27.05.2009

Tscherkessen gedenken in Berlin

145 Jahre Genozid

Tscherkessen (Quelle:Wikimedia Commons)

Am Samstag haben in Berlin Tscherkessen aus Deutschland, Italien, den USA, Israel, der Türkei, den Niederlanden und anderen Staaten des Genozids an ihrem Volk vor 145 Jahren durch das zaristische Russland gedacht. Die Veranstaltung war gut besucht. Mein erster Eindruck war: so viele junge Menschen! Für diese war es sicherlich auch ein Ort, um sich kennen zu lernen, sich der eigenen Identität zu versichern, tscherkessische Lieder zu hören und sich zu überlegen, wie sie sich möglicherweise politisch engagieren könnten. Als GfbV-Referentin hielt ich ein Grußwort und bot unsere Zusammenarbeit an.

Grußwort von Sarah Reinke anlässlich der Gedenkveranstaltung der Föderation der Tscherkessen in Europa zum 145. Jahrestag des Genozids durch das zaristische Russland, Berlin, 23. Mai 2009

Heute denken wir an ein Verbrechen, das das zaristische Russland vor 145 Jahren an den Tscherkessen im westlichen Nordkaukasus verübte. Von vielen wurde es vergessen, obwohl einzelne Historiker und die Tscherkessen selbst es als einen Völkermord im 19. Jahrhundert bezeichnen.

Fast 100 Jahre lang hatten die unterschiedlichen Stämme der Tscherkessen Widerstand gegen die russische Kolonisation des Kaukasus geleistet. Schließlich unterlagen sie der Übermacht des russischen Militärs. Dieses ging mit größter Brutalität gegen die Menschen im Nordkaukasus vor. Dörfer wurden systematisch niedergebrannt, Männer, Frauen und Kinder ermordet. Am 28. Mai begann die Deportation der Überlebenden der vielen Massaker und Kämpfe ins Osmanische Reich. Über das Schwarze Meer schickte man die Menschen in offenen Barkassen, kleinen überfüllten Booten, viele sanken und die Menschen ertranken. Dann wüteten Hunger und Krankheiten unter den Tscherkessen.

Bis heute ist unbekannt, wie viele Menschen durch das russische Verbrechen umkamen. Der Historiker Stephen Shenfield rechnet folgendermaßen: Vor der russischen Kolonisierung gab es rund 2 Millionen Tscherkessen. 1864 war der nordwestliche Kaukasus, das Herzland der Tscherkessen, fast vollständig "gesäubert". Zwischen 120.000 und 150.000 Tscherkessen wurden in anderen Regionen des Russischen Reiches angesiedelt. Rund 500.000 wurden ins osmanische Reich zwangsdeportiert. Zuvor im Jahr 1858 waren rund 30.000 Familien freiwillig ausgewandert. Das bedeutet, dass es keine Angaben zu rund einer Million Tscherkessen gibt, und wenn man noch diejenigen dazuzählt, die durch die Vertreibung umgekommen sind, gab es wohl fast 1,5 Millionen Opfer.

Heute kann man zum Glück sagen, dass die Tscherkessen als Volk überlebt haben. Es ist ihnen gelungen, ihre Kultur und Sprache zu bewahren. Es gibt eine breite tscherkessische Bewegung im Nordkaukasus, in der Diaspora in der Türkei, dem Mittleren Osten und Europa. Es wäre schön, wenn die Türkei auch von offizieller Seite die Sprache, Geschichte und Kultur der Tscherkessen anerkennen würde. Diese Forderung gilt natürlich auch für die anderen Minderheiten in der Türkei.

Die Tscherkessen haben Forderungen und Bitten an die russische Regierung. Ein erster Schritt wäre die Ankerkennung des Völkermordverbrechens durch das zaristische Russland und eine Entschuldigung dafür von Seiten der heutigen russischen Regierung. Leider macht sie keinerlei Anstalten, sich mit dem Leid der Tscherkessen und ihren Bitten zu beschäftigen. Es droht eher eine andere Gefahr: Obwohl sie friedlich und demokratisch ihre Forderungen vortragen, gibt es die Tendenz, die Tscherkessen als Separatisten zu bezeichnen und sie zu diskriminieren. Das könnte auf der einen Seite zu einer Radikalisierung der jungen Generation der Tscherkessen führen, auf der anderen Seite könnte Russland die Tscherkessen unter dem Vorwurf des Separatismus genauso drangsalieren wie viele andere Gruppen insbesondere im Nordkaukasus.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker ist eine Menschenrechtsorganisation, die sich seit 40 Jahren für verfolgte und bedrohte Minderheiten weltweit einsetzt. Ein Schwerpunkt unserer Arbeit ist das Engagement gegen Völkermord und Vertreibung weltweit. Wir haben in den letzten 10 Jahren sehr viel zum Nordkaukasus gearbeitet, insbesondere natürlich zum Krieg in Tschetschenien. Hier beziehen wir wie überall Stellung für die Opfer des Krieges. Mit der Hilfe von tschetschenischen Menschenrechtlern haben wir Verbrechen der russischen Armee und des Geheimdienstes in Tschetschenien dokumentiert und öffentlich gemacht. Wir haben Sprecherinnen der Tschetschenen nach Genf zu den Vereinten Nationen und nach Straßburg zum Europarat eingeladen und mit ihnen auch hier in Berlin immer wieder Abgeordnete und Regierungsvertreter getroffen. Mit unserer Hilfe konnten Gelder für humanitäre Projekte eingeworben werden, die auch heute noch arbeiten. Zudem haben wir über Jahre tschetschenische Flüchtlinge hier in Deutschland unterstützt. Ich bin als Referentin für die Gus Staaten und Osteuropa für diese Arbeit verantwortlich und kann gerne auf Nachfrage noch mehr und detaillierter berichten.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker ist ein Verein, der sich durch Mitgliedsbeiträge und Spenden finanziert, um politisch unabhängig arbeiten zu können. Unser großes Büro in Deutschland ist in Göttingen, hier in Berlin haben wir eine Zweigstelle, die ich seit einigen Monaten leite. Außerdem haben wir Sektionen in der Schweiz, Österreich, italien, Bosnien, dem Irak und in Chile.

Ich wünsche Ihnen weiterhin eine gute und interessante Tagung und viel Durchhaltevermögen und Besonnenheit bei der Wahrung Ihrer Interessen. Wenn die Gesellschaft für bedrohte Völker Ihnen nützlich sein kann, biete ich Ihnen gerne unsere Kooperation an.