvertriebene aus Tschetschenien in Inguschetien Febr. 2005: 33.650 (UNHCR und Danish Refugee Council), Gesamtbevölkerung Inguschetien 350.000

Binnenvertriebene in Tschetschenien (Juni 2004): 209.600 (tschetschenische Regierung), Gesamtbevölkerung in Tschetschenien circa 600.000 (Schätzung Memorial Nasran)

 

Kurze Chronologie: Gewalt in Tschetschenien und Nachbarrepubliken:

5.10. 2003: Achmed Kadyrow wird in manipulierten Wahlen zum tschetschenischen Präsidenten gewählt.

9.5.2004: Achmed Kadyrow fällt einem Anschlag zum Opfer.

21.-22. 6. 2004: Tschetschenische Kämpfer greifen Einrichtungen von Polizei und Militär in Inguschetien an, 98 Opfer.

29.8.2004: Alu Alchanov, der einzige von der russischen Regierung unterstützte Kandidat, wird in manipulierten Wahlen zum Präsidenten Tschetscheniens gewählt.

1.-3.9.2004: 1.000 Schulkinder in Beslan, Nordossetien werden als Geiseln genommen, 350 Kinder kommen beim Sturm auf die Schule ums Leben.

Dez. 2004 Rebellen greifen russische Verwaltungsgebäude in Naltschik, Hauptstadt von Karbadino-Balkarien, an.

Jan. 2005: Offensive von pro-russischen tschetschenischen Truppen gegen Kämpfer in Dagestan.

8.3.2005: Der letzte frei gewählte tschetschenische Präsident Aslan Maschadov wird durch russische Spezialkräfte getötet.

Humanitäre Lage der Binnenvertriebenen:

Die meisten Haushalte von Vertriebenen in Tschetschenien und Inguschetien sind von ausländischer humanitärer Hilfe abhängig. Mehr als die Hälfte der tschetschenischen Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. 90% der Binnenvertriebenen sind arbeitslos. Die Menschen sind sehr viel häufiger krank als im gesamtrussischen Durchschnitt. Tuberkulose und HIV/AIDS sind die dringensten Probleme. Mitarbeiter der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" sind im März 2005 nach Grosny zurückgekehrt, um dort die Flüchtlinge zu versorgen. In einer Stellungnahme vom 18.4.2005 berichtet einer der Ärzte: "Die Patienten sind in einem katastrophalen Zustand. Ihre Lebensbedingungen sind schlechter als die der Flüchtlinge vor zwei Jahren in Inguschetien. Bei meinem Besuch konnte ich mich davon überzeugen, dass keinerlei angemessene Vorbereitungen für die Flüchtlinge getroffen wurden, die nach Tschetschenien zurück gezwungen wurden." Nach Angaben der anerkannten russischen Menschenrechtsorganisation Memorial besucht eine große Anzahl der Kinder, die als Binnenvertriebene in Auffangzentren in Tschetschenien lebt, nicht die Schule. In Inguschetien leben 35% der Binnenvertriebenen noch immer in so genannten "Spontanunterkünften", wie zum Beispiel verlassenen Fabrikgebäuden, ehemaligen Ställen oder Eisenbahnwaggons. In Tschetschenien selbst leben 35.000 der 209.000 Binnenvertriebenen in zentralen Auffangzentren, die massiv überfüllt und in denen die hygienischen Bedingungen katastrophal sind. Ein weiteres schwerwiegendes Problem in Tschetschenien sind Minen. Nach Angaben von UNICEF wurden seit Januar 2000 656 Menschen durch Minen verletzt, 66 starben bei Minenunfällen, die meisten davon waren Kinder. Laut UNICEF gibt es 40 (sic.) Tonnen Minen und Bomben in Tschetschenien, dies sei einer der höchsten Zahlen weltweit. Zwischen 1994 und 2004 wurden durch Minen in Tschetschenien 717 Kinder verletzt, 114 Kinder starben durch Minen. Die Binnenvertriebenen leiden unter der äußerst mangelhaften Gesundheitsversorgung insbesondere der Kinder. Nach Angaben, die Ärzte in Tschetschenien gesammelt und im April 2005 an die GfbV übermittelt haben, kommen in Tschetschenien auf 10.000 Kinder bis 14 Jahren 28,2 Kinderkrankenhausplätze, im russischen Durchschnitt dagegen 89,9, d.h. sieben Mal mehr. In Tschetschenien gibt es im Moment 157 Kinderärzte für 360.290 Kinder und Jugendliche bis 17 Jahren. In bestimmten Regionen Tschetscheniens, so zum Beispiel in Itum-Kali und in Scharoj, gibt es nicht einen einzigen Kinderarzt. Die UN geht nach Angaben von 2004 davon aus, dass 800.000 Personen im Nordkaukasus auf humanitäre Hilfe angewiesen sind.

 

Verfolgung von tschetschenischen Flüchtlingen in der Russischen Förderation

 

Die drei wichtigsten Dokumente: Pass, Registrierung, Anerkennung als Umsiedler

Alle Bürger der Russischen Föderation über 14 Jahre müssen einen internen Pass (vergleichbar Personalausweis) haben. Dieser dient als Beweis für ihre Identität und für ihre Staatszugehörigkeit.

Jeder Staatsbürger benötigt eine Registrierung an seinem permanenten Wohnort. Registrierungen werden als Stempel in den Pass eingetragen. Verlässt er diesen und hält sich länger als zehn Tage an einem anderen Ort auf, benötigt er eine temporäre Registrierung. Die Registrierungspflicht stammt noch aus dem Zarenreich. Damit sollte erreicht werden, dass die Bauern in ihren Dörfern blieben. In der Sowjetunion wurde das Registrierungssystem unter der Bezeichnung "Propiska" weitergeführt. Sie diente ähnlichen Zielen, namentlich dazu, die Abwanderung aus ärmlichen, ländlichen Regionen in die Städte einzuschränken. Sie gibt lokalen Behörden die Macht, einer Person Zugang zum örtlichen Arbeits- und Wohnungsmarkt, zu Gesundheitsversorgung, Schulen, Pensions- und Rentenkassen etc. zu gewähren oder zu verweigern. Schon 1996 schätzte der Europarat, dass in 30 von 89 Verwaltungsgebieten der Russischen Förderation illegale Ausführungsbestimmungen zum Registrierungsgesetz in Kraft waren. (COE: Report: The Propiska System Applied to Migrants, Asylum Seekers and Refugees in Council of Europe Member States, Oct. 2001: II 1.4.). Es existiert demnach ekine Wohnsitzfreiheit. Moskau, St. Petersburg, Woronesch und etliche andere Städte und Regionen (s.o.) haben solche Zusatzbestimmungen, die im Moment besonders gegen Flüchtlinge aus Tschetschenien und anderen Kaukasusrepubliken bzw. -staaten eingesetzt werden.

Dabei benötigen Binnenflüchtlinge noch weit mehr Unterstützung als andere Staatsbürger. Als die Sowjetunion zerbrach, befand sich etwa ein Fünftel der russischen Bürger auf nichtrussischem Territorium. Sie arbeiteten in anderen ehemaligen Regionen der Sowjetunion bzw. des Warschauer Paktes. Im Februar 1993 ratifizierte Russland die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. Wenige Monate später verankerte die russische Regierung die Grundbestimmungen dieser Konvention auch in den nationalen Gesetzen. Im selben Jahr verabschiedete das Parlament das Gesetz über den Zwangsumsiedlerstatus. Dieses soll den Status von Vertrieben mit russischer Staatsangehörigkeit klären. Dieses Gesetz drückt die Verantwortung der russischen Regierung für ethnische Russen, die aus anderen Sowjetrepubliken zurückkehrten, aus. Das Gesetz über die Zwangsumsiedler bezieht sich auf Personen, die entweder eine internationale Grenze oder eine administrative Grenze innerhalb der Russischen Föderation überschritten haben. Es gilt nicht für Personen, die etwa innerhalb ihrer Republik, z.B. Tschetschenien vertrieben wurden. Davon betroffen sind die mindestens 150.000 Tschetschenen, deren Häuser und Wohnungen in Tschetschenien seit 1999 zerstört wurden.

Zwischen 1994 und 1996 als etwa 450.000 Tschetschenen aus ihrer Republik flohen, bekamen trotz der eng gefassten Definition des Status` 162.000 Flüchtlinge aus Tschetschenien den Umsiedlerstatus. Seitdem wurde die Auslegung des Gesetzes jedoch verändert. Obwohl nahezu genauso viele Menschen Tschetschenien verlassen mussten, bekamen nur etwa 13.000 diesen Status zuerkannt. Einerseits lässt sich dies dadurch erklären, dass von der ersten Fluchtwelle auch sehr viele ethnische Russen betroffen waren. Andererseits sind die Behörden seit 1999 dazu übergegangen, zu sagen, dass Menschenrechtverletzungen bzw. Verletzungen der öffentlichen Ordnung von Seiten russischer Einheiten kein Grund für die Zuerkennung des Status seien. Die russischen Einheiten seien ja nach Tschetschenien kommandiert worden, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Nur Verbrechen von tschetschenischer Seite werden als Flucht- und Anerkennungsgründe akzeptiert. Zusätzlich hat sich die demographische Zusammensetzung der Flüchtlinge verändert. Während zur Zeit des ersten Krieges noch viele ethnische Russen flohen, kam diese Gruppe seit 1999 praktisch überhaupt nicht mehr vor. Die Vorsitzende der Organisation "Bürgerhilfe", Svetlana Gannushkina, betonte, dass trotzdem ein Großteil der 13.000 Personen, die seit 1999 den Status erhielten, ethnische Russen seien.

Was nutzt der Status überhaupt? Auf den kleinsten Nenner gebracht, drückt die Anerkennung als Umsiedler aus, dass der Staat seine Verantwortung gegenüber dem vertriebenen Bürger anerkennt. Den anerkannten Umsiedlern wird das Recht zuerkannt, nicht an ihren Herkunftsort zurückgeschickt zu werden und fundamentale wirtschaftliche sowie soziale Leistungen beanspruchen zu können. Die russischen und lokalen Behörden verhalten sich jedoch in vielen Regionen den tschetschenischen Binnenflüchtlingen so als hätten sie keinerlei Rechte, sondern halten sie in einem rechtsfreien Raum und diskriminieren sie.

Verweigerung des Passes

Im November 1999 kurz nach dem Beginn des zweiten Krieges in Tschetschenien wies das russische Innenministerium alle regionalen Pass- und Visabehörden an, Tschetschenen weder Pässe zu verlängern noch neu auszustellen. (UNHCR: Paper on Asylum Seekers and Refugees from the Russian Federation in the Context of the Situation in Chechnya, Jan. 2002, S. 14). Im Frühjahr 2000 wurde diese Bestimmung gelockert, aber Tschetschenen haben bis heute massive Schwierigkeiten, außerhalb ihrer Republik Pässe zu bekommen. 2001 teilte das russische Innenministerium mit, die Passbehörde in Tschetschenien arbeite wieder normal. Da in Tschetschenien kein Krieg herrsche und sich die Lage stabilisiere bzw. normalisiere, gäbe es keinen Grund dafür, weshalb Tschetschenen ihre Passanträge nicht in ihrer eigenen Republik einreichten. Seitdem werden tschetschenische Antragsteller in anderen Teilen der Föderation abgewiesen. Am 24. Mai 2003 hat das russische Innenministerium per Order 347 bestimmt, dass die Bürger ihre alten Sowjetischen Pässe gegen neue Pässen austauschen sollten und zwar dort, wo sie registriert sind. Für viele der Binnenflüchtlinge entsteht ein Dilemma. Geld für die Heimreise und die notwendige Bestechung haben sie nicht, können aber auch nicht riskieren, ohne gültige Papiere aufgegriffen zu werden. Selbst wenn sie sicher in Tschetschenien ankommen sollten, können sie die Passgebühren nicht zahlen. Nach neuesten Informationen aus Tschetschenien können Pässe bis zu 1.500 Euro kosten.

Verweigerung der Registrierung

Laut UNHCR ist es für Tschetschenen in vielen Regionen der Russischen Föderation fast unmöglich, eine Registrierung zu erhalten. Ohne Pass und ohne Registrierung werden sie auch nicht als Zwangsumsiedler anerkannt. So können sie keine legale Beschäftigung finden, sind nicht befugt, Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, haben keine Möglichkeit, ihre Rechte vor Gericht zu erstreiten und sind folglich in ihrem wirtschaftlichen und physischen Überleben gleichzeitig bedroht. In vielen Regionen und Städten gilt: ohne Pass keine Registrierung und ohne Registrierung keinen Pass. Die bürokratischen Hürden auf den Ebenen der Föderation, der lokalen und regionalen Verwaltung und natürlich die vielfach belegte individuelle Schikane durch Verwaltungsangestellte, haben die tschetschenischen Binnenflüchtlinge in einen rechtsfreien Raum befördert. Vor dem Hintergrund der andauernden täglichen Gewalt ist die Diskriminierung der tschetschenischen Binnenflüchtlinge in den Regionen Russlands nicht nur eine Verletzung ihrer Menschenrechte, die in Artikel 27 der Russischen Verfassung und etlichen internationalen Konventionen, die von Russland ratifiziert wurden, festgelegt sind, sondern eine Bedrohung ihrer physischen Sicherheit.

Moskaus Migrationspolitik

Obwohl für alle Föderationssubjekte einheitliche Regelungen gelten, legen die unterschiedlichen Städte und Regionen diese unterschiedlich aus und erweitern sie um Zusätze, die ihren Zielen dienen sollen. Der "Moskauer Migrationsdienst", die zentrale Moskauer Behörde für Flüchtlingsfragen, setzt sich ganz offen eine Beschränkung der Zuwanderung und die Verkleinerung der Bevölkerungszahl der russischen Hauptstadt zum Ziel. Das Arbeitsprogramm der Behörde für 2002-2004 beginnt mit folgender Aufschlüsselung:

"Das Außmaß der illegalen Migration hat sich nicht verringert. Dies führt zu einer ernsthaften Bedrohung der wirtschaftlichen und sozialen Sicherheit. Die Zahl der Personen, die wegen einer Verletzung der Pass- und Registrierungsregeln verhaftet wurde, beträgt 2,1 Millionen, davon sind 998.600 Bürger der GUS. Die Anzahl der Personen, die sich illegal in Moskau aufhalten, beträgt 600.000-800.000, davon kommen 100.000 bis 150.000 aus dem fernen Ausland, hauptsächlich aus Afghanistan, Afrika und Südostasien."

Seit dem Krieg in Tschetschenien 1994-1996 haben Moskauer Behörden und Politiker eine Verbindung zwischen der tschetschenischen Bevölkerung Moskaus und der Sicherheitslage in der Stadt hergestellt. Begonnen hat diese Entwicklung mit den Bombenanschlägen auf Wohnhäuser 1999. Im August 2000 folgten Bombenanschläge in einer Metrounterführung. Im Oktober 2002 wurden im Musical Theater Nord-Ost Geiseln genommen. Ein Selbstmordanschlag bei einem Rockkonzert im Juli 2003 tötete vor allem junge Menschen. Im Februar und August 2004 kam es erneut zu Explosionen in Metrostationen. Systematisch nach solchen Verbrechen haben der Moskauer Bürgermeister Jurij Luschkow, Geheimdienstchefs aber auch Vertreter der lokalen Behörden in Moskau lebende Tschetschenen für die Taten verantwortlich gemacht. Nach den Explosionen in Wohnhäusern 1999 zum Beispiel gelobte Luschkow die gesamte "Tschetschenische Diaspora" aus der Stadt zu entfernen (Amnesty International 1999: For the Motherland, III.ii). In den folgenden Wochen verhaftete die Polizei 6.000 Tschetschenen (Pilkerton, H 1998: Displacement, Identity in Post Soviet Russia, 93). Während der Vorbereitungen auf die 750 Jahrfeier Moskaus im Mai 1997 hat Luschkow den Moskauer Migrationsdienst angewiesen "Flüchtlinge und Vertriebene" aus der Stadt zu entfernen (Human Rights Watch, 1997, I). Nach den Bombenanschlägen auf Wohnblocks 1999 wurden 20.000 Tschetschenen verhaftet und Tausende der Stadt verwiesen. (USCR 2000:V, Amnesty 1999 III).

Verweigerung der Ausstellung von Dokumenten in Moskau

Umfassend dokumentiert (siehe. u.a. Stellungsnahme der GfbV vom Juli 2004) sind Fälle, in denen die Ausstellung der notwendigen Papiere an Binnenflüchtlinge aus Tschetschenien in Moskau verweigert wurde. Ohne Pass und ohne Registrierung sind die Flüchtlinge vom legalen Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Arbeitgeber, die das Risiko auf sich nehmen, Arbeiter ohne diese Papiere zu beschäftigen, nutzen deren Situation häufig aus, indem sie sie länger und für ein geringeres Gehalt arbeiten lassen. Zusätzlich kann Kindern Nichtregistrierter der Schulbesuch verweigert werden. Der Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem wird behindert, obwohl dieser in Art. 41 der Verfassung garantiert ist. Die Auszahlung von Pensionen und Invalidenrenten hängt von der Registrierung ab, genauso wie das Wahlrecht. Tschetschenen konnten sich nicht auf die Wählerlisten eintragen lassen und wurden so vom politischen Prozess ausgeschlossen. Vonseiten der Politik (Moskauer Bürgermeister Luschkow), der Verwaltung (Moskauer Migrationsdienst), der ausführenden Organe (Miliz und Polizei, Schulen, Gesundheitsämter, Krankenhäuser etc.) aber auch von Einzelpersonen, die dort arbeiten, wird tschetschenischen Binnenflüchtlingen signalisiert, dass sie keine Rechte haben und dass sie zurückkehren sollten nach Tschetschenien.

Diese Konstellationen sind nicht nur aus Moskau bekannt geworden. Tatsächlich sind die meisten anderen Städte ethnisch homogener zusammengesetzt als Moskau. Dies macht sie zu einem noch geeigneteren Nährboden für Fremdenfeindlichkeit und Anti-Tschetschenische Propaganda. Menschenrechtler verschiedener Organisationen, darunter der Moskauer Helsinki Gruppe, stellten bei einer Pressekonferenz im April 2005 in Moskau mehrere Fälle von Übergriffen vor. So wurde beispielsweise von einem Vorfall in Twer vom Februar 2005 berichtet, wo ein Einwohner einen Milizangehörigen mit dem Auto überholte und dabei schnitt. Anstatt den Autofahrer anzuzeigen, begaben sich mehrere Angehörige der Miliz am 5. Februar in das Dorf Rozhdestveno (Nahe Twer), wo sich viele Menschen zu einem Schuljubiläum im Dorfclub versammelt hatten. Als sie den Autofahrer nicht fanden, prügelten sie willkürlich auf andere Besucher ein. Die Menschenrechtler berichteten auch über den Fall des Armeniers Meruzhan Avagimijan. Als er mit seiner Frau Nasiba zu dem besagten Dorfclub fuhr, wurde er von Milizionären in Zivil aufgehalten, sie durchsuchten seinen Wagen und fragten nach seiner Nationalität. Als sie herausfanden, dass er Armenier ist, schleiften sie die Frau Nasiba zum Club. Dort schlug sie einer der Milizionäre so, dass sie mit ihrem Kopf auf einem Heizkörper aufprallte und eine Gehirnerschütterung erlitt. Als man sie aus dem Club trug, war sie bewußtlos. Ähnliche Fälle beschrieben die Menschenrechtler aus der Region Tabor (Sverdlovsk) und aus Nefteyugansk (Chanti-Mansinksk). Die Leiterin der Moskauer Helsinki Gruppe kommentierte: "Die Milizionäre verhalten sich wie Faschisten in einem besetzten Land". (Bericht auf der Internetseite www.prima-news.ru)

Tägliche Schikanen

Binnenvertriebene aus Tschetschenien aber auch andere Kaukasier werden in Moskau, St. Petersburg, Nischny Novgorod und weiteren Städten systematisch von den Milizionären kontrolliert. Seit September 1999 hat die Polizeikontrolle über die Tschetschenen praktisch in allen Regionen der Russischen Föderation systematischen Charakter angenommen. Polizei und Steuerfahnder durchsuchen planmäßig Geschäfte und Firmen, die im Besitz von Tschetschenen sind. Die Konfiszierung von Unterlagen, Drohungen an die Adresse von Handelspartnern etc. haben viele kleine und mittlere Betriebe in Bedrängnis gebracht, etliche mussten schließen. Polizeiliche Untersuchungen gehen häufig mit Schlägen und anderen Schikanen einher.

Unterschieben krimineller Handlungen

Systematisch werden Tschetschenen, die bei routinemäßigen Polizeikontrollen aufgegriffen werden, kriminelle Handlungen unterstellt. Es gibt Anzeichen dafür, dass es sich hier um eine gezielte Kampagne handelt. So liegen aus der Zeit vor Juli 1999 und der Zeit zwischen November 1999 und März 2000 keine Klagen über falsche Beschuldigungen vor. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Tatsache, dass in einigen der dokumentierten Fälle Offiziere der Sondereinheit für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität (RUBOB) beteiligt waren und dass fast alle Personen, denen kriminelle Taten untergeschoben wurden, zum ersten Mal überhaupt mit der Polizei zu tun hatten. Zudem stammen die meisten der Beschuldigten aus gesicherten Verhältnissen, sind nie als drogenabhängig oder den tschetschenischen Kämpfern / Terroristen zugehörig aufgefallen. Dies sind die häufigsten Unterstellungen. Den Betroffenen werden Päckchen mit Drogen bzw. Waffen oder Sprengstoff zugesteckt. Häufig kommt es zu offenen Widersprüchen: z.B. werden jemandem Drogen untergeschoben, der freiwillig zu einer Polizeiwache geht oder erst beim zweiten oder dritten Kontakt mit der Polizei tauchen auf einmal Waffen auf. Den systematischen Charakter belegen Informationen tschetschenischer Nichtregierungsorganisationen und von Dumaabgeordneten. Diese gehen von mehreren hundert solcher Fälle aus. Allein 2000 haben die Organisationen Memorial und "Bürgerhilfe" mehr als 20 solcher Fälle dokumentieren können. Ein aktueller Fall ist der der jungen Studentin Zara Murtazalieva, die, im September 2003 nach Moskau kam, um ihre aus Tschetschenien geflüchtete Familie finanziell zu unterstützen. Sie fand in der russischen Hauptstadt eine Arbeitsstelle. Im Dezember 2003 wurde sie von Polizisten im Rahmen einer Routineüberprüfung zu einer Polizeiwache gebracht. Dort lernte sie den Polizeioffizier Said Achmaew, einen ethnischen Tschetschenen, kennen. Wenige Tage später besuchte Achmaew sie bei ihrer Arbeitsstelle. Er bot ihr eine Wohnung an, in die sie kurz darauf mit ihren russischen Freundinnen Anna Kulikowa und Darya Woronowa einzog. Die Wohnung wurde ständig per Videokamera überwacht. Am 4. März 2003 wurde Zara Murtazaliewa wieder von der Polizei zu einem Büro der Innenbehörde gebracht, wo ihre Papiere kontrolliert und ihre Fingerabdrücke genommen wurden. Dann wurde sie aufgefordert, im Bad die Hände zu waschen. Ihre Tasche ließ sie im Raum stehen. Als sie zurückkam, förderten die Polizisten plötzlich Plastiksprengstoff aus ihrer Handtasche zutage. Auf dieser Grundlage wurde sie verhaftet. Ein Strafverfahren wurde gegen sie eingeleitet. Das Beweismaterial wurde zerstört. Als die Räume der drei jungen Frauen durchsucht wurden, fand man nur einige Fotos, die die Frauen auf der Rolltreppe des Kaufhauses "Ochotny Riad" zeigen. Diese Fotos sollen laut Staatsanwaltschaft beweisen, dass sie hier ein Bombenattentat planten. Aufgrund solch fadenscheiniger Beweise wurde Zara Murtazalieva von einem Moskauer Gericht zu sieben Jahren Haft verurteilt. In der nächst höheren Instanz wurde das Urteil im März 2005 bestätigt.

Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Russland

Die amerikanische Professorin, Anna Brodsky, hat in einer Untersuchung, die in der März 2005 Ausgabe der anerkannten russischen Zeitschrift "Neue Literaturrundschau" (Novoye literaturnoye obozreniye) erschien, belegt, dass russische Schriftsteller Bilder und Motive, die in antisemitischen Schriften der Nationalsozialisten auftauchen, heute verwenden, um Tschetschenen zu dämonisieren und ihrer menschlichen Züge zu berauben.

"Die am häufigsten auftretende antisemitische Stereotype ist der Mythos der wirtschaftlichen Dominanz einer unermesslich reichen nationalen Minderheit”, schreibt die US-Professorin.

Hinzukommt die Vorstellung dass Juden und Tschetschenen Ritualmorde von Außenseitern als Teil ihrer nationalen Traditionen verüben.

Rassenhass und Gewalt haben sich in der Russischen Föderation massiv verstärkt. Allein 2004 zählte die Polizei der Föderation mindestens 8.500 fremdenfeindliche Gewalttaten; darunter verdoppelte sich die Zahl der Morde mit fremdenfeindlichen Hintergrund von 2003 bis 2004 auf 44. Betroffen sind neben Juden, Meschketen, sexuelle Minderheiten und Ausländer im Allgemeinen Personen aus dem Kaukasus. In seinem Bericht über die Menschenrechtslage in Russland schreibt der Menschenrechtskommissar des Europarates Alvaro Gil Robles im April 2005, die erste Welle des Rassismus habe gezielt Tschetschenen, die in verschiedenen Regionen der Föderation lebten, getroffen. Viele von ihnen seien aus ihren ehemaligen Wohngebieten vertrieben worden. Fernsehsendungen und Presseartikel würden die Gesamtheit der Tschetschenen mit Terroristen gleichsetzen, auch wären verdächtige Formulierungen wie "Person kaukasischer Nationalität" in Anlehnung an "Person jüdischer Nationalität" wieder salonfähig. Anti-muslimische Graffiti mit faschistischen Symbolen tauchten in der gesamten Föderation auf.

Der Krieg in Tschetschenien und damit einhergehende Menschenrechtsverletzungen weiten sich auf die Nachbarrepubliken aus

Die UN schätzt dass in den ersten acht Monaten des Jahres 2004 17.200 Binnenvertriebene aus Inguschetien nach Tschetschenien zurückgekehrt sind. Im gesamten Jahr 2003 lag diese Zahl bei 10.500. Die letzten drei Flüchtlingsstädte in Inguschetien wurden 2004 geschlossen. Trotzdem sollen sich noch 33.650 tschetschenische Flüchtlinge in Inguschetien aufhalten. Dort hat sich die Lage gerade im letzten Jahr, nach dem Übergriff tschetschenischer Kämpfer auf Polizei und Miliz in drei Städten in Inguschetien, massiv verschlechtert. Nach diesen Übergriffen wurden hunderte unschuldiger Flüchtlinge zeitweise festgenommen und auch misshandelt, es setzte eine weitere Fluchtbewegung ein. Teils gingen Flüchtlinge zurück nach Tschetschenien, teils versuchten sie in anderen Republiken bzw. im westlichen Ausland Aufnahme zu finden. Als dann bekannt wurde, dass an der Geiselnahme in einer Schule im nordossetischen Beslan etliche inguschische Terroristen beteiligt waren, nahmen die Spannungen auch zwischen Osseten und Inguschen zu. Diese waren schon 1992 gewaltsam zum Ausbruch gekommen. Die inguschetische Bevölkerung wurde damals aus dem Bezirk Prigorodny vertrieben. Gewaltsame Auseinandersetzungen kosteten etwa 600 Menschen das Leben. Während des ersten Krieges in Tschetschenien, 1994-1996 und erneut seit 1999 suchten hunderttausende Flüchtlinge aus Tschetschenien Zuflucht in Inguschetien. Seit der Wahl von Murat Zjazikow zum Präsidenten Inguschetiens im April 2002 hat sich die Lage in der Republik verschlechtert. Zjazikows wird vom russischen Präsidenten Wladimir Putin unterstützt, genießt aber wenig Rückhalt unter der inguschetischen Bevölkerung. Dies zeigte sich zuletzt am 30. April. Der Parlamentarier Musa Ozdoew rief zu einer Kundgebung in Nasran auf, bei der der Rücktritt Zjazikows wegen Korruption und Inkompetenz gefordert werden sollte. Der inguschetische Innenminister schrieb Ozdoew am 26. April, er solle die Proteste absagen, da sie Ziel von Terroristen werden könnten, und dann er, Ozdoew, die Verantwortung für eventuelle Opfer tragen müsse. Die Regierung verbreitete unter Ozdoews Namen gefälschte Flugblätter, auf denen zusätzlich der gewaltsame Sturz Zjazikows und der Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien gefordert werden. Am 30. April blockierten über 1.000 Polizisten und Armeeangehörige die Straßen und Plätze von Nasran. Busse mit potentiellen Demonstranten wurden gestoppt und zurückgeschickt. Trotzdem gelang es einer unbekannten Anzahl an Protestierern, sich in Nasran zu versammeln. Kaum hatte Ozdoew einige Worte gesprochen, wurde die Demonstration von Polizei mit Schlagstöcken aufgelöst und Ozdoew verhaftet. (Radio Free Europe / Radio Liberty), 1.5.2005) Es liegen zudem Erkenntnisse über die systematische Anwendung der Folter in inguschetischen Gefängnissen vor. Der Häftling Gireyew, dem der Versuch, den inguschetischen Präsidenten zu ermorden, unterstellt wurde, berichtete davon, dass ihm Zehen- und Fingernägel ausgerissen und seine Kniescheiben mit dem Hammer zertrümmert worden seien. (Internetseite: www.ingushetiya.ru)

Seit der Wahl Zjazikows werden regelmäßig Menschenrechtsverletzungen aus Inguschetien gegen die tschetschenischen Flüchtlinge aber auch gegen die eigene Bevölkerung bekannt. Die Büros von Menschenrechtsorganisationen werden regelmäßig durchsucht, so zum Beispiel am 14. Dezember 2004 das Büro der unabhängigen Journalistenvereinigung SNO. Die anerkannte tschetschenische Menschenrechtsorganisation "Komitee zur Nationalen Rettung" (Vorsitzender Ruslan Badalov) wurde mehrmals verklagt mit Ziel, die Organisation lahm zu legen. 17 Ärztinnen wurden vom russischen Geheimdienst zur Fahndung ausgeschrieben, weil sie angeblich Terroristinnen seien. Fahndungsfotos tauchten erstmals im Frühling 2004 auf. Eine Untersuchung ergab, dass die Frauen fälschlicherweise verdächtigt wurden. Am 9. September 2004 jedoch, kurz nach der Geiselnahme in einer Schule in Beslan (Nordossetien), tauchten die gleichen Fahndungsplakate wieder auf. Obwohl mehrere internationale Organisationen gegen diese Aktion des russischen und inguschetischen Geheimdienstes protestierten, wurde die Fahndung aufrecht erhalten.

Vor Wahlen oder anderen wichtigen Ereignissen wurden immer wieder Internetportale in Inguschetien geschlossen. Organisationen wie Memorial in Nasran berichten von systematischen Störungen ihrer Arbeit durch Stromausfälle und die Manipulation der Internetzugänge. Im Juli 2004 schreibt die deutsche Journalistin Andrea Strunk nach einem Besuch in Inguschetien "Inguschetien ist als Nachbarrepublik Tschetscheniens Teil einer Sperr- und Todeszone, in der Abstände nicht nach Kilometern gemessen werden, sondern nach der Anzahl der Checkpoints, die man durchfahren muss. (…) In dieser Zone gibt es kein Recht auf Unversehrtheit. Entführungen haben eine lange Tradition." (Freitag, 2.7.2004)

Aber auch in den weiteren Republiken, Dagestan, Ossetien, Karatscho-Tscherkessien, Karbadino-Balkarien gleicht sich die Lage derjenigen in Tschetschenien an. Vom 10.-14. Dezember 2004 kam es sogar in der in Zentralrussland gelegenen Republik Baschkirien zum Ausbruch von Gewalt. OMON-Spezialkräfte nahmen hunderte Einwohner der Republik fest, misshandelten sie und vergewaltigten viele Frauen. Das Innenministerium der Republik nannte dieses Vorgehen eine Präventivmaßnahme im Kampf gegen die organisierte Kriminalität. OMON Kräfte, die in Tschetschenien gedient hatten, waren an diesen Verbrechen beteiligt. Die Ereignisse in Baschkirien sind deshalb so besorgniserregend, weil die Republik sich nicht am Rand der Russischen Föderation, sondern an der Wolga befindet. Sie hat eine muslimische Bevölkerungsmehrheit, die sich mehrheitlich aus Tataren und Baschkiren zusammensetzt.

Östlich von Tschetschenien, in der Republik Dagestan, spitzte sich die Lage Anfang Januar 2005 nach mehreren Mordanschlägen auf Polizeioffiziere und andere Staatsangestellte zu. Bei Razzien in der gesamten Republik und besonders in der Hauptstadt Machatschkala und im Gebiet Chasawjurt an der Grenze zu Tschetschenien sollen mehrere hundert Personen festgenommen worden sein. Die Grenzen zwischen Kriminalität und politisch motivierten Guerillaaktivitäten scheinen sich dabei immer stärker zu verwischen. "Kriminelle Gruppen, nationalistische Rebellen, fanatische Terroristen und Sicherheitskräfte sind in einem feinmaschigen Netz aus wechselnden Allianzen, Intrigen und offenen Konflikten gleichermaßen gefangen", schreibt die NZZ am 13.1.2005. Am 5.4.2005 kamen zwei mutmaßliche Guerillakämpfer und ein kleines Kind bei einer Militäraktion, die von tschetschenischen und dagestanischen Sicherheitskräften gemeinsam in der Stadt Chasaw Jurt durchgeführt wurde, ums Leben. Drei weitere mutmaßliche Guerillakämpfer wurden bei einer Militäroperation am 20. 4.2005 im Dorf Batasch getötet. (www.watchdog.cz)

Während des einseitigen Waffenstillstands der tschetschenischen Kämpfer zwischen dem 2. und 23. Februar 2005 nahmen die Kampfhandlungen in der Republik selbst ab, Russland konzentrierte sich auf Angriffe gegen mutmaßliche Terroristen in den Nachbarrepubliken. Beobachter vergleichen die Einsätze der russischen Sonderkommandos mit der Taktik der israelischen Armee in den Palästinensergebieten. Einzelne Häuser oder Wohnblocks werden mit Raketen beschossen, Soldaten stürmen Wohnungen und walzen danach mit Panzern ganze Häuser nieder. In den Februarwochen 2005 wurden solche Einsätze in Naltschik, der Hauptstadt von Karbadino-Balkarien, und in Karachayevsk, einer Stadt in Karatscho-Tscherkessien, durchgeführt. Auch in Dagestan wurde ein Haus, in dem Terroristen vermutet wurden, stundenlang unter Beschuss genommen. Am 28. April fand in der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala eine Demonstration mit mehr als 150 Teilnehmern statt. Gefordert wurde die Freilassung der Brüder Magomed und Gazimagomed Gairbekow, die am 3. November festgenommen worden waren. Nicht nur der Krieg in Tschetschenien ist die Ursache für die Unzufriedenheit der Bevölkerung, die den Nährboden für vermehrte Gewalt liefert. Die hohe Arbeitslosigkeit, schlechte Wirtschaftlage, Korruption und autoritäre Politik sind weitere Faktoren. In den Republiken regieren ausschließlich Marionetten des Kreml, die von der Bevölkerung weder anerkannt werden noch in ihr verankert sind. In Karbadino-Balkarien zum Beispiel herrscht eine autoritäre Regierung. Der lokale Ableger des russischen Geheimdienstes ist allgegenwärtig. Die Opposition wird unterdrückt und werden Moscheen geschlossen. Diese Faktoren begünstigen gerade vor dem Hintergrund des Tschetschenienkrieges das Entstehen einer islamistischen Bewegung. Am 28. April wurde dort, so meldet die russische RIA-Nachrichtenagentur, der Führer des Dschaamat "Jamuk" (islamische Gemeinschaft) Rustam Bekanov erschossen. Zuvor waren in Naltschik vier muslimische Kämpfer erschossen worden seien, zwei wurden festgenommen. Desweiteren kam ein Milizionär um, der ein Auto angehalten hatte. Die Insassen des Fahrzeugs waren bewaffnet und eröffneten das Feuer. Dies ist nur eine von vielen Meldungen, die deutlich macht, wie sehr sich die Sicherheitslage in Karbadino-Balkarien verschlechtert hat. Im mehrheitlich christlichen Nordossetien wurde am 2.2.2005 Yermak Tegaev, der Leiter des Islamischen Kulturzentrums in Wladikawkaz und ein offener Regierungskritiker vom lokalen FSB (Geheimdienst) verhaftet. Dieses harte Vorgehen in den nordkaukasischen Republiken ist ganz in Putins Sinn. Er lobte den zuständigen Innenminister Raschid Nurgaliev wegen der Militäroperationen in Naltschik und sagte am 22. Februar 2005: "Sie müssen mit dieser Arbeit fortfahren, seien sie härter mit ihnen, seien sie härter!" Nurgaliev kündigte weitere Operationen in Dagestan und Inguschetien an. (www.russland-news.de)

 

Fazit:

Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) kommt nach der Prüfung einer ganzen Reihe von Fällen zu dem Schluss, dass tschetschenischen Flüchtlingen bei einer Rückführung in die Russische Föderation keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht. Aufgrund der vielfältigen Repressionen gegen Tschetschenen in ihrer Gesamtheit in der Russischen Föderation, sehen viele der Flüchtlinge, keine andere Möglichkeit als wieder in ihre Heimatrepublik zurück zu kehren. Dort sind sie schutzlos der Willkür russischer und pro-russischer tschetschenischer Einheiten ausgeliefert. Der Krieg in Tschetschenien ist eine der Ursachen für die zunehmende Brutalisierung der russischen Gesellschaft, die sich in Übergriffen auf ethnische Minderheiten aber auch auf russische Zivilisten zeigt. Gerade in den tschetschenischen Nachbarrepubliken, wohin sich Tschetschenen geflüchtet haben, wenn sie in den anderen Teilen der Russischen Föderation keinen Unterschlupf fanden, steigen Kriminalität, religiöser Extremismus und polizeiliche Gegengewalt, die sich häufig auf die Tschetschenen konzentriert, weil sie als Ursache für die verschlechterte Situation betrachtet werden. Die Verfolgungsdichte ist je nach Stadt und je nach Republik unterschiedlich, es gibt jedoch nach Erkenntnissen der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) kein Gebiet, in dem Tschetschenen ohne massive Einschränkungen ihrer Grundrechte leben können. 60% aller Binnenvertriebenen leben in Tschetschenien, wahrscheinlich leben bis zu 80% aller Binnenvertriebenen im Nordkaukasus. Dass in Tschetschenien selbst die Sicherheitslage entgegen russischen Angaben katastrophal ist, zeigen in jüngster Zeit veröffentlichte Berichte internationaler Organisationen, z.B. Human Rights Watch: Worse than War: Disappearances in Chechnya – Crime against Humanity, April 2005, International Helsinki Federation: More of the Same:, April 2005, Bericht des Menschenrechtskommissars des Europarates Alvaro Gil Robles vom April 2005.

Quellen:

Informationen der Organisationen Memorial, Gesellschaft für Russisch-Tschetschenische Freundschaft, Amnesty International, Human Rights Watch, International Helsinki Federation, Pressetexte

Refugee Studies Centre, RSC Working Paper No 22, the Outside Inside: Chechen IDPs, Identity Documents and the Right to Free Movement in the Russian Federation, Kate Desormeau, März 2005, Global IDP Project, Resource Page Russia,

Norwegian Refugee Council: Russian Federation: government ignores ist obligations towards IDPs, 14. März 2005,

Bericht des Menschenrechtskommissars des Europarates, Alvaro Gil Robles vom April 2005 (www.coe.int)

Internetquellen: www.memo.ru, www.kavkaz.memo.ru, www.watchdog.cz, www.ecoi.net, www.prima-news.ru, www.chechentimes.org, www.ihf-hr.org, www.russland-news.de