14.05.2013

Tibetische Geschichte wird umgedeutet

China/Tibet

Aus bedrohte völker_pogrom 274, 6/2012

Geschichte ist ein mächtiges Werkzeug. Wir können aus ihr lernen, sie kann der Stiftung von Identität und der Legitimation politischer Strategien dienen. Nicht selten jedoch unterscheidet sich die offizielle Geschichtsschreibung eines Landes von den Überlieferungen autochthoner Gemeinschaften. Seitdem die Volksrepublik China 1959 Tibet annektiert hat, versuchen die Machthaber, ihre Sicht der Vergangenheit durchzusetzen und frühe und neuere tibetische Geschichte „umzudeuten“.

Tibets Erinnerungskultur ist ausgesprochen vielfältig: Schriftliche Überlieferungen buddhistischer Mönche reichen bis in graue Vorzeit zurück, sterbliche Überreste historischer Persönlichkeiten werden in speziellen Bauwerken, den Stupas, als Reliquien aufbewahrt, Tempel und Klöster sind steinerne Zeugen historischen Wissens. China musealisiert die tibetische Kultur jedoch zunehmend, um den Tibetern zu demonstrieren, dass ihre Religion nur noch ein Relikt der Vergangenheit ist. So ist der Potala-Palast, der einstige Sitz des Dalai Lama, in Lhasa heute ein Museum. Die chinesischen Besatzer wehren sich allerdings gegen den nach wie vor großen Andrang der Pilger, die diese Stätte besuchen, indem Besucherzahlen und die Aufenthaltsdauer eingeschränkt werden.

Das Kalkül der historischen Umdeutung tibetischer Geschichte setzt China in einem neu eröffneten Tibet-Museum in Lhasa um. Die durchaus beachtliche Sammlung tibetischer Kunstwerke und historischer Dokumente wird offenkundig mit zwei Zielen präsentiert: Einerseits werden kulturelle Verbindungen zwischen China und Tibet aufgezeigt, die vermutlich bis in die tibetische Bronzezeit zwischen 100 vor und 600 nach Christus zurückreichen. Andererseits wird der Anschluss Tibets an China als eine Befreiung der Bevölkerung aus einem feudalistischen System dargestellt. Diese historische Sichtweise wird ausländischen Besuchern auch in den einzigen im Land erhältlichen englischsprachigen Veröffentlichungen über die Kultur und Geschichte Tibets vermittelt. Die Publikationen erscheinen in einer Buchreihe mit dem bezeichnenden Titel „Series of Basic Information of Tibet of China“ („Buchreihe zu grundlegenden Informationen über das chinesische Tibet“).

Die Geschichte um eine Stele vor dem Jokhang-Tempel in Lhasa demonstriert anschaulich die Argumentationsstruktur in diesen Werken: Die Inschrift auf dieser Stele ist ein Friedensvertrag zwischen China und Tibet in den Jahren 821/822, in dem beide Länder gelobt haben, ihre Grenzen auf ewige Zeiten anzuerkennen. Vor dem Friedensschluss hatten tibetische Truppen versucht, chinesische Gebiete zu erobern und 763 sogar kurzfristig die damalige chinesische Hauptstadt Chang’an besetzt. China erkannte die Stärke Tibets an und versuchte weitere Kämpfe zu vermeiden. Diesen Kontext ignoriert die heutige chinesische Geschichtsschreibung jedoch und der Pakt wird als ein Freundschaftsvertrag und als Beleg für ein frühes Zusammenwachsen beider Länder ausgelegt.

Ein weiteres Beispiel für die Umdeutung von Tibets Historie ist die Gründungsgeschichte des Landes. Das Yarlung Tal im Süden Tibets gilt als die Wiege der tibetischen Kultur. Buddhistischen Überlieferungen zufolge stiegen hier die ersten Könige vom Himmel herab. Touristen besuchen in diesem Gebiet meist nur den Palast Yungbulakang, das älteste religiöse Bauwerk Tibets. Abseits der Touristenpfade liegt das sogenannte „Tal der Könige“, in dem sich der imposante Grabhügel von König Songtsän Gampo – er lebte von 604 bis 650 nach Christus – befindet. Dieser Herrscher ist jedem Tibeter ein Begriff, denn er gilt als Gründer des Landes und als ein großer Feldherr. Während seiner Regierungszeit begann der Buddhismus in Tibet Fuß zu fassen und die ersten Vorgängerbauten des heutigen Potala-Palastes und des Jokhang-Tempels entstanden. Aufgrund seiner Verdienste wird der König bis heute von tibetischen Buddhisten sehr verehrt. So stehen in jedem größeren Heiligtum Statuen von Songtsän Gampo und auf seinem Grabhügel wurde ihm zu Ehren ein Tempel gebaut. Diese Verbindung von vorbuddhistischem Grabhügel und buddhistischer Architektur ist ein Zeugnis für die Akzeptanz kultureller Vielfalt unter seiner Herrschaft. In der Kunst wird Songtsän Gampo meist mit seinen beiden Frauen, Bhrikuti Devi aus Nepal und der chinesischen Prinzessin Wencheng, dargestellt. Der Geschichte nach hatten sie großen Einfluss und werden heute mit buddhistischen Gottheiten gleichgesetzt. Bhrikuti Devi soll Handwerker und Künstler aus Nepal mitgebracht haben, die den Grundstein für die Entstehung der tibetischen Schrift und Architektur legten. Wencheng hingegen veranlasste die Errichtung der ersten buddhistischen Tempel, für die sie mithilfe der Geomantie, der Weissagung aus der Erde, die richtigen Standorte bestimmte. Es ist wenig überraschend, dass in der heutigen chinesischen Geschichtsschreibung fast nur die Chinesin Wencheng Erwähnung findet, die als „Zivilisatorin“ der „barbarischen“ Tibeter und damit als die Begründerin der tibetischen Kultur gefeiert wird.

Eine Gegendarstellung zu all diesen einseitigen Deutungen können derzeit nur exiltibetische und ausländische Historiker liefern. Dies ist jedoch ein schwieriges Unterfangen – eine archäologische Erforschung des tibetischen Tals der Könige steht bisher noch aus. Zudem ist es ausländischen Besucher kaum noch möglich, die bedeutende Stätte zu besichtigen, da sie diese nur in Begleitung eines chinesischen Reiseleiters und mit einer gesonderten Erlaubnis des Militärs betreten dürfen. Eine solche Genehmigung zu erhalten erscheint, angesichts der verschärften Einschränkungen in die Reisefreiheit im Land als Reaktion auf die jüngsten Proteste der Tibeter, aber als nahezu ausgeschlossen.

Zum Autor

Dr. Lars Frühsorge erforscht Erinnerungskulturen indigener Gemeinschaften weltweit. Neben längeren Feldforschungen in Guatemala und Kanada hat er auch Polynesien und die Länder der Arktis bereist sowie 2011 Tibet besucht. Frühsorge lehrt Ethnologie an den Universitäten Hamburg und Heidelberg.