27.04.2005

Tsunamis zerstören Andamanen-Inseln

Das verlorene Paradies

Er hat die Erde zittern gespürt und anschließend beobachtet, wie sich eine riesige Wasserwand auf die Insel zu bewegte, berichtet der kleine dunkelhäutige Mann dem Umweltschützer Manish Chandi. Wie fast alle seine Stammesgenossen hat er sich durch die Flucht ins Inselinnere vor der tödlichen Flutwelle retten können. Fast alle Onge haben die Katastrophe überlebt.

Fast alle 105 Onge auf der Insel Little Andaman konnten sich vor der Welle retten. Sie hatten bemerkt, wie die Tiere nervös wurden und sich von der Küste entfernten, berichtete Manish Chandi von seinem Besuch auf der Insel. Dort hatte er auch erfahren, dass die Legenden der Onge Erdbeben und Tsunamis schildern. Die Urwaldnomaden siedeln seit schätzungsweise 30.000 Jahren auf den Inseln. Tsunamis sind für sie eine historische Erfahrung, vor der die Alten ihre Gemeinden warnten.

Die kleine Siedlung der 46 überlebenden Groß-Andamaner auf der Insel Strait Island wurde von der Welle überrollt, aber auch hier waren die Bewohner zuvor auf einen Hügel geflohen. Sie wurden in ein Notlager in die Hauptstadt Port Blair gebracht, wollen jedoch so bald als möglich ihr zerstörtes Dorf wieder aufbauen.

Von Kontakten mit Jarawas weiß man, dass sich fast alle der rund 250 Stammesmitglieder zum Zeitpunkt der Katastrophe im dichtem Urwald aufhielten und nicht zu Schaden kamen. Ob die geschätzt 100 Sentinelesen alle überlebt haben, wird wohl niemals in Erfahrung kommen, denn sie lassen keine Kontakte zu Außenstehenden zu. Doch es gibt Lebenszeichen: Ein Erkundungshubschrauber der indischen Marine wurde nach dem Tsunami über der Insel Sentinel von einem Stammesangehörigen mit Pfeilen beschossen.

Die südlich gelegene Nicobaren-Gruppe wurde weit heftiger von den Flutwellen getroffen, denn sie liegt nur wenige hundert Kilometer vom Epizentrum des Seebebens entfernt. Hier leben keine Urwaldnomaden afrikanischen Ursprungs wie auf den Andamanen. Die 250 Shompen sowie die mehrere tausend Menschen zählenden Nicobaresen wanderten erst vor 500 bis 600 Jahren vom südostasiatischen Festland ein. Als Waldbewohner waren die Shompen relativ sicher, doch die Küstensiedlungen der Nicobaresen auf Car Nicobar wurden vollständig zerstört. Tausende Nicobaresen fanden den Tod.

"Ich bin sicher, die Jarawa haben sich mit ihrem kollektiven Wissen vor der Katastrophe retten können. Aber ich befürchte, einer anderen Katastrophe sind sie nicht gewachsen. Durch die zunehmenden Kontakte mit Außenstehenden könnten sie sich mit tödlichen Krankheiten infizieren", warnt der Mediziner Tilak Bera, der sich als Marineoffizier mit den Ureinwohnern beschäftigt.

Die etwa 200 Andamanen-Inseln und die 50 Nikobaren bilden die Gipfel einer maritimen Gebirgskette, die sich in einem Bogen parallel zur Küste Burmas erstreckt. Zu den frühen Besuchern zählten Schiffbrüchige, malaysische Piraten und arabische Sklavenhändler. Aber nur wenige kehrten zurück. So erlangten die Inseln den Ruf eines verwunschenen Fleckchens Erde. Die Inselgruppe wurde von keiner Armee erobert, von keinem König regiert. Sie blieb ein weißer Fleck auf der Landkarte, bis im 19. Jahrhundert die Briten einen Stützunkt einrichteten. Nach Abzug der Kolonialtruppen fiel die Inselgruppe 1947 in indische Hand. Seither wird sie von der Hauptstadt New Delhi aus wie eine Kolonie verwaltet.

Die Andamanen-Inseln sind von vier verschiedenen Negrito-Völkern bewohnt, die zusammen höchstens 600 Individuen zählen. Die Jarawa bilden mit 300 Menschen die stärkste Gruppe. Ihre Nachbarn, die Groß-Andamaner, wurden von Eroberern und Infektionskrankheiten auf nur noch 46 Nachkommen dezimiert. Die Zahl der Onge auf der Insel Little Andaman ging von über 600 auf heute 105 zurück, nachdem man die Wälder ihrer Insel rodete und Ölpalmplantagen anlegte. Auf der Insel Sentinel leben schätzungsweise 100 Negritos, die sich bis heute mit Waffengewalt gegen jeden Kontakt zur Außenwelt wehren und ihre Freiheit verteidigen.

Vermutlich sind die Andamaner versprengte Nachkommen der Ureinwohner der südostasiatischen Inselwelt, deren Nachkommen auch auf der malaysischen Halbinsel und auf den Phillipinen leben. Als Wildbeuter durchstreifen sie die dichten Wälder, jagen Wildschweine und fangen Fische, sammeln Früchte, Wurzeln und Honig. Die Waldnomaden leben in temporären Unterkünften aus Hölzern und Blattwerk, das zum Kochen nötige Feuer bewahren sie mithilfe glimmender Lunten auf.

Die Inselgruppe untersteht der direkten Verwaltung durch die Zentralregierung in New Delhi, die die britische Kolonialpolitik nahezu unverändert fortsetzt. In der fernen Hauptstadt schmiedet man Entwicklungspläne für Straßenbau und Holzproduktion, für Freihandelszonen und Urlaubsparadiese. In den fünfziger und siebziger Jahren brachte man Tausende von Flüchtlingen aus Ost-Bengalen, dem heutigen Bangla Desh auf den Inseln unter. Heute locken Subventionen und großzügige Sozialleistungen, die den Inselbewohnern das Leben erleichtern sollen, verarmte Bauern vom Festland an. Der tropische Regenwald hat fast ein Drittel seines ursprünglichen Lebensraumes verloren.

Die Verwaltung der Inseln versucht mit Wohlfahrtsprogrammen, die Waldnomaden in den sogenannten Hauptstrom der Gesellschaft zu integrieren. Doch viele bezweifeln den Sinn einer solchen Politik: "Welche Position würden wir ihnen denn zuweisen?" fragt etwa der Jarawa-Experte Samir Acharya. "Ich glaube nicht, dass ein Jarawa bereit wäre, sich auf ein Leben als Lohnarbeiter einzustellen. Nach meiner Überzeugung sollte man ihnen eine lange Leine gewähren, sie leben lassen wie zuvor."

Samir Acharya gründete vor 15 Jahren die "Society for Andaman and Nicobar Ecology". Die Bürgerinitiative verhandelt mit Behörden und Politikern, organisiert ökologische Forschungen, ruft die Gerichte an, um die empfindliche Inselwelt und ihre Bewohner zu schützen. Die größte Gefahr für die Jarawa gehe von der Verbindungsstraße aus, meint Samir Acharya: "Ich denke, die Jarawas kommen zur Straße, weil es die Straße gibt! Sie haben einen bequemen Weg gefunden, an bestimmte Dinge heranzukommen. Aber das ist nicht ohne Gefahren – Krankheiten zum Beispiel, gegen die sie keine Abwehrkräfte besitzen. Vor drei Jahren erfasste eine Masern-Epedemie nahezu jeden Jarawa. Glücklicherweise konnten sie durch die rasche Intervention eines Arztes gerettet werden. Je eher die Straße geschlossen wird, desto besser stehen die Chancen für ihr Überleben."

Samir Acharya und seine Kolleginnen riefen das höchste Gericht des Landes an, um den Raubbau an den Wäldern zu stoppen. Im Oktober 2001 ordneten die Richter die sofortige Einstellung aller forstwirtschaftlichen Aktivitäten an. Seither darf auf den Andamanen und Nikobaren kein Baum gefällt, kein Stamm zum Sägewerk transportiert, kein Streichholz exportiert werden. Die Richter verfügten auch eine Schließung der Verbindungsstraße, zumindest in jenen Abschnitten, die das Reservat der Jarawa berühren. Doch die Verwaltung erhob juristischen Einspruch mit dem Argument, die Inselgruppe könne ohne die Straße wirtschaftlich nicht überleben. Für die Zukunft der Inselgruppe setzt die Administration auf den Tourismus. Auf zehn Inseln sollen neue Hotelprojekte entstehen. Umweltschützer befürchten, Golfplätze und neue Ressorts verschärften die Trinkwasserknappheit auf den Inseln und gefährdeten wertvolle biologische Ressourcen.

Seit Jahren üben einheimische und internationale Menschenrechtsorganisationen Druck auf die Regierung in New Delhi aus, die Politik gegenüber den Urwaldbewohnern auf den Andamanen- und Nikobaren-Inseln zu ändern. Sie fordern, die selbstgewählte Isolation der Ureinwohner nicht zu durchbrechen. Dazu müsse u.a. die kommerzielle Forstwirtschaft eingestellt und die Straße durch das Jarawa-Reservat geschlossen werden. Im April 2004 lud die Regierung Wissenschaftler, einige Aktivisten und Vertreter der lokalen Behörden nach Kolkata ein, um die Zukunftsperspektiven der Jarawa und anderer Waldvölker zu erörtern. Die Experten empfahlen eine Politik der maximalen Autonomie und der abgewogenen Intervention gegenüber den Jarawa. Im folgenden Dezember vergrößerte die Regierung das Waldreservat der Jarawa von 700 auf 870 qkm. Schärfere Kontrollen sollen jede Interaktion zwischen Touristen und Jarawas verhindern.

Unter Federführung der "Anthropological Survey of India" sollen in den kommenden Jahren alle Jarawa mit Foto und persönlichen Details in einer Datenbank erfasst werden. Obwohl dazu sicher zahlreiche Besuche von Sozialarbeitern und Wissenschaftlern in den Siedlungen der Jarawa nötig sein werden, wurde der Schritt von Sameer Acharya und seinen Kollegen begrüßt. Einen kleinen Hoffnungsschimmer vermittelt die jüngste Nachricht vom Februar 2005: durch die (lang ersehnte) Geburt eines Babys ist die Zahl der Onge auf 97 Individuen angestiegen.

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