09.08.2005

Reichtum der Arktis wird Ureinwohnern zum Verhängnis

Foto: Karl-Heinz Raach

Göttingen
Umweltzerstörung durch Öl- und Gasförderung

Russland ist mit einem Fördervolumen von nahezu 500 Millionen Tonnen Erdöl allein im ersten Halbjahr 2005 größter Ölproduzent der Welt – mit oft verheerenden Folgen für Flora und Fauna und nicht zuletzt für die rund 40 Ureinwohnervölker in Sibirien und auf der Insel Sachalin. Ihre Lebensgrundlage ist unmittelbar bedroht. Acht bis zehn Prozent des russischen Erdöls sickern aus maroden Pipelines, verschmutzen Böden und Gewässer. Durch den Genuß von vergiftetem Fisch, Fleisch oder Wasser erkranken die Menschen. Die Zahl hochgradig belasteter oder schon biologisch toter Flüsse, Bachläufe und Seen steigt, der Fischbestand nimmt stetig ab. Rentierzüchter finden immer wieder giftige Öllachen auf den Weiden ihrer Tiere. Seit Jahrzehnten sind die Indigenen von diesen unmittelbaren Auswirkungen der Öl- und Gasförderung auf ihre Umwelt, ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen betroffen. Jetzt hat ihr Kampf ums Überleben eine neue Dimension erhalten. Denn für die Bewohnerinnen und Bewohner der Arktis sind die Auswirkungen des Klimawandels bereits massiv spürbar.

Dramatische Folgen: Klimawandel bedroht Ureinwohner

Die Verbrennung fossiler Energieträger wie Erdöl und Ergas trägt wesentlich zum Klimawandel bei. Er vollzieht sich in der Arktis zwei- bis dreimal so schnell wie im globalen Durchschnitt. Die Ureinwohner der Arktis – die Inuit, Ewenken, Jakuten, Nenzen und viele andere Indigene in Sibirien, Kanada, aber auch in Alaska – haben keine Chance, mit den rasanten Veränderungen Schritt zu halten, obwohl sie es gewohnt sind, ihre Lebensweise der Umwelt anzupassen und flexibel auf Wetteränderungen zu reagieren. Sie sind seit Jahrhunderten Selbstversorger und leben von der Jagd auf Eisbären, Walrosse, Robben und Karibus, von der Rentierhaltung, dem Fischfang sowie vom Sammeln von Wildfrüchten. Jetzt werden die Winter in der Arktis immer kürzer und wärmer, das Packeis wird dünner und brüchiger. Die Zahl der Eisbären, Walrosse und Robben sinkt.

Sie leiden unter Nahrungsmangel und können immer weniger Junge aufziehen. Karibu- und Renttierherden ändern ihre Wanderrouten, Stürme bedrohen Küstenlinien. Weil der Permafrostboden taut, ist u.a. die Stabilität von Ölpipelines bedroht.

Sibiriens wertvolle Ressourcen

 

Erdöl, Erdgas, Uran, Gold und Diamanten sowie Holz sind Exportschlager aus Sibirien. Die Rohstoffe aus dem Land der 200.000 Ureinwohner im Hohen Norden Russlands sind begehrt in energiehungrigen Industriestaaten des Westens und des Fernen Ostens. Deutschland bezieht mit 35 Millionen Tonnen rund 30 % seines importierten Erdöls sowie mit 35 Mrd. Kubikmetern 40 % seines importierten Erdgases aus Russland. Über die Ausbeutung des riesigen Erdgasfeldes Yushno Russkoje im westsibirischen Tiefland hat die BASF-Tochter Wintershall im April 2005 ein Kooperationsabkommen mit dem russischen staatlichen Konzern Gazprom geschlossen.

Küsten-Dorf in Alaska unbewohnbar

Die 600 Inupiat aus dem Dorf Shishmaref auf einer seit 400 Jahren besiedelten Insel vor der Küste Alaskas werden ihre Häuser in den nächsten Jahren aufgeben müssen. Ihnen wird buchstäblich der Boden unter den Füßen weggerissen. Gewaltige Wellen haben ganze Küstenabschnitte ins Meer gespült - mit Wohnhäusern, Straßen, Wasser- und Stromleitungen. Viele Häuser mussten bereits weiter ins Landesinnere versetzt werden. Auch um ihre Nahrungsmittelversorgung müssen die Ureinwohner fürchten. Denn das Eis, über das sie Anfang November von ihrer Insel zum Festland zur Elch- und Karibu-Jagd gehen konnten, ist weggetaut. Die Bucht ist zum offenen Gewässer geworden.

Der Klimawandel mit seinen steigenden Jahresdurchschnitts-temperaturen brachte den Menschen in der Arktis schwere Seestürme, irreparable Küstenerosion, schwindendes Meereis und tauender Permafrostboden. Insgesamt 184 Gemeinden sind in Alaska von Erosion und Überflutung bedroht. "Wir sind in Panik, weil wir soviel Land verlieren", sagt Robert Iyatunguk aus Shishmaref, "wenn unser Flughafen überschwemmt wird, können wir eine Luftevakuierung vergessen."

Privatisierung entzieht Indigenen Lebensgrundlage

Nicht nur die Veränderungen, die der Klimawandel Mensch und Natur bringt, sind bedrohlich. Für die Ureinwohner Sibiriens birgt auch der neue Waldkodex Gefahr. Das russische Parlament (Duma) wird ihn am 17. September in zweiter Lesung verabschieden. Der Kodex soll die Privatisierung der riesigen Wälder Si-biriens ermöglichen. Sie können dann meistbietend ersteigert werden. Wenig später sollen die Besitzverhältnisse für russische Bodenschätze geregelt werden. Der Internationale Währungsfonds IWF fordert die Privatisierung schon länger, um ausländischen Unternehmen den Zugang zum russischen Markt zu erleichtern. Verlierer werden die Ureinwohner sein. Denn sie können weder große Summen auf ihr traditionelles Gebiet bieten noch werden sie Verhandlungspartner für interessierte Investoren sein. Geschäfte sollen nur über Moskau abgewickelt werden.

Leiden wird auch die Natur, wenn das Holz der nur sehr langsam wachsenden nordischen Wälder in großem Stil geschlagen wird. "Was bleibt uns noch, wenn Land, Wasser und die Schätze, die unter unserer Erde verborgen sind, an Konzerne verkauft werden?", fragt Nadeshda Novik von der indigenen Organisation Lauravetlan. Und auch der Vizepräsident der "Assoziation der kleinen Völker des Russischen Norden" (RAIPON), Michail Todyschev, bat die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) am Rande der UN-Arbeitsgruppe der Indigenen in Genf Mitte Juli 2005 um Hilfe: "Unser Überleben ist akut bedroht."

DAS TUT DIE GESELLSCHAFT FÜR BEDROHTE VÖLKER

Mit E-Mail-, Brief- und Postkartenkampagnen hat die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) gegen Umwelt zerstörende Ölförderprojekte in der Arktis protestiert. Vor dem G 8-Gipfel in Gleneagles wandten wir uns mit Forderungen nach neuen Bestimmungen zum Klimaschutz an die mitwirkenden Regierungschefs. In Zusammenarbeit mit betroffenen Indigenen aus Sibirien informierten wir am Rande der UN-Arbeitsgruppe für indigene Belange in Genf über die Bedrohung der arktischen Ureinwohner. Gemeinsam erarbeiteten wir einen Forderungskatalog, der UN-Hochkommissarin Louise Arbour, dem UN-Sonderberichterstatter Rudolfo Stavenhagen sowie den EU-Umweltministern übergeben wurde.

DIE BEWOHNER DER ARKTIS BRAUCHEN IHRE HILFE! DAS KÖNNEN SIE TUN:

> Informieren Sie sich und andere: Die GfbV hält Hintergrundpapiere über den russischen Waldkodex und die Öl- und Gasförderung in Sibirien für Sie bereit (Tel. 0551 499 06-11, info@gfbv.de oder zum Herunterladen auf www.gfbv.de)

> Schicken Sie die Postkarte an Wintershall ab und fordern Sie das Unternehmen auf, strenge Umweltschutzvorkehrungen in Sibirien zu treffen, um möglichst wenig Schaden durch die Ausbeutung der Gasvorkommen anzurichten. Karte weg? Einen Vorschlagstext finden Sie auch auf unserer Homepage www.gfbv.de

> Unterstützen Sie indigene Organisationen im Kampf gegen die Folgen des Klimawandels. Die Forderungen und einen ausführlichen Text zum Klimawandel finden Sie ebenfalls auf unserer Homepage.

>> Das Eis erhält das Leben. Es bringt die Meerestiere aus dem Norden in unser Gebiet, und im Herbst vergrößert es unser Land. Wenn es entlang der Küsten gefriert, gehen wir hinaus aufs Eis, um zu fischen, Meeressäuger zu jagen und zu reisen… Wenn es anfängt, schneller aufzubrechen und zu verschwinden, dann hat das dramatische Folgen für unser Leben. << Caleb Pungowiyi Nome, Alaska