15.10.2004

Sonderweg am Bosporus

Kein Ende der ethnischen und religiösen Verfolgungen. Die Bilanz der Menschenrechtsverletzungen in der Türkei ist weiterhin erdrückend.

aus: bedrohte Völker_pogrom 226_4/2004
Die Türkei ist noch kein demokratischer Rechtsstaat. Aber sie hat erste Reformen in die Wege geleitet, um EU-Richtlinien zu folgen. Bisher war der Nationale Sicherheitsrat die höchste politische Instanz. Er hat Regierungen abgesetzt, Ausnahmezustände erlassen und den Justizapparat instrumentalisiert. Die Zuständigkeit des Nationalen Sicherheitsrates wurde nun beschnitten, Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte der Weg geebnet, das Verbot von Parteien gesetzlich erschwert, harte Maßnahmen gegen Folterer angedroht, die Todesstrafe zu Friedenszeiten abgeschafft.

Die Situation der Minderheiten wurde wenigstens formal durch Erlasse erleichtert, der Straftatbestand "Propaganda zur Zerstörung der territorialen Einheit des Staates" wurde aufgehoben. Es wurden gesetzliche Grundlagen für den Gebrauch der kurdischen Sprache in Privatsendern, den Kurdischunterricht und den Gebrauch nicht-türkischer Vornamen geschaffen, eine Amnestie für PKK-Angehörige verkündet und die Rückkehr der vertriebenen kurdischen Bauern zugesagt. Schließlich wurden Bestimmungen, die vor allem religiösen nicht muslimischen Minderheiten, d.h. vor allem christlichen Minderheiten den Erwerb von Immobilien erschwerten, aufgehoben. Die Situation der Kurden wie der christlichen Volksgruppen in der Türkei bietet sich deshalb als Prüfstein für die Umsetzung der Reformen an.

Reformen nur auf dem Papier

Das Justizministerium hat auf eine parlamentarische Anfrage hin zugegeben, dass die Türkei in den 392 Verfahren, die bislang mit dem Vorwurf der Folter vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gebracht wurden, eine Summe von Entschädigungen in Höhe von 4,3 Millionen Euro an die Opfer zahlen musste. Weitere 149 Klagen sind zurzeit vor dem Gerichtshof noch anhängig. Die Menschenrechtsorganisation TIHV (Türkische Menschenrechtsstiftung) meldet, dass bis Ende November 2003 866 Personen um Hilfe wegen erlittener Folter angesucht hatten; unter den Opfern waren 32 Kinder.

Der Nationalitätenstaat Türkei strebt in die Europäische Union; er würde 70 Millionen neue Bürger in die Gemeinschaft einbringen, unter ihnen 15-20 Millionen Kurden. Jeder vierte türkische Bürger spricht Kurdisch oder ist kurdischer Abstammung. Ohne eine grundsätzliche Lösung dieses dann größten und schwierigsten Nationalitätenproblems der EU würde Europa mit möglicher Fortsetzung des türkisch-kurdischen Bürgerkrieges konfrontiert, mindestens aber mit ständigen Unruhen, die sich auch in anderen Ländern Europas mit Einwanderergruppen aus der Türkei niederschlagen würde. Aus Sicht zahlreicher europäischer Institutionen und Regierungen ist ferner die bis vor kurzem noch alarmierende Situation der christlichen Minderheiten relevant, obwohl diese aufgrund der jungtürkischen Bewegung (1914/15), der Herrschaft Atatürks (vor allem in den 20er Jahren) sowie während der Zypern-Krisen durch ethnische Säuberung und genozidale Aktionen von 25% auf etwa 0,1-0,15% der türkischen Bevölkerung reduziert wurde. Die EKD (Evangelische Kirche Deutschlands) geht von "etwa 150.000 Christen armenischer, syrischorthodoxer und griechisch-orthodoxer Herkunft" aus.

Der kurdisch-türkische Krieg (1984- 1999) hat 40.000 Opfer gefordert, unter ihnen fast 90 Prozent Angehörige der kurdischsprachigen Volksgruppe. über 3.428 Dörfer wurden während der Kämpfe zerstört, fast zweieinhalb Millionen Menschen flüchteten oder wurden von der türkischen Armee vertrieben. 3.5000 Kurden sind bis heute politische Gefangene, die wegen "separatistischer Tätigkeiten" inhaftiert sind.

Die Kurden - ungebrochene Unterdrückung von Sprache und Kultur

Schon die konkreten Bestimmungen der Umsetzung dieser Gesetze demonstriert ihre Halbherzigkeit. Der so genannte Hohe Rat für Radio- und Fernsehstationen (RTüK) hat eine neue Fassung der Verordnung "Sendungen in Sprachen und Dialekten, die türkische Bürger im alltäglichen Leben benutzen" verfasst. Nach der neuen Verordnung dürfen nur landesweite Sender in anderen Sprachen als Türkisch Sendungen ausstrahlen. Die Radioprogramme dürfen am Tag nicht länger als 45 Minuten und in der Woche nicht länger als vier Stunden dauern. Für Fernsehsender wurden die Programme auf täglich 30 Minuten und wöchentlich drei Stunden begrenzt. Es dürfen zudem keine Programme zur Sprachvermittlung gesendet werden.

Keine Amnestie für politische Gefangene

Bei den kurdischen politischen Gefangenen in der Türkei, unter ihnen bis vor wenigen Wochen auch die kurdische Parlamentarierin Leyla Zana und drei Kollegen, handelt es sich in den meisten Fällen um Verurteilte oder Untersuchungshäftlinge, die wegen Vergehen wie öffentliche Meinungsäußerung, Verteilen von kritischen Flugblättern, Teilnahme an Demonstrationen, Veröffentlichung von kritischen Artikeln in Zeitungen oder auch nur dem Gebrauch der kurdischen Sprache inhaftiert wurden. In keinem anderen Staat Europas ist solches Vorgehen strafbar, Rechte wie freie Meinungsäußerung oder Versammlungsfreiheit sind durch die Verfassung geschützt und werden, anders als in der Türkei, nicht als terroristische Aktivitäten verfolgt. Provokativ hatte das zuständige Gericht in Ankara bei einer Revisionsverhandlung drei Tage vor der Ankunft des deutschen Bundeskanzlers im Februar die Freilassung der vier kurdischen Parlamentarier abgelehnt. Gerhard Schröder kümmerte dies wenig; gleich zum Auftakt seines Besuchs (23. Februar) hinterließ er am Mausoleum des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk die zentrale Botschaft seiner zweitägigen Türkei-Reise: Das türkische Volk könne sich "auf seinem Wege nach Europa auf die Unterstützung Deutschlands verlassen", schrieb er ins Gedenkbuch.

Die wegen des so genannten "Terrorparagraphen" inhaftierten 3.500 kurdischen-politischen Gefangenen wurden entgegen internationalen Erwartungen nicht in die im August 2003 von der türkischen Regierung erlassene Teil-Amnestie einbezogen. Diese hatte die Freilassung von mehreren tausend politischen Gefangenen in Aussicht gestellt. Viele der Betroffenen sitzen seit vielen Jahren in türkischen Gefängnissen und hoffen nun auf ihre baldige Freilassung.

Keine Rückkehr in die zerstörten Dörfer

2,5 Millionen der etwa 15 Millionen Kurden in der Türkei wurden im Zuge des Krieges zwischen der Türkei und der Radikalen Kurdischen Arbeiterpartei PKK systematisch aus ihren Dörfern vertrieben. Insbesondere "wegen der geographischen Lage der Region sowie der landschaftlichen Unebenheiten und der verstreut liegenden Siedlungen" habe der Staat die Sicherheit der Bewohner dieser Siedlungen nicht ausreichend gewährleisten können, lautet die offizielle Begründung für die Vertreibungen. Daher hätten die Sicherheitsbehörden vor Ort die Bewohner dazu bewegt, diese Siedlungen aufzugeben. Die Zahl der Vertriebenen beläuft sich nach Angaben der 1998 einberufenen parlamentarischen Untersuchungskommission unter Vorsitz des ehemaligen Abgeordneten von Diyarbakir Hasim Hasemi ungefähr auf 2,5 Millionen Menschen aus 3.428 Dörfern.

Renommierte Menschenrechtsorganisationen, wie der IHD (Menschenrechtsverein der Türkei), Göc-Der (Vereinigung für Rückkehr der Flüchtlinge), TIHV schätzen diese Zahlen allerdings weit höher ein. Die kurdischen Opfer wurden ihrer Lebensgrundlage und ihrer sozialen Umwelt beraubt. Sie fristen am Rande der Großstädte in bitterster Armut unter zumeist menschenunwürdigen und erbärmlichen Verhältnissen ihr Dasein. Sie warten ohne jegliche Perspektive noch immer darauf, in ihre Siedlungsgebiete zurückkehren zu können. Trotz der von Seiten des Staates vollmundig als "umfassendes Aufbauprogramm des Ostens und Südostens" angekündigten Projektes, sind in Sachen der vertriebenen Flüchtlinge, des Wiederaufbaus ihrer zerstörten Siedlungsgebiete und schließlich ihrer Rückkehr, bislang keinerlei konkrete Fortschritte erzielt worden.

Eigeninitiativen weniger Menschen, mit Hilfe von Menschenrechtsorganisationen in ihre nach der Zerstörung von offiziellen Seiten zu "verbotenen Zonen" erklärten Dörfer zurückzukehren, stehen oftmals konträr zum staatlichen Interesse am Wiederaufbau. Als Probleme kommen die mangelnde Bereitschaft der Behörden zur Zusammenarbeit, bürokratische Schikanen sowie übergriffe der so genannten einst vom Staat aufgebauten, mit Waffen versehenen "Dorfschützer" erschwerend hinzu. Angesichts der hoffnungslosen Lage der Flüchtlinge sind in erster Linie die gesellschaftlichen Kräfte in der Türkei, die EU und die deutsche Bundesregierung wegen ihrer Mitverantwortung aufgerufen, sich endlich und ernsthaft des Schicksals der kurdischen Binnenflüchtlinge anzunehmen. Konkrete Wiederaufbauprojekte sind notwendig, um die Stagnation in der Kurdenregion zu durchbrechen und den Wiederaufbau sowie die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat zu ermöglichen.

Die Einwohner der zerstörten Dörfer wurden ins Ungewisse vertrieben und siedelten sich in neu entstehenden Elendsquartieren der Großstädte der Türkei, vor allem in deren kurdischen Sprachgebiet ein. Die Flüchtlinge sind weitgehend verelendet, leben ohne sanitäre Einrichtungen, ohne sauberes Trinkwasser und ohne medizinische Versorgung. Gut die Hälfte der Kinder besucht entweder keine Schule oder hat nach kurzer Zeit die Schulausbildung beenden müssen. Die Familien leben überwiegend in Zelten, Baracken und anderen Notunterkünften. Die Flüchtlinge im Westen der Türkei erleiden oftmals verschiedene Formen der offenen Diskriminierung und werden Opfer polizeilicher Razzien.

Bettelnde Flüchtlingskinder in bestimmten Vierteln der Großstädte wie Istanbul gehören inzwischen zum gewohnten Alltag. Weit verbreitet ist die Kinderarbeit bis hinunter zu Vier- und Fünfjährigen. Obwohl keine genauen Statistiken vorliegen, berichten ärzte über eine unter den Flüchtlingen stark angestiegene Kindersterblichkeit. Die Selbstmordrate vor allem der Frauen liegt in den Elendsquartieren des türkischen Kurdistan zehnmal so hoch wie in der Westtürkei. Krankheiten wie Anämie und Rachitis grassieren. Notwendige Impfungen von Kindern werden kaum durchgeführt. Neunzig Prozent der Flüchtlinge möchte nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Göc-Der wieder in ihre Dörfer zurückkehren.

Christendiskriminierung nicht beendet

Beobachter der Situation der assyro-aramäischen Christen vor allem in Tur Abdin berichten von vielen Erleichterungen ihrer Situation. Flüchtlinge und Vertriebene sogar aus Westeuropa konnten in einige Dörfer zurückkehren. Der Unterricht in aramäischer Sprache wird nicht mehr behindert. Allerdings beklagt man, dass dieser Unterricht ebenso wenig offiziell anerkannt ist, wie die Volksgruppe insgesamt. Die Behörden machen Rücksiedlern Versprechungen, verzögern aber vielfach Baugenehmigungen, die Rückgabe von Grundstücken sowie den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur.

Außerordentlich bedenklich ist eine neue rassistische Kampagne des türkischen Erziehungsministeriums. Danach werden in Neuauflagen türkischer Schulbücher die Volksgruppen der Armenier, der Pontosgriechen und der Syrisch-Orthodoxen Christen (Assyrer-Aramäer) als Spione, Verräter und Barbaren bezeichnet, während man Synagogen, Kirchen und Minderheitenschulen als schädliche Einrichtungen darstellt.