12.12.2008

Rede zum 60. Jahrestag der UN-Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes anlässlich des 40. Jubiläums der Gesellschaft für bedrohte Völker

Redebeitrag von Tilman Zülch

Tilman Zülch

Historiker betrachten das 20. Jahrhundert als "Jahrhundert des Massenmords" – doch die Kette der Genozide reißt nicht ab. Heute schaut die Weltöffentlichkeit auf Darfur und erwartet eine Rettungsaktion, die noch immer auf sich warten lässt. Seit 40 Jahren widmet die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) – gegründet 1968 als Reaktion auf den Genozid in Biafra – ihre Menschenrechtsarbeit dem Kampf gegen Völkermord und Vertreibung, Verfolgung und Diskriminierung ethnischer und religiöser Gemeinschaften. Deshalb hat heute unsere Menschenrechtsorganisation zum 60. Jubiläum der Verabschiedung der Konvention der Vereinten Nationen zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes zu dieser Gedenkfeier zum Thema: IMMER WIEDER? NIEMALS WIEDER!, aber auch zu Ehren ihres Initiators des jüdischpolnischen Rechtsanwaltes Raphael Lemkin, im Dom zu Berlin aufgerufen.

Während man sonst überall im Lande in dieser Woche den Tag der Menschenrechte begeht, ist dieses heute die wohl einzige große Ehrung von Lemkin und seiner Konvention in Deutschland. Sie wurde zwar oft genug missachtet, aber sie wurde doch Grundlage dafür, dass nicht nur die Gesellschaft für bedrohte Völker, sondern Menschenrechtsinitiativen, Kirchen und andere religiöse Institutionen, Wissenschaftler, Journalisten, Parlamentarier und sogar Regierungen Genozide dokumentiert und verurteilt haben und Opfern zur Hilfe kamen. Und letzten Endes gehen die neugeschaffenen Kriegsverbrecher-Tribunale in Den Haag, vornehmlich für Bosnien Herzegowina und in Arusha für Ruanda, ebenso wie der internationale Strafgerichtshof in Den Haag, auf die Initiative Raphael Lemkins zurück.

Genozid ist keine Naturkatastrophe, kein schicksalhaftes, unvermeidbares Ereignis. Genozid wird von Menschen begangen, von skrupellosen Regimes, von brutalen Diktaturen, von fanatisierten Bewegungen und Parteien. Genozid, Massenvergewaltigung und Vertreibung geschehen auch deshalb, weil allzu oft die internationale Öffentlichkeit schweigt, weil einzelne Medien, Parteien, verantwortliche Politiker und internationale Unternehmen Verbrechen relativieren, tabuisieren oder gar Täter-Regimes unterstützen.

"Niemals wieder!" lautete der Schwur der befreiten Häftlinge von Buchenwald und vieler Überlebender der furchtbaren Verbrechen des Dritten Reiches. "Niemals wieder!" war aber auch die Botschaft der Alliierten, als sie die nationalsozialistischen Haupttäter bei den Nürnberger Prozessen zur Verantwortung zogen. Unter dem Eindruck des Holocaust, der Vernichtung von sechs Millionen Juden, des Genozids an Sinti und Roma, der Ermordung der deutschen Behinderten, der Verfolgung und Liquidierung von tausenden deutschen Nazi-Gegnern, von Zeugen Jehovas und Homosexuellen, der NS-Verbrechen in Osteuropa, hatte die

Generalversammlung der Vereinten Nationen in ihrer Resolution Nr. 69 schon am 11. Dezember 1946 erklärt, dass Völkermord auch nach internationalem Recht ein Verbrechen sei, das dem Geist und den Zielen der Vereinten Nationen und der ganzen zivilisierten Welt zuwider läuft.

Das dieser Ungeist, selbst gegen die Opfer des Holocaust, noch sehr lebendig ist, erweist die atomare Drohung des iranischen Terrorregimes gegen Israel, ebenso, wie der schreckliche Anschlag gegen das jüdische Zentrum in Bombay vor wenigen Tagen.

Unter ständiger Missachtung der UN-Konvention Lemkins wurden seither Völkermordverbrechen in fast ununterbrochener Folge erst während der Entkolonialisierung, nicht nur in Algerien, Madagaskar oder Vietnam verübt, sondern seither vor allem an Minderheitenvölkern in Staaten der Dritten Welt. Oft stellten sie willkürlich gezogene Grenzen in Frage oder wehrten sich gegen Unterdrückung, Verfolgung oder Vertreibung. Um nur einige der Opfer zu nennen: die irakischen Kurden und Christen, die Tibeter, Nagas und Oromos, die Völker Westpapuas und Ostbengalen, Biafras, Eritreas, des Südsudan, der Nuba-Berge und Osttimors, indianische Gemeinschaften Guatemalas und des Amazonas, die Tutsi Ruandas und die Hutu Burundis. Nach der Vernichtung von 400.000 Angehörigen schwarzafrikanischer Völker Darfurs, warten Millionen Menschen dort auf eine wirksame Intervention zum Schutz ihres Lebens.

An den meisten dieser Massenmorde waren nicht nur Machthaber der Dritten Welt, sondern fast immer auch Regierungen in Ost und West beteiligt. Bewegt von ökonomischen oder strategischen Interessen stützten sie Kriegsverbrecher, beteiligten sich an dem Verschweigen von Genoziden, lieferten Waffen oder stellten Militärberater. So war die Gesellschaft für bedrohte Völker 1998 verurteilt worden, obwohl sie deutschen Firmen die Beteiligung am Aufbau der irakischen Giftgasindustrie nachgewiesen hatte. Erst unsere Berufung auf eine Quelle der "Jerusalem Post" führte zu unserem Freispruch. Wir sind dankbar, dass der Bürgermeister von Halabja heute unter uns ist. Im Frühjahr 1991 wurde ich dann in Jerusalem Zeuge von Scut-Raketen-Angriffen. Auch am Bau dieser Waffe Saddam Husseins waren deutsche Firmen beteiligt.

Wir haben nie erwartet, dass die europäischen Regierungen 1992-1995 den Völkermord an den bosnischen Muslimen hinnehmen oder zum Teil sogar unterstützen würden, dass die Reichspogromnacht sich in Bosnien wiederholen könnte. Dort zerstörten serbische Truppen 1188 Moscheen. Nur eine blieb im serbisch besetzten Landesteil erhalten. Marek Edelman, letzter Überlebender Kommandeur der Freiheitskämpfer des Warschauer Ghettos, erklärte auf der Bosnien-Gedenkveranstaltung der GfbV 1993 in Buchenwald verbittert: "Europa hat aus dem Holocaust nichts gelernt, Bosnien ist ein posthumer Sieg für Hitler". Auch unser langjähriger Fürsprecher Simon Wiesenthal fühlte sich "an Bestandteile des Holocaust" erinnert. Beide haben die GfbV-Arbeit begleitet und selbstlos unterstützt. Genozid, Vertreibung, Massenvergewaltigung, die Errichtung von Konzentrations-, Internierungs- und Vergewaltigungslagern sind immer und überall Verbrechen, in der Gegenwart wie in der Vergangenheit. Seit vier Jahrzehnten, seit dem "bethlehemischen Kindermord" im eingeschlossenen Biafra, hat sich die Gesellschaft für bedrohte Völker, wie keine andere Institution in Deutschland, konsequent, unbeirrt und beharrlich gegen diese Verbrechen gewandt, getreu ihrer Leitlinie "Auf keinem Auge blind". Wer immer die Täter waren, wir haben sie benannt, wer immer die Opfer waren, wir sind für sie eingetreten. Und das unabhängig von politischen Stimmen – von Links oder Rechts -, die diesen oder jenen Völkermord nicht wahrhaben wollten.

"Niemals wieder!" darf nicht abstrakte Forderung bleiben. So müssen wir heute alle mitwirken, den Völkermord in Darfur schnell zu beenden. Am 29. November 2007 erinnerte die Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland, Frau Charlotte Knobloch, bei unserer gemeinsamen Mahnwache der internationalen Bewegung "Save Darfur" vor dem Holocaustdenkmal in Berlin:

"Sie alle wissen, dass ich immer wieder betone, wie wichtig es ist, die Erinnerung an die Vergangenheit wach zu halten. Sie alle wissen aber auch, dass diese Forderung oftmals auf Abneigung und Missfallen stößt und beinahe abfällig von "Vergangenheitsbewältigung" gesprochen wird. Ich möchte heute darauf hinweisen, dass wir die Gegenwart – nicht nur die Vergangenheit – zu bewältigen haben. Die Geschichte können wir nicht umschreiben. Aber unsere Gegenwart können wir aktiv gestalten. Wir sollten dies im Bewusstsein schrecklicher Verbrechen tun, die auch deshalb möglich waren, weil zu viele Menschen einfach nur zugeschaut haben. Die Vergangenheit – meine Damen und Herren – hat uns ein sehr präzises Vermächtnis hinterlassen. Es lautet: Nicht noch einmal. Nie wieder."

Für solches Handeln besitzen wir Vorbilder. Schon Ende 1969 unterzeichneten die größten unserer damals lebenden Intellektuellen den Appell der Biafra-Hilfe, aus der die Gesellschaft für bedrohte Völker

hervorging, gegen den von der britischen und sowjetischen Regierung unterstützten furchtbaren Hungermord an den Ibos. Zu den Unterzeichnern gehörten Ilse Aichinger und Stephan Andres, Ernst Bloch und Heinrich Böll, Paul Celan, Erich Kästner, Martin Niemöller, Robert Neumann und Carl Zuckmayer. Darin heiß es: "Es sollte für jeden Deutschen, dem es mit der Überwindung der Vergangenheit ernst ist, unerträglich sein, dass sich in Biafra unter Mitwirkung eines engen Verbündeten der Bundesrepublik das wiederholt, was sich seiner Zeit in Deutschland ereignete. Die Vernichtung eines Volkes. Das Stillschweigen über diese Politik unseres britischen Verbündeten bedeutet Mitschuld".

Zu diesen Vorbildern als wegweisende Persönlichkeiten gehören auch Raphael Lemkin und Victor Gollancz, der große britisch-jüdische Verleger und Humanist und Mittler der deutsch-britischen Versöhnung. Zwölf Jahre lang dokumentierte Gollancz die Nazi-Verbrechen, setzte sich für die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge in England ein, und initiierte dann nach Kriegsende sofort eine humanitäre Luftbrücke für ostdeutsche Flüchtlingskinder. Beide, Lemkin und Gollancz, setzten sich schon zu ihrer Zeit über die Regeln der "Political Correctness" hinweg. Sie verurteilten auch die Bombenmassaker von Hiroshima, Nagasaki oder Dresden und wandten sich gegen die Vertreibungsverbrechen an Ostdeutschen. Auch deshalb ist es ein Skandal, dass die ostpreußischen Wolfskinder in Litauen um ihre Einbürgerung kämpfen müssen, dass die noch lebenden Opfer der Massenvergewaltigung keine Rente erhalten und ihre Traumata weder zur Kenntnis genommen oder verdrängt werden. Wir wollen keine ideologischen Scheuklappen. Aus Liebe oder Vorliebe zu einer Nation, Sprachgruppe, religiösen Gemeinschaft, Ideologie oder Regierung dürfen Verbrechen gegen die Menschlichkeit niemals gerechtfertigt werden. So gibt es also viele Gründe, die Gesellschaft für bedrohte Völker auch in den nächsten 40 Jahren zu unterstützen, darum bitten wir Sie!

Die Gesellschaft für bedrohte Völker fordert heute Journalisten und Publizisten, Parlamentarier, Parteien und Regierungen, Kirchen und andere religiöse Gemeinschaften, Lehrer- und Studentenverbände, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände, Institutionen und Organisationen in Deutschland auf, sich für Opfer von Genoziden zu engagieren und sich gegen jene zu wenden, die derartige Verbrechen begünstigen, relativieren, tabuisieren oder leugnen. Auch Genozid- und Vertreibungsverbrechen der Vergangenheit müssen bewältigt und dürfen nicht verdrängt werden. Von der deutschen Bundesregierung wünschen wir uns insbesondere eine konsequente Unterstützung einer internationalen Intervention gegen den Völkermord in Darfur und Initiativen zur Rettung der Menschen im nördlichen Kongo.