29.06.2005

Tschetschenien im Spätsommer 2004

Keine Aussicht auf Frieden

Tschetschenische Mutter mit ihrem getöteten Kind

Göttingen
Zusammenfassung

Auch nach den Wahlen vom 29. August 2004 besteht in Tschetschenien keine Hoffnung auf Frieden. Innerhalb von nur wenigen Tagen kamen in Russland Ende August / Anfang September mehr als 100 Personen bei Terroranschlägen ums Leben. In einer Presseerklärung hat die GfbV diese Verbrechen auf das Schärfste verurteilt. Doch die tägliche Chronik der Verbrechen in Tschetschenien, die Teil des vorliegenden aktuellen Memorandums der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) ist, macht deutlich, dass das Morden weitergeht: Bombardements in der tschetschenischen Bergregion, Explosionen von Autobomben, Schießereien, "Säuberungen", d.h. Razzien von Dörfern und Wohnungen, nächtliches Verschwindenlassen von Zivilisten, Leichenfunde an Dorfrändern, Verlustmeldungen russischer Soldaten und Minenunfälle, sind schrecklicher Alltag. Durch massive Wahlfälschung wurde der bisherige Innenminister Alu Alchanow zum tschetschenischen Präsidenten gewählt. Er ist mitverantwortlich für die prekäre Menschenrechtslage. Die tschetschenische Bevölkerung verbindet mit ihm keine Hoffnung auf eine positive Veränderung.

Die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen in Inguschetien und Tschetschenien wird durch Angestellte des russischen, tschetschenischen und inguschetischen Geheimdienstes noch stärker behindert als bisher. Auch Berichte über Schikanen gegen unabhängige, Kreml kritische Journalisten haben zugenommen.

Während des Sommers wurden wie auch in den Vormonaten nahezu täglich bei so genannten gerichteten Säuberungen oder "Operationen zur Passkontrolle" Zivilisten verschleppt. Bei einem Besuch einer GfbV-Delegation im Juni 2004 in Inguschetien, berichten sowohl tschetschenische Flüchtlinge in Inguschetien als auch Tschetschenen niemand würde nachts aus Angst vor den Hausdurchsuchungen und Aktivitäten der Todesschwadronen mehr schlafen. Trotzdem betont die russische Regierung, sie habe die Lage in Tschetschenien unter Kontrolle und die Situation würde sich normalisieren. Auch eine Zunahme von Kampfhandlungen zwischen Tschetschenen und Russen straft diese Behauptung Lügen. In der Nacht vom 20. auf den 21. Juni überfielen sie die inguschetische Hauptstadt Nasran und töteten nahezu 90 Personen, in ihrer Mehrheit Angehörige des Sicherheitsapparates. Ein ähnlicher Übergriff durch geschätzte 200 bis 400 tschetschenische Kämpfer fand am 21./22. August in Grosny statt. Auch hier starben etwa 100 Personen.

Präsident Putin hat erkannt, dass die russische Armee das Gebiet im Süden Russlands nicht befrieden kann. Also soll die "Tschetschenisierung" fortgesetzt werden, die dazu führt, dass sich Tschetschenen untereinander bekriegen. Die Leidtragenden sind Kinder, Frauen, Männer: die tschetschenischen Zivilisten.

Besonders besorgniserregend ist weiterhin die Lage der Flüchtlinge in Inguschetien und der noch etwa 70.000 Binnenvertriebenen in Tschetschenien. Alle größeren Lager in Inguschetien wurden geräumt. Dort leben jedoch immer noch in Sammelunterkünften wie ehemaligen Kuh- und Schweineställen oder Fabrikgebäuden bzw. in Privatunterkünften rund 50.000 tschetschenische Vertriebene in Inguschetien. Seit dem Übergriff tschetschenischer Kämpfer vom Juni 2004 sind sie noch stärker als bisher Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt, was eine Chronik der Übergriffe in Inguschetien im vorliegenden Memorandum deutlich macht.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker ist davon überzeugt, dass erst nach einem beidseitigen Waffenstillstand und ernst gemeinten Friedensverhandlungen unter internationaler Beobachtung, in die der tschetschenische Führer Aslan Maschadow einbezogen werden muss, eine Chance für demokratische, geheime und gleiche Wahlen besteht und erst dann auf eine friedliche Entwicklung in Tschetschenien gehofft werden kann.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker stellt folgende Forderungen an die Bundesregierung:

1. Für Flüchtlinge aus Tschetschenien soll Deutschland einen Abschiebestopp erlassen.

2. Die Zusammenarbeit zwischen der Bundeswehr und der russischen Armee, sowie zwischen dem BND und dem russischen Geheimdienst FSB muss öffentlich untersucht und beendet werden.

3. Deutsche Politiker, besonders der Bundeskanzler und der Außenminister sollen jede Gelegenheit bilateraler Gespräche nutzen, um öffentlich Kritik an Russlands Vorgehen in Tschetschenien zu üben.

4. Die Bundesregierung muss sich für eine Rückkehr der OSZE und die Einladung der UN-Sonderberichterstatter nach Tschetschenien stark machen.

5. In Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern soll die Bundesregierung Verhandlungen zwischen der russischen Regierung und den maßgeblichen Kräften in Tschetschenien unter ihnen auch dem legitimierten tschetschenischen Präsidenten Maschadow in die Wege leiten.