01.08.2008

Souveränität verpflichtet: Die neue Schutzverantwortung der Staaten

UNO und Völkerrecht

aus: bedrohte völker_pogrom 248, 3/2008

Als der Zyklon Nargis am 2. Mai 2008 mit voller Wucht in die Region des Irrawaddy-Deltas von Birma traf, kamen mindestens 78.000 Menschen ums Leben, Hunderttausende wurden obdachlos und von jeder Grundversorgung abgeschnitten. Trotz der humanitären Katastrophe war die Reaktion der Militärregierung zögerlich und ineffektiv. Angesichts des Elends in der betroffenen Region und der weltweiten Empörung hatte der französische Außenminister Bernard Kouchner fünf Tage nach der Katastrophe gefordert, dass der UN-Sicherheitsrat internationale Hilfe notfalls auch gegen den Willen der Junta auf den Weg bringen solle. Kouchner verwies dabei auf das neue völkerrechtliche Konzept der Schutzverantwortung, das in der Abschlusserklärung des UN-Weltgipfels vom 16. September 2005 Anerkennung gefunden hatte: Die "Responsibility to Protect", kurz "R2P" genannt. "Jeder einzelne Staat hat die Verantwortung für den Schutz seiner Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit", hält Punkt 138 der Erklärung fest.

 

Staaten als "black box"

Über Jahrhunderte hat das klassische Völkerrecht alle Staaten wie eine "black box" ("schwarzer Kasten") behandelt: Es war dazu da, um ihre gegenseitigen Beziehungen zu regeln. Was sich dagegen innerhalb eines Staates abspielte, wurde vom völkerrechtlichen Dogma der staatlichen Souveränität vom Rest der Welt abgeschirmt. "Staatliche Souveränität war eine Lizenz zum Töten", sagt Gareth Evans, Präsident der International Crisis Group, treffend. Angesichts des Holocaust und anderer Massenmorde im Zweiten Weltkrieg wurde zwar im Statut des Nürnberger Tribunals 1945 das Verbrechen gegen die Menschheit anerkannt, vor dessen Verfolgung auch die staatliche Souveränität nicht schützen sollte. Zugleich aber wurde im selben Jahr in Art. 2 Abs. 7 der UN-Charta festgehalten, dass daraus keine Befugnis zum Eingreifen in innere Angelegenheiten eines Staates abgeleitet werden könne. Im modernen Völkerrecht standen sich das Einmischungsverbot und die wachsende Anerkennung der Menschenrechte, sichtbar etwa in der Genozid-Konvention von 1948 oder dem 1976 in Kraft getretenen Internationalen Pakts für bürgerliche und politische Rechte, als widerstreitende Pole gegenüber.

 

Das neue Prinzip der R2P

Das Prinzip der R2P besagt nun, dass die Staaten eine Schutzverantwortung für ihre Bevölkerung haben. Wenn eine Regierung dieser nicht gerecht wird, überträgt sich die Verantwortung auf die internationale Gemeinschaft. Die Frage ist also nicht mehr, ob bei den von R2P erfassten Verbrechen eingegriffen werden muss, sondern vielmehr wann und wie. Der Schwerpunkt der Schutzverantwortung liegt dabei auf präventiven und friedlichen Maßnahmen im Rahmen politischer, diplomatischer und anderer internationaler Einflussnahme.

Obwohl R2P eindeutig auf den Völkermord in Darfur angewendet werden kann, hat das Konzept bislang wenig dazu beigetragen, die internationale Gemeinschaft zu einem entschiedeneren Vorgehen zu bewegen. Andererseits wird die internationale Reaktion auf die Krise in Kenia seit Ende 2007 als erstes Beispiel für die Anwendung von R2P angesehen. Die UN hat schnell und massiv politisch reagiert. Als nach den Wahlen fast 700 Menschen getötet und 255.000 ihre Häuser fluchtartig verlassen mussten, wies der UN-Beauftragte für die Verhütung von Genozid Dr. Francis Deng ausdrücklich auf die Schutzverantwortung der kenianischen Regierung hin. Zudem verschränkt sich R2P mit anderen völkerrechtlichen Instrumenten wie dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH). So wurden die kenianischen Parteien auch darauf hingewiesen, dass an den Verbrechen beteiligte Personen unter Umständen nach internationalem Recht zur Verantwortung gezogen werden könnten. Tatsächlich ist Kenia im März 2005 dem IStGH beigetreten und hat sich damit dessen subsidiärer Zuständigkeit unterworfen. Dies bedeutet, dass der IStGH tätig werden kann, wenn das nationale Justizsystem nicht willens oder in der Lage ist, eine Strafverfolgung aufzunehmen. Nach Ansicht von Desmond Tutu hat R2P in Kenia entscheidend zur Einigung der Parteien auf eine gemeinsame Staatsführung beigetragen und weiteres Blutvergießen verhindert.

Das Prinzip der R2P ist komplex und reduziert sich nicht auf kurzfristiges Handeln oder gar nur auf Zwangsmaßnahmen. Erst als letztes Mittel sieht R2P solche vor. In Punkt 139 der Abschlusserklärung von 2005 heißt es dazu, dass "im Einzelfall" kollektive Maßnahmen über den Sicherheitsrat ergriffen werden sollen, "falls friedliche Mittel sich als unzureichend erweisen und die nationalen Behörden offenkundig dabei versagen, ihre Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen". Wenn aber auf Grundlage der R2P-Kriterien die Notwendigkeit eines Eingreifens festgestellt werden kann und vorgeschaltete Bemühungen keinen Erfolg brachten, wächst der Druck auf den UN-Sicherheitsrat, die internationale Gemeinschaft zu einem Handeln zu ermächtigen.

 

Die Situation in Birma und R2P

Eine Intervention in Birma nach R2P, wie sie von Kouchner gefordert wurde, ist völkerrechtlich gesehen bei den bis Anfang Juni 2008 vorliegenden Sachverhalten kaum vertretbar. Für eine Intervention mit Rückgriff auf R2P wäre erforderlich, dass eines der oben genannten von R2P erfassten Verbrechen vorliegt. Eine Anwendung bei humanitären Katastrophen gehört nicht dazu. Bei den Verhandlungen über die entsprechenden Punkte 138 und 139 im Abschlussdokument von 2005 wurde genau das diskutiert und verworfen. Angesichts dieses Befunds wurde dann darauf verwiesen, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegen könnten. Ein im Februar gegründetes Netzwerk von nichtstaatlichen Organisationen, Fachleuten und Politikern, das sich der Stärkung von R2P im asiatischen Raum verschrieben hat, das Asia-Pacific Centre for the Responsibility to Protect, kommt allerdings in einer am 16. Mai 2008 veröffentlichten Analyse zu dem Ergebnis, dass dieser Tatbestand nicht vorliegt. Als Hauptargument führt es unter anderem an, dass unterlassene Hilfeleistung im Kontext einer Naturkatastrophe als solche für die Erfüllung des objektiven Tatbestands völkerrechtlich nicht ausreiche. Nach Art. 7 IStGH-Statut, der das Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert, ist erforderlich, dass die Tathandlungen "im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung" erfolgen. Ein solcher Angriff liege aber nicht vor.

 

Der Sicherheitsrat kann sowieso handeln

Bemerkenswert an dieser Debatte ist vor allem, dass sie davon ablenkt, dass der UN-Sicherheitsrat überhaupt nicht auf R2P zurückgreifen muß, um humanitäre Hilfe mit Zwangsmitteln zu erlauben. In seiner Beurteilung für das Vorliegen der Voraussetzungen für Zwangsmaßnahmen nach dem VII. Kapitel der UN-Charta hat der Rat einen fast uneingeschränkten Spielraum. In Resolution 794 vom 3. Dezember 1992 beispielsweise hat er ohne Bezug auf grenzüberschreitende Sachverhalte allein aufgrund der schweren Menschenrechtsverletzungen im Land zu einer humanitären Intervention in Somalia ermächtigt. Es gibt kein völkerrechtliches Hindernis, dass ihn davon abhalten könnte, eine entsprechende Resolution auch im Falle Birmas zu verabschieden. Kouchners Verweis auf R2P in diesem problematischen Grenzfall hatte damit, ob beabsichtigt oder nicht, zwei wesentliche Folgen: Erstens wurde Druck vom UN-Sicherheitsrat genommen, da es ja nicht mehr um seine politische Verantwortung, sondern um die Erfüllung der R2P-Kriterien ging und zweitens wurde das R2P-Konzept beschädigt, da Kouchner ohne sorgfältige völkerrechtliche Analyse schlicht das Vorliegen der Voraussetzungen unterstellt hat. Viele Länder des Südens, inbesondere in Asien, sind mit dieser aus ihrer Sicht politisch motivierten und willkürlichen Heranziehung von R2P zur Rechtfertigung einer humanitären Intervention nicht einverstanden. Experten nehmen an, dass bei der diesjährigen UN-Generalversammlung ab September deshalb versucht wird, den Beschluss von 2005 rückgängig zu machen oder zumindest aufzuweichen. Dass die internationale Gemeinschaft die Schutzverantwortung der Staaten bei Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt hat, ist ein wichtiger Fortschritt, der allerdings unbedingt erhalten und ausgebaut werden sollte. Kouchners schneller Vorstoß im Falle Birmas hat dabei nicht geholfen.