09.11.2015

Schwerer Schlag gegen Aufarbeitung des Stalinismus in Russland

„Forschungs- und Informationszentrum“ der Organisation Memorial als „ausländischer Agent“ eingestuft (News)

© Logo des Forschungs- und Informationszentrums von Memorial

Als einen weiteren „schweren Schlag gegen alle, die sich in Russland um die Aufarbeitung der Verbrechen Stalins verdient gemacht haben“ bewertet die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) die Entscheidung des russischen Justizministeriums vom 6. November 2015: Das in St. Petersburg ansässige „Forschungs- und Informationszentrum“ der Organisation Memorial wird ab sofort als „ausländischer Agent“ eingestuft und auf die entsprechende Liste des Ministeriums gesetzt. Schon 2013 und im Oktober 2014 versuchte die russische Regierung gegen die Internationale Gesellschaft Memorial und ihr angegliederte Organisationen vorzugehen. Memorial ist die größte, wichtigste und auch international bekannteste Menschenrechtsorganisation der Russischen Föderation.

Das St. Petersburger  „Forschungs- und Informationszentrum“ von Memorial hat seit seiner Gründung einmalige Arbeit bei der Dokumentation der stalinistischen Verbrechen geleistet. Es hat eine einzigartige Datenbank mit den Orten, wo Opfer des Stalinismus beerdigt wurden, erstellt. Außerdem initiierte es das Projekt „Virtuelles Gulagmuseum“. Da es in Russland kein nationales Museum gibt, in dem die Verbrechen des sowjetischen Terrors zentral vermittelt werden, werden in diesem Projekt Zeugnisse über diesen Teil der Geschichte gesammelt. Die Datenbank umfasst dabei Objekte, die in verschiedenen Museen und Sammlungen verstreut sind, sowie außermuseale Objekte wie Ruinen von Lagern und Strukturen oder auch Denkmäler. Ziel ist es, ein virtuelles Museum zu erschaffen, das an die Geschichte des Terrors erinnert und diese vermittelt. Diese Initiativen widersprechen dem Aufruf von Putin, der sich bereits 2007 für die Betonung der positiven Aspekte der russischen Geschichte aussprach. Die russische Regierung unter Wladimir Putin verfolgt seitdem eine Geschichtspolitik, die die Verbrechen Stalins verharmlost. Deswegen sind Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die sich für eine Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen einsetzen, ins Visier des Justizministeriums geraten. So auch die NGO Perm–36, die das Museum im stalinistischen Arbeitslager Perm-36 betrieb. Ihre Museumsmitarbeiter wurden durch Putin-treue Personen ersetzt und die NGO insgesamt als „ausländischer Agent“ registriert. Seitdem ist im Museum weder Stalin als Täter noch die Verantwortung der Sowjetführungen für die Millionen Gulag-Opfer dargestellt.

Das „Forschungs- und Informationszentrum“ der Organisation Memorial sowie die NGO Perm–36 sind zwei von mittlerweile 94 NGOs, die als „ausländische Agenten“ aufgelistet sind. Besonders Organisationen aus den Bereichen Menschenrechte und Umweltschutz sind von dieser Einstufung betroffen. Als „ausländischer Agent“ muss sich nach den Gesetzen aus dem Jahr 2012 jede NGO erklären, die politisch tätig ist und Gelder aus dem Ausland bezieht. Die Definitionen sind dermaßen unspezifisch, dass schnell deutlich wurde, dass das Gesetz dazu dienen soll, um die russische Zivilgesellschaft zum Schweigen zu bringen. Memorial lässt sich davon nicht einschüchtern. Die Organisation hat angekündigt, ihre Arbeit fortzusetzen und den Beschluss des Justizministeriums anzufechten.