27.12.2007

Somalia: Kein Ende des Zerfalls

aus: bedrohte völker_pogrom 244/245, 5-6/2007

Trotz der von den Kolonialmächten willkürlich gezogenen Grenzen bildeten die Somali-Völker im Horn von Afrika lange Zeit eine der ethnisch homogensten Gemeinschaften in der Region. Doch seit dem Sturz des Diktators Siad Barre im Jahr 1991 versinkt das Land immer mehr in Terror und Gewalt. Nachbarstaaten führen ihre Stellvertreterkriege auf somalischem Gebiet und instrumentalisieren dabei Rivalitäten zwischen einzelnen Clans. Für viele ausländische Staaten ist die Lage dort so unübersichtlich geworden, dass sie das Land als "Hort des Bösen" abschreiben. Für die Menschen in Somalia hat dies katastrophale Folgen, da nirgendwo in Afrika die humanitäre Lage so schlimm ist. Doch Frieden wäre möglich für Somalia, wenn alle somalischen Clans angemessen in einer neuen Regierung vertreten wären.

Somalia hat seit Diktator Siad Barre im Jahre 1991 gestürzt wurde, vierzehn Regierungen erlebt. Keine von ihnen hat es vermocht, eine Rückkehr zu einer funktionierenden Staatlichkeit herbeizuführen. Seit Barres Sturz kämpften rivalisierende Clans und Warlords im zerfallenden Land um die Macht. Auf dem Gebiet der Staatsruine Somalia ist die Situation für die Zivilbevölkerung nur in Somaliland und Puntland erträglich. Somaliland erklärte sich 1991 für unabhängig und hat seitdem die Entwicklung hin zu effektiven staatlichen Strukturen bewältigt. Puntland, eine Region im Norden Somalias, hat sich zwar 1998 für autonom erklärt, versteht sich aber weiterhin als Teil Somalias.

Schätzungen zufolge kamen 1991 in (Süd-) Somalia bis zu einer Million Menschen durch bewaffnete Kämpfe, Hungersnöte und Krankheiten ums Leben. Internationale Bemühungen um eine Befriedung des Landes blieben erfolglos. Das bekannteste Beispiel ist das Scheitern der US-geführten UNO-Missionen in den Jahren 1992-1995. Den entsandten Blauhelmen gelang es damals nicht, eine effiziente Verteilung von Hilfslieferungen zu organisieren und die beschlossene Waffenruhe zu sichern. Die vierzehnte, Ende 2004 eingerichtete Übergangsregierung wird vom ehemaligen Warlord Yusuf angeführt. Sie wird vom Nachbarn Äthiopien, der Afrikanischen Union und den Vereinten Nationen unterstützt. Ihre Gegenspielerin, die Union der Islamischen Gerichte hatte, übernahm in der zweiten Hälfte des letzten Jahres die Macht in Zentral- und Südsomalia. Sie wurde von islamischen Ländern wie Libyen, Ägypten und Saudi-Arabien unterstützt.

Als die Union der Islamischen Gerichte im Dezember 2006 den Sitz der Übergangsregierung in Baidoa einnehmen wollte, intervenierte Somalias Nachbar Äthiopien militärisch; die Islamisten überließen Mogadischu kampflos den Äthiopiern und gingen in den Untergrund. Die äthiopische Regierung fürchtete wie ihr Verbündeter USA die Entstehung eines islamischen Staates in Somalia. Ein solcher würde wahrscheinlich die von ethnischen Somalis dominierte Region Ogaden im Osten Äthiopiens beanspruchen. Seit Februar 2007 ist die Koalition aus äthiopischer Armee und Truppen der Übergangsregierung in Kämpfe mit Aufständischen verwickelt. Letztere sind vor allem Mitglieder der Union der Islamischen Gerichte und Mitgliedern des in Mogadischu dominierenden Hawyie-Clans. Sie boykottierten die im August in Mogadischu abgehaltene Nationale Versöhnungskonferenz und trafen sich stattdessen mit anderen Oppositionsgruppen in der Hauptstadt von Äthiopiens Erzfeind Eritrea, Asmara. Dort gründeten sie die "Allianz zur Befreiung Somalias". Eritreas Motiv für die Unterstützung der Aufständischen liegt im ungelösten Grenzkonflikt mit Äthiopien und dem Versuch, die äthiopische Regierung zu schwächen (siehe Bericht über Eritrea).

Die Aufständischen nutzen in Somalia mit ferngezündeten Bomben und Selbstmordanschlägen eine Taktik, deretwegen bereits von einer "Irakisierung" des Bürgerkrieges gesprochen wird. Bemühungen anderer afrikanischer Länder zur Befriedung Somalias blieben bisher erfolglos. Die Afrikanische Union hatte nach einem Beschluss des UN-Sicherheitsrates die Entsendung von 8.000 Soldaten versprochen, welche die unter der somalischen Bevölkerung verhassten äthiopischen Truppen ablösen sollten. Derzeit sind aber trotz finanzieller Unterstützung der USA und der Europäischen Union nur 1.600 ugandische Soldaten in Mogadischu stationiert.

Mehr als 1.000 Zivilisten sind seit Februar des Jahres im Zuge der Kämpfe zwischen den Aufständischen und den Regierungs- und äthiopischen Truppen getötet worden. Über 600.000 Menschen mussten seit Februar wegen der Kämpfe Mogadischu verlassen. Insgesamt wurden innerhalb Somalias, das eine Gesamtbevölkerung von neun Millionen besitzt, im Zuge der Kämpfe über 1.000.000 Menschen vertrieben. 1,5 Millionen Somalis benötigen dringend humanitäre Hilfe. Mogadischu wird von den Vereinten Nationen als der weltweit gefährlichste Ort für Mitarbeiter von Hilfsorganisationen eingeschätzt. Viele von ihnen haben deshalb das Land verlassen. Nur die Vereinten Nationen und einige wenige Hilfsorganisationen sind im Land verblieben. Soldaten der Übergangsregierung nahmen im Oktober 2007 den Landesdirektor des UN-Welternährungsprogramms wahrscheinlich wegen seiner Kritik an der Sicherheitslage in Somalia für kurze Zeit in Haft, obwohl laut internationalem Recht VN-Stützpunkte diplomatischen Schutz genießen.

Äthiopische Soldaten und die der Übergangsregierung nehmen ebenso wie die Aufständischen in Kauf, dass bei Kämpfen in bewohnten Gegenden Zivilisten getötet werden. Einwohner, die mit den äthiopischen Truppen Geschäfte machen, werden oft von Aufständischen angegriffen. So wurden Frauen erschossen, die äthiopischen Soldaten Milch verkauften. Schulkinder werden von den Aufständischen dafür eingespannt, Handgranaten auf Äthiopier zu werfen. Die Aufständischen feuern mit Mörsern auf vorwiegend von Zivilisten bewohnte Gegenden, töten gezielt Repräsentanten der Übergangsregierung und richten gefangene äthiopische und Regierungssoldaten im Schnellverfahren hin und verstümmeln danach deren Leichen. Äthiopische Truppen ihrerseits beschießen Hochburgen der Aufständischen mit Raketen, Mörsern und Artillerie, ohne Rücksicht auf die im humanitären Völkerrecht geforderte Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten. Die Äthiopier beschießen sogar Krankenhäuser und rauben dringend benötigte Medikamente. Somalische Journalisten, die über die Lage im Land berichten, werden sowohl von Aufständischen als auch von Regierungsvertretern durch willkürliche Verhaftungen, Schließungen von Medienanstalten und Todesdrohungen gegen Journalisten an ihrer Arbeit gehindert. Soldaten der Übergangsregierung beschossen im September dieses Jahres sogar einen unabhängigen Radiosender.

Ein Ende des Leids für die Zivilbevölkerung ist auf Grund der bisherigen politischen Konstellationen nicht absehbar. Die äthiopische Regierung hat jüngst weitere Soldaten nach Somalia geschickt. Solange aber die äthiopische Armee in Somalia ist, wird der Aufstand weitergehen. Die jetzige Übergangsregierung ist innerlich zerstritten und in der Bevölkerung unbeliebt. Eine breit akzeptierte Regierung müsste alle relevanten Gruppen des Landes einbeziehen, um Rückhalt in der Bevölkerung zu erhalten. Dies würde bedeuten, dass man auch den moderaten Teil der Islamisten berücksichtigt. Ein Ende des Stellvertreterkrieges zwischen Äthiopien und Eritrea auf somalischem Boden ist derzeit nicht zu erwarten. Da Eritreas Unterstützung der aufständischen Gruppen in direktem Zusammenhang mit den schlechten eritreisch-äthiopischen Beziehungen steht, wäre eine Normalisierung der Beziehungen dieser beiden Feinde jedoch eine wichtige Voraussetzung für eine Stabilisierung Somalias. Die USA und die Europäische Union müssen daher zusammen mit der Afrikanischen Union und den Vereinten Nationen auch den Konflikt zwischen Eritrea und Äthiopien entschärfen.