11.03.2013

Türkei

Written Statement (deutsche Fassung)

Pressefreiheit in der Türkei

98 Journalisten sitzen nach Informationen der Gesellschaft für bedrohte Völker derzeit in türkischen Gefängnissen. Ihnen wird vorgeworfen, Umsturzversuche, die PKK oder andere terroristische Organisationen zu unterstützen bzw. Propaganda zu betreiben. Der Vorwurf staatsgefährdender Agitation wird von der Regierung in Ankara genutzt, um kritische Journalisten mundtot zu machen. Von einer unabhängigen Justiz kann in der Türkei nicht die Rede sein, denn in der Verfolgung von Journalisten arbeiten Regierung und Justiz Hand in Hand. Die Verfahren finden häufig vor Sondergerichten statt und sind juristisch höchst zweifelhaft. Beispielsweise werden Gefangene über lange Zeit in Untersuchungshaft gehalten. Oft erhalten weder Angehörige noch Anwälte Informationen über die Anklage oder Zugang zu den Akten. In einigen Fällen wurden vage formulierte Straftatbestände von regierungstreuen Richtern zu Lasten der Journalisten ausgelegt. Mehrfach wurde ein Staatsanwalt, der aufgrund der dünnen Beweislage von eine Anklage absehen wollte, abgelöst und durch einen anderen ersetzt, der das Verfahren dann im Sinne der Regierung weiterführte.

Dafür wurde die Türkei vielfach international kritisiert und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt.

Der Fall Pinar Selek - Soziologin und Schriftstellerin in der Türkei zu lebenslanger Haft verurteilt

"2006 wurde das Anti-Terror-Gesetz geändert und Propaganda für eine Terror-Organisation wurde so behandelt, als ob man tatsächlich Mitglied dieser Terror-Organisation wäre. Und was ist Propaganda? Zum Beispiel ist das dann der Fall, wenn man mit einem Mitglied einer illegalen Organisation ein Interview führt", sagt Ekrem Güzeldere, Politikwissenschaftler bei der Europäischen Stiftungs-Initiative, einem Forschungsinstitut mit Büro in Istanbul. So erging es auch der Soziologin Pinar Selek, die 1998 angeklagt wurde, nachdem sie soziologische Forschungen unter PKK-Kämpfern unternommen hatte. Seitdem wurde ihr Verfahren trotz fehlender Beweise immer wieder aufgerollt. Nach drei Freisprüchen wurde die Soziologin und Schriftstellerin, die heute in Frankreich lebt, im Januar 2013 zu lebenslanger Haft verurteilt. Ein Präzedenzfall der willkürlichen Justiz in der Türkei.

Anti-Terror-Gesetzgebung (2005) - Grundlage für die Verfolgung von Journalisten in der Türkei

Die Grundlage für die Verfolgung von Journalisten bildet das Anti-Terror-Gesetz, das 2005 in der Türkei eingeführt wurde. Die Artikel sechs und sieben des Gesetzes erklären das Drucken oder Ansagen von Propaganda im Namen einer terroristischen Organisation zum Verbrechen. Die Gesetzestexte lassen viel Freiraum für Interpretationen, zumal nicht festgelegt ist, was unter Propaganda zu verstehen ist. Das Gesetz sieht außerdem Sondergerichtsbarkeit für Terrorverfahren vor. Eine Reform des Anti-Terror-Gesetzes im Juli 2012 brachte kaum Verbesserungen. Sonderverfahren gegen Journalisten gibt es weiterhin – diese Verfahren werden nur anders genannt.

Diese restriktive Gesetzgebung der Türkei verbreitet eine Atmosphäre der Angst unter Medienvertretern. Viele üben deshalb heute Selbstzensur. Da viele Medien in der Türkei zu Konzernen gehören, die von Staatsaufträgen abhängig sind, sind den Journalisten die Hände gebunden. Liefern sie kritische Beiträge, müssen sie um ihren Arbeitsplatz fürchten.

Seit dem Ende der Militärdiktatur 1983 saßen nicht mehr so viele Journalisten in der Türkei im Gefängnis wie heute. Auf der Rangliste für Pressefreiheit 2011 landete die Türkei auf Platz 148 von 179. 2012 zählte die Organisation "Reporter ohne Grenzen" in der Türkei im weltweiten Vergleich die meisten inhaftierten Journalisten und Blogger.

Journalisten in der Türkei - Verurteilt wegen Mitgliedschaft oder Propaganda für "terroristische" Organisationen

Der häufigste Verurteilungsgrund für Journalisten in der Türkei ist die angebliche Mitgliedschaft bzw. Propaganda für eine der folgenden Organisationen: Ergenekon, Koma Civakên Kurdistan (Union der Gemeinschaften Kurdistans), PKK ("Arbeiterpartei Kurdistans", Partiya Karkerên Kurdistan), DHKP-C ("Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front"), Devrimci Karagah („Revolutionäres Hauptquartier“) und MLKP (Marksist Leninist Komünist Parti).

Doch nicht nur Journalisten sind von gezielter Verfolgung betroffen. Der türkische Staat versucht mit allen Mitteln, Andersdenkende daran zu hindern, in die Öffentlichkeit zu treten. Im Jahr 2012 sollen 6.000 Personen, darunter Bürgermeister, kommunale Abgeordnete, Anwälte und Bürgerrechtler, als vermeintliche Mitglieder terroristischer Organisationen verhaftet worden sein. Unter den Gefängnisinsassen befinden sich etwa 7.000 Kurden, denen Verbindungen zu "terroristischen" Organisationen vorgeworfen werden. Die Kurden in der Türkei kämpfen seit Jahren für mehr politische und kulturelle Rechte.