04.11.2009

Sie sind ein Genozidleugner, Herr Chomsky!

Offener Brief an Noam Chomsky und Amnesty International


Sehr geehrter Herr Chomsky,

liebe Freunde von Amnesty International,

 

nun treffen Sie zum zweiten Mal zu einem öffentlichen Auftritt zusammen, diesmal in Belfast. Wenn man ehrlich ist, war diese Stadt sehr lange Zeuge der Diskriminierung mindestens ihrer katholischen Bewohner. Doch jeder, der um die Kämpfe, Exzesse und Verbrechen weiß, ist erleichtert und froh, dass Protestanten und Katholiken Nord-Irlands zusammengefunden haben.

 

Die Gesellschaft für bedrohte Völker konzentriert sich darauf, Minderheiten zu unterstützen, die Opfer von Genozid und Vertreibung geworden sind. "Von denen keiner spricht" und "Auf keinem Auge blind" sind die beiden Leitlinien unserer Menschenrechtsorganisation, an denen wir unsere Arbeit orientieren, denn wir sagen: "Verfolgung, Vernichtung und Vertreibung, die Einrichtung von Konzentrations- und Vergewaltigungslagern sind immer und überall ein Verbrechen, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart, welches Regime auch dafür verantwortlich ist und auf welchem Kontinent und in welchem Land derartige Verbrechen verübt werden. Das Vermächtnis aller Opfer von gestern muss Anlass sein, den Opfern von heute zu Hilfe zu kommen."

 

Sie, Herr Chomsky, folgen dieser Leitlinie nicht! Sie nennen Völkermord erst dann Völkermord, wenn es Ihnen ideologisch passt. Wer würde nicht die dunklen Flecken amerikanischer Außenpolitik kritisieren und nicht wenige Schritte dieser Politik, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begünstigten oder auslösten, verurteilen. Aber Sie beurteilen die jüngste Verbrechensgeschichte törichterweise fast ausschließlich nach dem Kriterium, ob Völkermord von USA-nahen Bewegungen begangen worden ist. Nur dann ist es für Sie Genozid. Ihre politisch-ideologischen Freunde können offensichtlich keinen Völkermord begehen.

 

Das war so im Fall von Kambodscha, als die Weltpresse schon über den Massen-mord der roten Khmer an jedem dritten oder vierten Landesbewohner berichtete und Sie alle Verbrechen auf die USA schoben. Das war unsäglich und erinnerte jeden vernünftigen Menschen an die Holocaust-Leugner in verschiedenen Teilen der Welt.

 

Genauso leugnen Sie den Völkermord in Bosnien-Herzegowina von serbischen Milizen begangen an muslimischen Bosniern, aber auch Verbrechen an jenen serbischen und kroatischen Bosniern, die mit ihnen aushielten z.B. im eingeschlossenen Sarajevo. Dieses Verbrechen zu leugnen ist absurd, zumal sowohl das Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag als auch der Internationale Gerichtshof ebenfalls in Den Haag nicht daran gezweifelt haben, dass in Bosnien, nicht zuletzt in Srebrenica Genozid begangen wurde.

 

Gern werden wir für die anscheinend unpolitischen und ideologisch unvoreingenommenen Freunde von Amnesty International noch einmal die Fakten über den Genozid in Bosnien-Herzegowina zusammenfassen. Auch Sie, Herr Chomsky, sollten sie zur Kenntnis nehmen:

 

- 2-

 

1. Errichtung von über hundert Konzentrations-, Internierungs- und Vergewaltigungslagern mit über

 

200 000 zivilen Häftlingen

 

2. Ermordung von vielen Tausend Häftlingen in Konzentrationslagern wie Omarska, Manjaca, Keraterm, Trnopolje, Luka Brcko, Sušica und Foca

 

3. Systematische Verhaftung und Ermordung von Angehörigen der akademischen und politischen Eliten.

 

4. Flucht und Vertreibung von etwa 2,2 Millionen Bosniern und ihre Zerstreuung über vier Erdteile

 

5. Viele Tausend, von keiner Institution gezählte und nicht in die Statistiken eingegangene Todesopfer unter Kindern, Alten, Kranken und Verwundeten während Flucht und Vertreibung und deren Folgen

 

6. Einkesselung, Aushungerung, Beschießung und teilweise Liquidierung von 500.000 Bosniern, in so genannten UN-Schutzzonen bis zu vier Jahre (Tuzla, Goražde, Srebrenica, Žepa, Cerska und Bihac').

 

7. Fast vierjähriges Bombardement der sechsten so genannten UN-Schutzzone Sarajevo mit etwa 11.000 Toten, darunter 1.500 Kinder.

 

8. Massaker und Massenerschießungen in zahlreichen Gemeinden und Städten Nord-, West- und Ostbosniens (Posavina, Raum Prijedor und Podrinje).

 

9. Planmäßige Zerstörung Hunderter Dörfer und Stadtteile.

 

10. Totale Zerstörung der materiellen islamischen und weitgehend auch der katholischen Kultur, darunter 1 347 Moscheen und Medresen und bis zu 500 katholische Kirchen und Gemeindehäuser

 

11. Suche nach immer noch etwa 15.000 Vermissten und deren notwendige Exhumierung und Identifizierung.

 

12. Geiselnahme und Missbrauch von 284 UN-Soldaten als menschliche Schutzschilde

 

13. Vergewaltigung von mehr als 20.000 bosnisch-muslimischen Frauen in und außerhalb der Vergewaltigungslager

 

14. Ermordung von 8 376 Männern und Knaben der Stadt Srebrenica und deren Verscharrung in Massengräbern

 

Die Geschichte des Kosovo ist Kennern Südosteuropas bekannt: Kosovo wurde nach dem Zusam-menbruch des Osmanischen Reiches gegen den Willen der albanischen Mehrheit dem Königreich von Serben, Kroaten und Slowenen angegliedert und besetzt. Jugoslawische und serbische Regierungen haben dann in den 20-er, 30-er und 50-er Jahren Albaner in die Türkei vertrieben, sodass dort heute weit über eine Million Menschen albanischer Herkunft ansässig sind. Nach der schrittweisen Zerstörung der von Tito zu spät ausgerufenen Autono-mie des Kosovo haben dann Armee und Milizen von Slobodan Milosevic etwa 10.000 Albaner liquidiert und dann die Hälfte der Bevölkerung etwa eine Million Menschen in die Flucht getrieben. Die NATO hatte mit ihrer militärischen Intervention, deren Maßnahmen man im Einzelnen nicht akzeptieren muss, das Morden und Vertreiben beendet.

 

Wer wie Sie, Herr Chomsky, in einer Reihe von Fällen von Völkermord nicht zur Kenntnis nehmen will oder ihn leugnete, ist unglaubwürdig geworden. Deshalb stellen wir Ihre moralische Integrität in Frage und fordern Sie auf, sich in Belfast der Öffentlichkeit zu stellen und sich für Ihre bösartigen Worte bei den kambodschanischen, bosnischen und kosovarischen Genozid-Opfer zu entschuldigen.

 

Mit freundlichen Grüßen,

 

Tilman Zülch

 

Präsident der GfbV International