07.04.2010

Schikanen und Mord von Menschenrechtsverteidigern

WRITTEN STATEMENT Russische Föderation

In seiner 97. Sitzung überprüfte der UN-Menschenrechtsrat den 6. Periodischen Bericht der Russischen Föderation über die Umsetzung des Internationalen Pakts über Bürgerliche und Politische Rechte. In den Schlussbetrachtungen hob der Menschenrechtsrat mehrere Bedenken hervor und forderte die Russische Förderation zu konkreten Maßnahmen auf, um diese zu beheben. In seiner laufenden Sitzung sollte der Menschenrechtsrat auf diese Anliegen achten und die folgenden schwerwiegenden und systematischen Menschenrechtsverletzungen zu Kenntnis zu nehmen. Die Region mit den meisten Menschenrechtsverletzungen bleibt der Nordkaukasus mit seinen drei Republiken Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan. Die von der russischen Regierung berichtete 30-prozentige Zunahme terroristischer Aktivitäten in 2009 beweist, dass Moskaus Politik der vergangenen Jahre gescheitert ist.

Machtinhaber sowie Behörden steigern ihre Gewalt gegen die Zivilbevölkerung eher als dass sie die Republiken stabilisieren. Diejenigen, die versuchen, Menschenrechte zu schützen und auf Ungerechtigkeit sowie Gewalt aufmerksam zu machen, befanden sich 2009 in erhöhter Gefahr. Nicht nur im Nordkaukasus, sondern in der ganzen Russischen Föderation zeigen die Behörden eine tiefe feindliche Einstellung gegenüber der Zivilbevölkerung, seien es Menschenrechtsverteidiger, unabhängige Journalisten oder Anwälte. 2009 nahmen die Drohungen gegen diese Personen massiv zu, ebenso wie gerichtliche Schikanen und Mord.

 

Schikanen und Mord von Menschenrechtsverteidigern

Der traurige Höhepunkt einer Mordwelle war die Ermordung von Natalja Estemirowa, einer führenden Menschenrechtsverteidigern, die am 15. Juli 2009 für die bekannte Organisation Memorial in Tschetschenien arbeitete. Bei der Verfolgung ihres Mörders wurden Menschenrechtsverteidiger und besonders Mitarbeiter von Memorial schikaniert und eingeschüchtert. Aus diesem Grund sahen viele von ihnen keine andere Möglichkeit, als die Republik und die russische Föderation insgesamt zu verlassen.

Am 10. August, kurz nach Estemirowas Ermordung, wurden Zarema Sadulayeva und ihr Ehemann Alik Dzhabrailov, die für die humanitäre Organisation "Save the Generation" arbeiteten, entführt und am nächsten Tag tot aufgefunden. Sie sollen vor ihrer Ermordung brutal gefoltert worden seien.

Im Oktober wurde Maksharip Aushev, ein bürgerlicher Aktivist in Inguschetien sowie prominentes Mitglied der Opposition, ermordet. Daraufhin wurden zahlreiche Angehörige seiner Familie sowie der Familie seiner Frau umgebracht, der letzte am 30. Januar 2010. Die Schikanierung von Menschenrechtsverteidigern setzt sich tagtäglich fort. Alleine am 8. Januar 2010 wurden drei Mitglieder einer russischen Menschenrechtsorganisation in der Shali-Region von Tschetschenien eingesperrt. Sie wurden 15 Stunden lang in Haft gehalten und später freigelassen. Das tschetschenische Innenministerium behauptete, dies sei eine Routinekontrolle gewesen. Die Gesellschaft für bedrohte Völker ist überzeugt, dass echte Menschenrechtsarbeit in Tschetschenien nicht mehr möglich ist und dass Menschen, die über Menschenrechtsverletzungen berichten, in großer Gefahr sind. Die Schikanierungen sind systematisch geworden und müssen mit größtmöglicher Eile angegangen werden.

 

Todesschwadronen, Geheimgefängnisse und Entführungen im Nordkaukasus

Laut einem kürzlich vorgelegten UN-Bericht sowie Interviews mit dem UN-Sonderberichterstatter Manfred Nowak funktioniert das System der "Todesschwadronen", das von den russischen Kräften in Tschetschenien aufgebaut wurde, noch immer und hat sich bis zu den Republiken Ingushetien und Dagestan ausgebreitet. In Geheimgefängnissen werden Menschen systematisch gequält. "Niemand anderes hatte so viel Angst davor, mit uns zu reden, wie die Männer des Kaukasus", berichtete Nowak nach vielen Gesprächen mit früheren Häftlingen in geheimen Gefangenenlagern auf der ganzen Welt. Geheimgefängnisse bestehen nach wie vor in Tsenteroy, Gudermes, Shali und Urus-Martan. Dieses System von "Todesschwadronen" und geheimen Gefangenenlagern operiert seit einem Jahrzehnt. Schätzungen der Menschenrechtsorganisation Memorial zufolge verschwanden etwa 3.000 Menschen "ohne Spur”. Die Zahl der Entführten, Gefolterten und später Freigelassenen ist viel höher. Sie übersteigt deutlich die Zahl vergleichbarer Praktiken in Argentinien unter der Junta in den späten 1970ern und frühen 1980ern sowie die Morde in der Sowjetunion während des Großen Terrors von 1937 bis 1938. Mit Zustimmung der russischen Führung wurde in den Republiken des Nordkaukasus ein System der Angst und Straffreiheit errichtet. Opfer von Menschenrechtsverletzungen und ihre Verwandten erzählen niemandem über ihre Schicksale, da sie weitere Repressalien fürchten. Sogar Flüchtlinge, die nun in Europa sind, haben Angst um ihre Sicherheit. Diesbezüglich hat sich die Situation, verglichen mit den Anfängen dieses Jahrzehnts, dramatisch verschlechtert. Ohne die Geständnisse der Opfer ist es schwierig, die Täter vor Gericht zu bringen. Die einzige funktionierende rechtliche Institution ist der Europäische Menschenrechtsrat. Dieser hat Russland in über 120 Regelungen für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien verantwortlich gemacht. Obwohl Russland die Entschädigungs- und Rechtsabgaben, die ihm durch die Regelungen aufgezwungen werden, regelmäßig bezahlt, hat es, wenn überhaupt, selten diejenigen Beamten bestraft, die diese Verbrechen begangen haben oder seine Politik in diesem Bereich geändert. Nun hat Russland die Beamten des Europarats, die den Auftrag haben, den Bericht über Geheimgefängnisse vorzubereiten, davon abgehalten, die Russische Föderation zu betreten. Noch weniger Informationen über das System der geheimen Gefangenenlager und Todesschwadronen werden deshalb in Zukunft ins Ausland dringen.

 

Gesundheitssituation der tschetschenischen Bevölkerung

Das tschetschenische Gesundheitssystem ist nicht in der Lage, angemessen auf die Bedürfnisse der tschetschenischen Bevölkerung einzugehen. Es gibt nicht genügend Spezialisten und die Ausstattung der Krankenhäuser ist unzureichend. Die medizinische Versorgung in den Dörfern ist besonders schlecht und Medikamente sind für den einfachen Tschetschenen zu teuer. Die ärztliche Betreuung von Kindern, Jugendlichen und Frauen bleibt weit hinter russischen Standards zurück. 80 Prozent aller Kinder in Tschetschenien benötigen psychotherapeutische Behandlung. Auch diese wichtige Leistung wird nicht erbracht.

Der Prozentsatz von Menschen mit Leukämie ist hoch. 14.000 Kindern fehlt ein Fuß oder eine Hand. 2.000 Kinder sind blind, 10.000 leiden an neurologischen Erkrankungen und 450 Kinder sind nach den schweren Bombardements stumm. Jedes dritte oder vierte Kind wird mit einer Behinderung geboren, einigen fehlt ein Organ, anderen eine Hand oder ein Fuß. Diese Informationen lieferte der bekannte tschetschenische Chirurg Chasan Baiev, der seinen Wohnsitz in den USA hat, aber regelmäßig reist und Operationen in Tschetschenien durchführt.

 

Rassistisch motivierte Verbrechen

Die Gesellschaft für bedrohte Völker ist über die Zahl der rassistisch motivierten Vergehen in der Russischen Föderation und über die rechtlichen Antworten auf dieses Problem sehr besorgt. Laut der führenden Organisation auf diesem Gebiet, dem "Sova-Zentrum", wurden 2009 aufgrund von Rassismus 60 Personen ermordet und 306 verletzt. Die Organisation verzeichnete 114 Fälle von Vandalismus, allein 22 gegen jüdische Institutionen, 15 gegen die orthodoxe Kirche und sieben gegen muslimische Organisationen. Wanderarbeiter von zentralasiatischen Staaten stellten die am stärksten betroffene Gruppe dar. 14 Usbeken wurden ermodert und zwölf verletzt, was sie zur größten Opfergruppe aus einem einzigen Land macht. Obwohl hinsichtlich der rechtlichen Antworten auf dieses Problem leichte Verbesserungen festgestellt werden können, sind einige Gerichtsentscheide nach wie vor skandalös. Am 6. Januar 2010 beispielsweise entschied das Gericht von Novosibirsk im Falle von Abdulatip Tursunov, der im Oktober 2008 von einer Gruppe Skinheads ermordet worden war. Er hatte 29 Stichwunden zugefügt bekommen, die schließlich zu seinem Tod führten. Nur einer der Täter wurde verurteilt. Die anderen wurden auf Bewährung freigelassen. Die Gesellschaft für bedrohte Völker betrachtet dies als eine Entscheidung, die andere Menschen nicht von ähnlichen Vergehen abhalten wird.

 

Indigene Völker

Indigene Völker in der Russischen Föderation, die so genannten wenigen Völker von Sibirien, dem Norden und dem fernen Osten, sind - abgesehen von Wanderarbeitern - Opfer der weltweiten Finanzkrise, die schwerwiegende Auswirkungen auf die russische Wirtschaft hatte. Der russische Staat versuchte in dieser Krisenzeit, Russlands reiche Naturvorkommen möglichst erschöpfend auszubeuten. Fischfangquoten stiegen derart an, dass die Fischbestände der Flüsse und Bäche in Gefahr sind; in einigen sensiblen Umgebungen wurde Erdöl- und Gasförderung unterstützt. Dies hat extrem negative Auswirkungen auf die indigene Bevölkerung, in deren Gebieten sich die meisten dieser Naturressourcen befinden. Die Rechte, die die russische Verfassung den indigenen Völkern gewährt, werden in den betroffenen Gebieten systematisch unterlaufen. Zwei Beispiele sollen die Dringlichkeit der Lage verdeutlichen:

Die Yamal-Nenzen, eine Gruppe halbnomadischer Rentier-Züchter auf der Yamal-Halbinsel, die sich in die Karasee erstreckt, befürchten, dass Gasförderung zu einer teuren und bleibenden Zerstörung der Umwelt führt. Es wurden acht parallel laufende Pipelines für den Gastransport geplant, die jedoch die Wanderwege der Rentiere unterbrechen und die Winter- von den Sommerweiden trennen. Deutschland wird einer der Gasimporteure sein, der am meisten von diesem Projekt profitiert. Die Nenzen berichten, dass die Baugebiete verschmutzt und Tiere dort bereits verendet seien. Es werden schwere Maschinen benutzt, die nicht nur die Baugebiete selbst, sondern auch weite Gebiete der Umgebung zerstören. Die Nenzen fordern die Einrichtung einer fachgutachterlichen Umweltüberwachung. Weder die russische Regierung noch beteiligte Unternehmen reagierten bislang auf ihre Proteste.

Die Ewenken am Unterlauf des Flusses Tunguska fürchten um ihr Land. RusHydro, eine staatlich kontrollierte Firma, plant den Bau von Russlands größtem Wasserkraftwerk. Die Indigenen haben Angst, dass der resultierende Stausee das Ökosystem der Region grundlegend verändert und radioaktive Sole, die sich durch unterirdische Atomwaffentests in den 1970ern in Kammern unter der Erdoberfläche gesammelt hat, aus dem Boden treten lässt. Der Damm - nun Evenkia genannt - ist Teil von Russlands Plan, seine Wasserkraftproduktion bis 2020 zu verdoppeln. Mit einer Kapazität von acht bis zwölf Gigawatt wäre es eines der weltweit größten Wasserkraftwerke. Die Ewenken haben jedoch beschlossen, nicht zu warten. Sie sind staatlich anerkannt als eine von 40 indigenen Gruppen in Sibirien und dem fernen Osten mit weniger als 50.000 Menschen - eine Bezeichnung, die ihnen das Recht zusichert, auf ihrem angestammten Land zu bleiben. "Das Projekt ist völlig schädlich für die Ewenken", sagte Stanislav Uvachan, der einen Ortsverband der Ewenken leitet. Der Stausee würde bis zu 7.000 Ewenken aus fünf Dörfern vertreiben, darunter 5.000, die noch immer der traditionellen Lebensweise, geprägt durch Fischfang und Rentierzucht, folgen.

Der Damm am Unterlauf des Flusses Tunguska würde etwa eine Million Hektar Primärwald fluten, was das Ökosystem lokal und überregional verändern würde. Zusätzlich würden die sich zersetzenden Bäume Sauerstoff aus dem Wasser ziehen und dadurch das Fisch- und Pflanzenleben des Flusses vernichten. Das Flutgebiet würde ein Gebiet überschwemmen, das früher für unterirdische Atomwaffentests verwendet wurde, und dadurch radioaktive Sole aus dem Boden lösen.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker fordert den UN-Menschenrechtsrat auf:

  • die beschriebenen schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen öffentlich mit den Repräsentanten der russischen Regierung zu besprechen und folgendes zu fordern:

  • die Einladung des UN- Sonderberichterstatters für Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen oder Bestrafungen in die Russische Föderation und Zugang zum Nordkaukasus und den illegalen Gefängnissen dort.

  • die Einladung der UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechtsverteidiger, Rassismus und die Situation von Menschenrechten sowie Grundfreiheiten von indigenen Völkern.

  • das Problem, dass die Beschlüsse des Europäischen Menschenrechtsrats nicht umgesetzt werden, anzusprechen.

  • der russischen Regierung mitzuteilen, dass die indigene Bevölkerung der Russischen Föderation besonders verletzlich ist und beschützt werden muss, wie es in der russischen Verfassung und internationalen Gesetzgebung garantiert wird.