22.04.2005

Sinti und Roma in Deutschland

Vorurteile und Stereotype - Von der Aufarbeitung der NS-Verbrechen blieben die "Zigeuner" lange ausgeschlossen. Die Folgen sind bis heute spürbar.

Sinti und Roma leben seit über 600 Jahren in Deutschland. Hier, wie in anderen Staaten Europas, bilden die deutschen Sinti und Roma eine alteingesessene und historisch gewachsene Minderheit, die eine eigene kulturelle Identität besitzt. In ihren Familien verwenden sie neben dem Deutschen ihre eigene Sprache Romanes. Bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 waren Sinti und Roma als Nachbarn und Arbeitskollegen in das gesellschaftliche Leben und in die lokalen Zusammenhänge integriert. Dennoch wurden sie von Nazis ebenso wie die Juden vom Säugling bis zum Greis erfasst, entrechtet, gettoisiert und schließlich in die Todeslager deportiert. Der Rassenpolitik der Nationalsozialisten fielen mindestens zwei Drittel der deutschen Sinti und Roma zum Opfer, in ganz Europa wurden Schätzungen zufolge 500.000 Sinti und Roma durch die Einsatzgruppen der SS und der Wehrmacht ermordet und in die Gaskammern und Vernichtungslager getrieben.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erhielten Sinti und Roma nicht die materielle "Wiedergutmachung" und die Anerkennung für die erlittenen Verfolgungen, die die neu gegründete Bundesrepublik den jüdischen Opfern gewährte. Lange Zeit blieb der Völkermord an den Sinti und Roma auch in der Wissenschaft und in den Mahn- und Gedenkstätten ein Randthema, das allenfalls eine Fußnote wert war. Dies begann sich erst allmählich mit der politischen Selbstorganisation der Betroffenen und der Gründung der Bürgerrechtsbewegung Ende der 70er Jahre zu ändern. Die nationalsozialistischen Völkermordverbrechen an den Sinti und Roma aus Gründen der so genannten "Rasse" sind erstmals durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt anlässlich eines Empfangs einer Delegation des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma im Jahr 1982 politisch anerkannt worden.

Zu den weiteren Erfolgen der Bürgerrechtsbewegung zählte die Anerkennung der deutschen Sinti und Roma als nationale Minderheit im Mai 1995, ebenso wie die in Deutschland lebenden Dänen, Friesen und Sorben. Daraus leiten sich konkrete Ansprüche auf besonderen Schutz und Förderung ab, wie sie unter anderem in internationalen Abkommen wie dem "Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten" und der "Europäischen Charta für Regional- oder Minderheitensprachen" festgeschrieben sind. Große Probleme bestehen allerdings noch mit der Umsetzung dieser Abkommen. So hat beispielsweise nur das Bundesland Hessen die für die Ratifizierung notwendigen 35 Schutzbestimmungen des Teil III der Charta für das deutsche Romanes anerkannt.

Angehörige von Minderheiten werden, wie der Europarat im Jahr 2002 in seinem Bericht zu Deutschland festgestellt hat, in wachsender Zahl zu Opfern rassistischer Angriffe. So verübten beispielsweise am 24. Juli 2003 Neonazis im bayerischen Tirschenreuth einen Brandanschlag auf das Fahrzeug einer Sinti-Familie. Um Sinti und Roma, wie auch andere Minderheitenangehörige, wirksam zu schützen, sind die existierenden gesetzlichen Maßnahmen nicht ausreichend. Deshalb fordert der Zentralrat schon seit vielen Jahren vom Bundesrat eine Initiative zur Einführung des besonderen Tatbestands der "rassistisch motivierten Gewalttätigkeit durch einzelne und Gruppen" im Strafgesetzbuch.

Eine besondere Verantwortung bei der Verbreitung von Vorurteilen und Stereotypen über Sinti und Roma kommt den Medien zu. In öffentlichen und privaten Medien finden sich immer wieder Berichte, in denen Beschuldigte ohne Grund als Sinti/Roma oder "Zigeuner" bezeichnet werden. So wurden in einer Fernsehsendung des MDR vom 16. November 2003 auf Veranlassung der sächsischen Polizei Fahndungsaufrufe veröffentlicht, in denen es zu den gesuchten Beschuldigten hieß, sie wären "dem äußeren Anschein und der Bekleidung nach Sinti und Roma". Dies erinnert an die Praxis in der Zeit des Nationalsozialismus, wo nach einem Erlass von Reichsinnenminister Frick vom 7. Dezember 1935 "bei allen Mitteilungen an die Presse über Straftaten von Juden die Rassenzugehörigkeit hervorzuheben" war. Der Zentralrat hat in den Jahren 1995 bis 2003 insgesamt 434 Fälle dieser diskriminierenden Minderheitenkennzeichnung gegenüber dem Deutschen Presserat dokumentiert. Um diese Praxis wirksam zu bekämpfen, fordert der Zentralrat seit 1993 ein umfassendes Diskriminierungsverbot im Beamten- und Medienrecht.

Vor dem Hintergrund der NS-Völkermordverbrechen hat Deutschland eine besondere Verantwortung auch gegenüber den Roma-Minderheiten in den Staaten Ost- und Südosteuropas. Diese Verantwortung richtet sich ganz besonders auf die in Deutschland lebenden ausländischen Roma, bei denen es sich häufig um Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien handelt. Die Angriffe albanischer Extremisten auf Roma und Aschkali im Kosovo im März 2004 haben erneut deutlich gemacht, dass die in Deutschland lebenden Angehörigen der Minderheit nicht in diese Region abgeschoben werden dürfen. Die internationalen Organisationen wie die Vereinten Nationen und die Europäische Union sind aufgerufen, in Zusammenarbeit mit den nationalen Regierungen ausreichenden Schutz und Förderung für Roma und Sinti in ihren Heimatländern zu garantieren.

Infos

Zentralrat Deutscher Sinti und Roma: www.sintiundroma.de / zentralrat@sintiundroma.de

Literatur: In Ausschwitz vergast, bis heute verfolgt. Zur Situation der Roma in Deutschland und Europa, Hrsg. Tilman Zülch, Vorwort Ernst Tugendhat, Hamburg 1979 (Rororo aktuell 4430)

Aus einem Grußwort von Romani Rose an Tilman Zülch zu dessen 60.Geburtstag

"Lieber Tilman Zülch,

einer besonderen Würdigung bedarf natürlich Dein Engagement für unsere Minderheit. Ohne Unterstützung der Gesellschaft für bedrohte Völker wäre es nicht möglich gewesen, den in der deutschen Nachkriegsgesellschaft jahrzehntelang verdrängten und verleugneten Holocaust an den Sinti und Roma öffentlich bewusst zu machen. Unsere gemeinsame Gedenkveranstaltung im ehemaligen KZ Bergen-Belsen im Jahr 1979 war eine wichtige Station unserer Bürgerrechtsbewegung.

Erstmals wurde im Beisein politischer Repräsentanten wie Simone Weil unserer Opfer gedacht und eine öffentliche Diskussion über die nationalsozialistischen Verbrechen an den Sinti und Roma in Gang gesetzt, die mit dazu beigetragen hat, dass der Völkermord 1982 durch Bundeskanzler Helmut Schmidt erstmals politisch anerkannt wurde. All dies wäre ohne Deinen persönlichen Einsatz nicht möglich gewesen, und deshalb möchte ich Dir hierfür im Namen unserer Menschen von ganzem Herzen danken."