20.04.2009

Türkei immer noch auf dem Weg nach Europa?

Neue Massenverhaftungen kurdischer Aktivisten

Kurdische Kinder (Quelle:GfbV)

Vor dem Hintergrund neuer Massenverhaftungen von über 200 Aktivisten der prokurdischen Partei DTP (Demokratik Toplum Partisi) diskutierten am Freitagabend auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung und des Sprachenateliers Berlin 250 Personen über den zukünftigen Kurs der Türkei. Auf dem Podium sassen der Journalist Hasan Cemal (Milliyet), die Politikerin Sevahir Bayindir (DTP) und der Türkei-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, Kai Strittmatter.

Türkei am Scheideweg zwischen Demokratie und Repression

Cemal Hassan eröffnete die Debatte mit der Feststellung, dass sich die Türkei an einem Scheideweg befände: sie müsse zwischen Stabilität und Instabilität wählen, entscheidend sei die Rolle des Militärs. Bestandteil des "stabilen Wegs" müsse eine demokratische Lösung des Kurdenproblems sein; die jüngsten Razzien gegen die DTP brächten diese eher auf den Weg der PKK anstatt, wie erhofft, die PKK auf den friedlichen Weg der DTP zu bringen.

Sevahir Bayendir erklärte die Kurdenpolitik der Türkei mit der repressiven Staatsideologie einer einheitlichen türkischen Nation, die sie als "Krankheit der Türkei" und "Killer-Ideologie" bezeichnete. Dieser stehe die "kurdische Ideologie" des Rechts auf nationale Selbstbestimmung entgegen, die in der kurdischen Gesellschaft verwurzelt sei: Die DTP habe Stimmengewinne erzielt, obwohl die regierende AKP selbst Waschmaschinen verschenkt habe, um Stimmen zu kaufen!

Strittmatter definierte die Türkei als "Halbdemokratie" und sprach von einer verwirrenden Lage, in der sich die politische Situation befindet: Es gebe auf der einen Seite Anzeichen für eine Liberalisierung, so habe der Generalstabschef Basbug in einer Rede von den individuellen kulturellen Rechten der "Völker der Türkei" (also nicht nur des türkischen Volks) gesprochen. Die Türkei versuche eine Annäherung an Armenien und suche das Gespräch mit den Kurden im Nordirak. In den "Ergenekon"- Prozessen werde die Existenz des Gendarmeriegeheimdienstes JITEM, der für viele politische Morde verantwortlich sei, zum ersten Mal zugegeben. Auf der anderen Seite stehe das Verbotsverfahren gegen die DTP; eine Gesetzesänderung zur Abschaffung des Parteienverbots stehe nicht auf der Tagesordnung. Die politische Diskussion in der Türkei sei, verglichen mit Deutschland, in hohem Maße vom Kampf um Symbole geprägt: Kopftuch, Islam, Nation, Flagge, Identität. Eine Annäherung an die EU halte er für unwahrscheinlich, weil die Oppositionsparteien, an die die AKP Stimmen verloren hatte, noch EU-feindlicher seien. Deren Schwäche sei eines der größten Probleme. Notwendig sei eine "dritte Kraft".

Kurdenkonflikt muß politisch gelöst werden

In ihrer Antwort sagte Frau Bayendir, dass das Kurdenproblem mit der Gewährung individueller kultureller Rechte nicht zu lösen sei, es gehe um kollektive Rechte der Kurden als Nation. Auch die Aufdeckung staatlicher Gewalt in den "Ergenekon"-Prozessen sei unvollständig; Morde an kurdischen Politikern blieben nach wie vor ungesühnt. Die türkischen Oppositionsparteien und Teile der zivilgesellschaftlichen Organisationen seien genauso nationalistisch, die DTP trete hingegen dafür ein, dass alle Identitäten gelebt werden sollen, weil dies die Demokratie stärke. Sie fragte, warum in Hannover Bilder von Öcalan abgehängt würden. Von Europa erwarte die DTP ein Engagement wie das der Grünen Partei in den 90er Jahren gegen Lieferungen von Panzern an den türkischen Staat. Die Umstrukturierung der NATO bezeichnete sie als für die Kurden problematisch.

Hasan Cemal wies die Begriffe "Killer-Ideologie" und "Krankheit" für das staatlich propagierte Türkentum zurück: Mit solchen Äußerungen helfe die DTP dem Militär beim Machterhalt. Gewaltanwendung sei auch der PKK anzulasten, deren Politik genauso selbstkritisch diskutiert werden müsse. Eine Demokratisierung müsse auch die Türken einbeziehen. Er berief sich auf den irakisch-kurdischen Politiker Talabani, der den türkischen Kurden mehr Reife und Geduld empfehle.

Heftige Reaktionen des Publikums

In der anschließenden Diskussion stieß besonders diese Aufforderung Hassan Cemals auf Protest: Eine Diskutantin wies darauf hin, dass er der Enkel des Massenmörders Cemal Pasa sei: "Deshalb musst Du Dich bei den Armeniern entschuldigen, bei den Assyrern entschuldigen, für Zypern entschuldigen, Du musst Dich für alles entschuldigen!" - und die türkischen Intellektuellen hätten die Kurden nicht zu belehren! Hassan Cemal verwies auf seine Reisen nach Armenien, wo er am Denkmal für den Völkermord Blumen niedergelegt habe, die Bücher, die er darüber geschrieben habe und dass auch er als Journalist, der sich mit diesen Themen befasse, in der Türkei gefährlich lebe und bat seinerseits um eine Entschuldigung. Andere Fragesteller warfen der DTP vor, nur die Kurden zu vertreten; Frau Bayendir konterte mit dem Hinweis, dass 36% der DTP-Abgeordneten Frauen seien und die DTP die ersten weiblichen Bürgermeister in der Türkei gestellt habe. Dies zeige, dass die DTP auch für die Gleichstellung der Frau eintrete.

Trotz der heftigen Emotionen plädierte die Moderatorin von der Böll-Stiftung für einen Dialog über eine gemeinsame Zukunft. Nach drei Stunden Diskussion wurde der Dialog auf dem Flur des Abgeordnetenhauses angeregt weitergeführt.