11.12.2008

Prof. Dr. Christian Schwarz Schilling, ehemaliger Hoher Repräsentant der Internationalen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina und Bundesminister a.D.

Festrede zum 40-jährigen Bestehen der Gesellschaft für bedrohte Völker

Göttingen
Lieber Herr Zülch,

liebe Frau Zülch, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gesellschaft für bedrohte Völker

liebe Gäste,

liebe Kolleginnen und Kollegen aus allen Ländern,

ich bin sehr froh, dass es mir gelungen ist, hier zu diesem 40. Geburtstag der Gesellschaft unter ihnen zu sein, bei ihnen zu sein und mitzufeiern. Aufgrund der vorgeschrittenen Ziet möchte ich hier einige einleitende Worte über die Gesellschaft einsparen

Wir hatten ja hier einen offenen Marktplatz der Werte des 21. Jahrhunderts, was Globalisierung eigentlich bedeutet. Bedeutet, dass Menschenrechte überall auf der Welt, in Afrika wie in Südamerika, in Asien wie in Europa wie in Nordamerika überall das Gleiche sind. Sie sind unteilbar. Weil es sich alles um die Werte des einzelnen Menschen handelt. Und das durchzusetzen, ist eine historische Aufgabe, deren Größe man noch gar nicht ganz ermessen kann. Weil die Gemeinschaften, die Staaten, dem Recht des Einzelnen sowohl juristisch wie politisch noch nicht den Wert einräumen, die der einzelne in dieser Erde vor dem Himmel oder vor Gott oder vor wem auch immer hat.

Nun sind wir heute hier zusammengekommen, um 40 Jahre Gesellschaft für bedrohte Völker zu feiern und um auch Sie, lieber Tilman Zülch, zu würdigen, ohne den die GfbV ja gar nicht denkbar wäre. Sie waren es, der unermüdlich die Staatenlenker und Politiker unserer Zeit auf ihre Verantwortung hingewiesen haben. Sie haben sich dabei nicht immer Freunde gemacht. Aber das ist immer so, wenn man in der Öffentlichkeit die Wahrheit sagt. Das ist nicht sehr gerne gesehen.

Und wo immer Menschenrechtsverletzungen, Genozid, Ethnozid und Rassismus unsere Erde verdunkelten, war Ihre Stimme zu hören. Unendlich vielen Menschen, die Opfer dieser Unmenschlichkeiten geworden sind, haben Sie Hoffnung und Hilfe gegeben. Sie führen Ihren Kampf im Dienste der Geknechteten und Gefolterten und von furchtbaren Schicksalen gezeichneten Menschen. Sie scheuten nicht die moralische Attitude auf hoher politisch-diplomatischer Bühne. Sie standen lieber bei jedem Wetter zusammen mit den Opfern an den Wegen und an den Plätzen, wenn die Limousinen der Mächtigen zu einer ihrer vielen folgenlosen Konferenzen vorbeirauschten. In Ihrer Nähe erfuhr man immer die unverstellte Wahrheit und Ihr Mut, diese Wahrheit jedem gegenüber auch ins Gesicht zu sagen, wirkte manchmal ansteckend. Zuweilen spürte ich auch ihre große Einsamkeit und Bitternis, weil sichtbar gewordenes Unheil von den politisch Verantwortlich absichtlich oder unabsichtlich nicht bemerkt worden ist. Weil die sich anbahnende Gefahr keine Gegenwehr erfuhr und sich die Flammen zum Feuersturm ausbreiten konnten.

Nun, das sind alles Dinge, die die Vergangenheit betreffen. Trotzdem muss man wissen, wie konnte diese Vergangenheit doch zu so einer lebendigen Gesellschaft führen. Und ich habe noch mal in Ihrem Buch nachgelesen, was nach Biafra im Jahre 1968 geschrieben wurde. Und es ist erstaunlich, wie Sie damals die Worte gefunden haben, die wir heute an jedem Tag im 21. Jahrhundert benutzen können.

Sie haben es alles schon damals mit erstaunlicher Hellsichtigkeit dargelegt. Und Sie waren damals einer, der die Unterscheidung zwischen links und rechts schon längst über Bord geworfen hat, der denjenigen, die den Vietnamkrieg verurteilten, vorwiegend aus dem linken Lager, teilweise dann immer mehr zu einem Antiamerikanismus, klargestellt haben, dass wenn ihr hier nicht bei Biafra und anderen Gelegenheiten den gleichen Mut, die gleiche Initiative ergreift, dann seid Ihr auf einer schiefen Bahn, die nichts mit dem zu tun hat, was wir hier alle brauchen.

Und dann sagten Sie den anderen, "dass überwiegende Teile der breiten Mitte und der Rechten wieder einmal ihre demokratischen, christlichen und freiheitlichen Ideale zurückgestellt haben, liegt auf der Hand. Nato-Rücksichten, 800 Millionen D-Mark-Handelsaustausch mit Nigeria, Furcht vor der nigerianischen Anerkennung der DDR, Furcht, die Sympathien mancher afrikanischer Staaten zu verlieren, kurzum die politische Opportunität haben wie so oft triumphiert. Die offizielle Begründung für diese Zurückhaltung, dass gerade den Deutschen außenpolitische Abstinenz gut zu Gesicht stünde, schmeckt schal, bedenkt man, dass es gerade die Bundesrepublik Deutschland war, durch gezielte Militärhilfe in potentiellen Spannungsgebieten im guten alten Sinne negative Einmischungspolitik betrieb. Gilt es dann aber, für eine humanere Außenpolitik über den eigenen Schatten zu springen, um so die wahren Konsequenzen aus unserer Vergangenheit zu ziehen, erlegt man sich politische Zurückhaltung auf. So leugnen deutsche Politiker die spezielle Verantwortung der BRD für Biafra, die man aus den bundesdeutschen Waffenlieferungen an Nigeria, der Existenz einer deutschen Munitionsfabrik in Kadouna und die Ausbildung nigerianischer Offiziere bei der Bundeswehr ableiten könnte. Und entschuldigt den Verkauf gebrauchter Waffen an die internationalen Waffenhändler mit dem materiellen Interesse der deutschen Steuerzahler und dem Revers, nicht in Spannungsgebiete zu liefern. Dass Nichteinmischung dort seine Grenzen hat, wo es um das physische Überleben einer Nation geht, ist seit den Ereignissen des Dritten Reiches doch eigentlich selbstverständlich.

Und, meine Damen und Herren, so ist es denn geblieben, in allen den weiteren Folgen war es genau die gleiche Situation, dass sich sehr oft auch die Bundesregierung zurückgezogen hat auf eine sehr vorsichtige Stellungnahme und auf eine Nichteinmischung. Sie wissen, dass dieses ja auch bei Bosnien zu einer entsprechenden Situation geführt hat, die mich damals als Kabinettsmitglied veranlasst hat, die Bundesregierung zu verlassen und mich im Parlament für die Menschenrechte in BiH - wo immer ich konnte - einzusetzen, Und so bin ich froh, dass Frau Mehmedovic aus Srebrenica auch von den Müttern von Srebrenica hier berichtet hat. Das ist eine ganz ganz schlimme Situation. Und ich habe mich bemüht, dort als Hoher Repräsentant etwas zu tun, aber wenn Sie den Rückhalt der internationalen Gemeinschaft nicht haben, und dieses – muss ich sagen - auch bei Ihren besten Freunden nicht, (von Berlin möchte ich jetzt nicht sprechen), aber auch die Vereinigten Staaten und Großbritannien mir dann, wenn etwas energisch gemacht werden sollte, mir in den Arm gefallen sind, und Sie in der Abhängigkeit dieser Nationen stehen, dann ist es sehr sehr schwer. Trotzdem glaube ich, habe ich durch meine klare Entscheidung, auf keinen Fall das Büro des OHR zu schließen, und mich dabei gegen ALLE Nationen gewandt inklusive Berlin und ich war total isoliert und ich habe es am Ende immerhin durchgesetzt, so dass ich sagen kann, eine Katastrophe, die dadurch hätte entstehen können, wurde doch wenigstens verhindert.

In solchen Situationen und das habe ich bei Tilman Zülch öfter einmal nachempfunden, kann derjenige, der sieht mit offenen Augen, eigentlich nur verzweifeln, wenn er sieht, dass andere an wichtigen Schaltstellen hinschauen - und nichts sehen. Ich weiß nicht, ob das dann andere Organe sind. Mir fällt zu solchen Gelegenheiten eigentlich nur immer der Teil der Matthäuspassion von Bach ein, wo der Chor das Entsetzen der hilflosen Menschen über das scheinbar unausweichliche Schicksal in einer Anrufung der kosmischen Kräfte beschwört: Es sind Blitze, es sind Donner in den Wolken verschwunden. Jeder der das hört, empfindet nach, wie man eigentlich total verblüfft, erschrocken ist, dass so etwas möglich ist und die Kräfte des Kosmos nicht eingreifen.

Doch keine Verzweiflung und kein Rückschlag konnte den Willen bezwingen. und so freue ich mich, dass Sie hier heute in dieser Stadt eine Stätte haben, wo wir auch gemeinsam uns bemüht haben, dass sie finanziert werden konnte und dieser unausdrückliche Wille dann dazu führt, dass ein Baustein nach dem anderen gestellt wird.

Es geht nicht nur um die Vergangenheit, sondern es geht um die Erkenntnis, wie wir im 21. Jahrhundert Katastrophen wirksam verhindern und unsere Zukunft besser gestalten können, und dazu gehört, die verantwortlichen Übeltäter zu identifizieren und ihrer Strafe zuzuführen. Wir haben es hier bei den Beiträgen in aller Deutlichkeit gehört. Das ist vornehmlich die Aufgabe des Gerichtshofs in Den Haag. Aber das reicht nicht. Das erfasst alle jene Zusammenhänge nicht, welche dazu geführt haben, dass trotz des aktuellen Wissen der internationalen Staatengemeinschaft praktisch nicht viel unternommen wurde, um den Verbrechern, welche einen Völkermord geplant und dann eiskalt in die Tat umgesetzt haben, rechtzeitig in den Arm zu fallen.

Wir alle kennen unzählige Bekenntnisse, die von den verantwortlichen Politikern in Europa, in den Vereinigten Staaten nach dem 2. Weltkrieg abgegeben worden sind. Damals der Präsident der Vereinigten Staaten formulierte es am 27. September 1979: "Out of our memory...of the Holocaust we must forge an unshakeable oath with all civilized people that never again will the world stand silent, never again will the world...fail to act in time to prevent this terrible crime of genocide....we must harness the outrage of our own memories to stamp out oppression wherever it exists. We must understand that human rights and human dignity are indivisible.” Dass niemals wieder die Welt schweigend dasteht und niemals wieder die Welt verfehlt zur rechten Zeit zu handeln, um das schreckliche Verbrechen des Genozid zu verhindern. Dieser Text steht auf einer Stele am Eingang des Holocaust-Museums in Washington. Wir könnten viele solche Stelen heute hinstellen, denn es ist an vielen Stellen wieder geschehen.

Wie war es nur möglich, dass man es so schnell wieder vergessen hat. Dass in vollem Bewusstsein dessen weggeschaut worden ist, und dass am Ende des 20. Jahrhundert auch in Europa wieder Völkermord vorgekommen ist. Lassen Sie mich dazu sagen: ES muss immer wieder gekämpft werden. In jeder Generation neu. Wenn es nicht von einer Generation zur nächsten übertragen wird, geht alles wieder verloren. Es ist nicht so, dass das, was wir einmal erworben haben, für alle Zeiten der Menschheitsgeschichte da ist. Sondern es ist nur so lange da, als es lebendig in unseren Köpfen ist. Wenn eine Generation es versäumt, der nächsten diese Priorität beizubringen, kann alles wieder passieren. Das ist eine ganz ganz wichtige Sache. Wo bleiben die Kämpfer auf all diesen entsetzlichen Dingen? Ich erinnere mich an die Worte der Geschwister Scholl, Hans Scholl, der damals von Stefan Zweig gelernt hat: Die Menschheitsgeschichte verdankt ihnen ihre Sternstunde, die nur ihrem Gewissen folgen und sich nicht einer Mehrheit anpassen, die schweig t und wegsieht, anstatt aufzustehen.

Wir haben gehört, was von Tibet zu berichten ist. Ich habe sehr viele Gespräche geführt, ich habe viele Verbindungen zu den Emissären, die in Peking verhandeln, auch zu der chinesischen Seite, und mir ist seit zwei Monaten klar, dass diese Gespräche deswegen nicht vorankommen, weil die chinesische Regierung von einer absoluten Fehleinschätzung ausgeht: Man meint, man muss es nur ausitzen und warten, bis der Dalai Lama gestorben ist.

Ich kann nur eins sagen: Wenn Bergvölker einmal anfangen, mit Gewalt sich gegen Dinge zu wehren - es gibt verschiedene Beispiele, ganz nahe liegt ja Afghanistan -, dann ist an eine Befriedung lange nicht mehr zu denken. Wir stehen an einem Scheideweg. Und insofern bin ich sehr sehr dankbar, dass der französische Präsident, seine Zusage, den Dalai Lama persönlich zu empfangen, trotz aller Proteste wahr gemacht hat. Das war eine große Tat, und das war eine Folge auch davon, dass auch unsere Bundeskanzlerin zuvor als erste in Europa einen solchen Schritt getan hat.

Wir erkennen, dass es weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart oder auch in der Zukunft eine automatische Einbahnstraße zur Freiheit und Demokratie gibt. Das Fortschreiten auf diesem Weg bedarf eines harten Stückes Arbeit, großer Mühsal und engagierter Anstrengung einer nicht zu kleinen Zahl von Bürgern, um die Gesellschaft eines Volkes auf diesen Kurs zu bringen. Und jeden Tag gibt es neue Versuche, davon abzugehen. Wir müssen daher Klarheit haben, dass es in dem Moment, wo es um Menschenrechtsverletzungen, und vor allem Dingen wo es um Völkermord geht, da gibt es keine Neutralität, da gibt es nur die Parteinahme für die Menschenrechte. Und zwar kräftig. Anders werden wir dabei nicht siegen.

Lassen Sie mich auf eines hinweisen. Diese Menschenrechte und diese Verhinderung von Genozid sind nur möglich, wenn wir uns alle, und zwar jeder in seinem Kreis, um Wahrhaftigkeit bemühen. Ohne Wahrheit wird dieses Ziel nie erreicht. Das ist deutlich geworden in dem Beitrag von Claus Biegert über Leonard Peltier über die Indianerbewegung. Es hat das kaum jemand so gut gesagt wie der Philosoph und Historiker des 20. Jahrhunderts, Karl Jaspers, "Friede ist nur durch Freiheit, Freiheit nur durch Wahrheit möglich. Daher ist die Unwahrheit das eigentlich Böse, jedes Frieden Vernichtende die Unwahrheit, von der Unwahrhaftigkeit des einzelnen bis zur Unwahrhaftigkeit des öffentlichen Zustandes. Das ist genau die richtige Darstellung von Ursache und Wirkung.

Tilman Zülch ist einer derjenigen, der ohne Rücksicht auf Gepflogenheiten, auf Umstände immer wieder diese richtige Schlussfolgerung zog: Wahrhaftigkeit und Wahrheit, als Grund. als Fundament für uns alle, wenn wir in Frieden leben wollen. Dafür sollten wir ihm alle ganz herzlich danken.

Wenn mir der liebe Gotte die nächsten zehn Jahre schenkt, dann würde ich mich freuen, wenn wir alle bei der Feier des 50. Geburtstag der Gesellschaft für bedrohte Völker hier wieder zusammen sind. Und ich wünsche mir, dass es in diesen zehn Jahren einige wichtige Fortschritte auf diesem so wichtigen Gebiet des Kampfes und Schutzes für die bedrohten Völker zu verzeichnen gibt.

Und ich wünsche mir, dass wir uns alle vornehmen, wahrhaftig zu sein, jeder in seinem Kreis, und den Kampf mit Energie, Kraft und Entschlossenheit – wo immer wieder stehen – zu führen.