09.06.2006

Über die Gräueltaten im Sudan

Elie Wiesel

Elie Wiesel

Der Sudan ist zum weltweiten Zentrum für menschlichen Schmerz, für Leiden und Todeskampf geworden. Dort wurde - und wird - ein Teil der Bevölkerung vom anderen dominierenden Teil Erniedrigungen, Hunger und Tod ausgesetzt. Ziemlich lange wusste die so genannte zivilisierte Welt darüber Bescheid und zog es vor wegzuschauen. Jetzt aber wissen die Menschen, was dort geschieht. Und sie haben keine Ausrede mehr für ihre Passivität, die an Gleichgültigkeit grenzt. Jene die - wie ihr, meine Freunde - Versuche machen, die Wände der allgemeinen Apathie zum Einsturz zu bringen, verdienen die Unterstützung und die Solidarität jedes Einzelnen.

Dieses Treffen wurde von einigen wichtigen Institutionen organisiert: Dem "Committee on Conscience" (Jerry Fowler) des U.S. Holocaust Memorial Museums, dem Graduate Center der City University von New York, dem American Jewish World Service (Ruth Messinger) und einigen anderen humanitären Organisationen.

Was mich betrifft – ich beteilige mich seit einigen Jahren an den Anstrengungen, sudanesischen Opfern zu helfen. Das war die direkte oder indirekte Folge einer Lesung anlässlich der Jahrtausendwende, die ich im Weißen Haus hielt. Ich sprach über die "Gefahren der Gleichgültigkeit". Nach meinen Abschlussworten stand im Publikum eine Frau auf und sagte: "Ich komme aus Ruanda". Sie fragte mich, wie ich die Gleichgültigkeit der internationalen Gemeinschaft angesichts der Massaker in Ruanda erklären könne. Ich wandte mich an den Präsidenten, der an meiner rechten Seite saß und meinte: "Herr Präsident, Sie können diese Frage sicher besser beantworten. Sie wissen so gut wie wir alle, dass die Tragödie von Ruanda, die 600.000 bis 800.000 Menschenleben gekostet hat, Leben von unschuldigen Männern, Frauen und Kindern, hätte verhindert werden können. Warum geschah das nicht?"

Seine Antwort war ehrlich und aufrichtig: "Es ist wahr, diese Tragödie hätte verhindert werden können. Darum war ich auch dort und habe mich persönlich und im Namen des amerikanischen Volkes entschuldigt. Aber ich verspreche Ihnen: So etwas wird nie wieder geschehen."

Am nächsten Tag empfing ich eine Delegation aus dem Sudan und Freunde des Sudan. Ein sudanesischer Flüchtlings-Bischof führte die Delegation an. Sie informierten mich darüber, dass zwei Millionen Sudanesen schon gestorben waren. Sie sagten: "Es ist jetzt Deine Aufgabe darüber zu wachen, dass sich das Versprechen des Präsidenten erfüllt. Er kann es halten, wenn er mithilft, den Völkermord im Sudan zu stoppen."

Diese brutale Tragödie geht noch immer weiter – jetzt im Sudan, in der Darfur-Region. Über den Horror, der sich dort abspielt, werden wir über das Fernsehen und über die Titelseiten einflussreicher Publikationen informiert. Parlamentarische Delegationen, Sonder-Gesandte und humanitäre Hilfsorganisationen schicken oder bringen uns Horror-Berichte direkt vom Schauplatz des Geschehens. Eine Million Menschen – junge und alte – wurde entwurzelt, wurde deportiert. Dutzende Frauen werden täglich vergewaltigt; Kinder sterben an Krankheiten, Hunger und Gewalt.

Wie kann ein Bürger, eine Bürgerin eines freien Landes dafür keine Aufmerksamkeit aufbringen? Wie kann irgendjemand, irgendwo darüber nicht entsetzt sein? Wie kann irgendein Mensch – ob religiös oder nicht – hier kein Mitgefühl haben? Und, vor allem, wie kann irgendjemand, der sich dessen bewusst ist, darüber schweigen?

Als Jude, der absolut nicht jedes Geschehen mit dem Holocaust vergleicht, fühle ich mich durch die Tragödie, die sich im Sudan abspielt, betroffen und herausgefordert. Wir müssen hier aktiv werden. Wie können wir Nicht-Juden angesichts des Leidens von Juden Gleichgültigkeit vorwerfen, wenn wir selbst gleichgültig bleiben gegenüber dem Leiden eines anderen Volkes?

Es ist in Kambodscha geschehen, dann im ehemaligen Jugoslawien, dann in Ruanda, und jetzt geschieht es im Sudan.

Asien, Europa, Afrika: Drei Kontinente wurden zu Gefängnissen, zu Schlachtfeldern und Friedhöfen für zahllose unschuldige, wehrlose Angehörige von Volksgruppen. Soll sich diese furchtbare Seuche denn immer weiter verbreiten dürfen?

"Lo taamod al dam réakha" ist ein biblisches Gebot. "Du sollst nicht untätig dabei stehen, wenn das Blut eines Mitmenschen vergossen wird." Das Wort, das hier verwendet wird, ist nicht "akhikha" : dein jüdischer Bruder, sondern "réakha": dein Mitmensch, ob er nun jüdisch oder nicht-jüdisch ist. Alle Menschen haben das Recht, in Würde und Hoffnung zu leben. Alle haben das Recht, ohne Angst und Schmerz zu leben.

Den Opfern im Sudan heute nicht zu Hilfe zu kommen, würde dem widersprechen, was ich von meinen Lehrern, meinen Vorfahren und Freunden gelernt habe, nämlich dass allein Gott allein ist: Seine Kreaturen müssen es nicht sein.

Was mich am meisten schmerzt und verletzt, ist die Gleichzeitigkeit, mit der die Dinge geschehen. Während wir hier sitzen und darüber diskutieren, wie wir sowohl als Einzelne als auch als Gemeinschaft moralisch handeln sollen, töten und sterben dort im Sudan, in Darfur und anderswo, Menschen.

Wenn sich die Opfer im Sudan vergessen und im Stich gelassen fühlen, wäre dies unser Fehler – und vielleicht auch unsere Schuld.

Deshalb müssen wir einschreiten.

Wenn wir das tun, werden sie und ihre Kinder uns dankbar sein. Und ebenso werden uns – durch sie - unsere eigenen Kinder dankbar sein.