27.04.2005

Pro und Contra im Streit um Verfassungsrecht und EU-Sprachencharta

Minderheitenrechte oder Balkanisierung

Die EU-Sprachencharta widerspreche den Prinzipien der "Unteilbarkeit der Republik", der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und der Einheit des französischen Volkes. Die Anerkennung spezifischer Rechte für Minderheiten, die sich durch kulturelle, sprachliche oder religiöse Kriterien definieren, sei mit der Verfassung nicht vereinbar. Mit solchen Argumenten machen Frankreichs oberste Verfassungsschützer gegen die Ratifizierung der Charta mobil. Auch dubiose Ängste brechen sich Bahn. Parlamentarier und Intellektuelle aus dem Umkreis der links-nationalistischen Bürgerbewegung MDC argumentieren, das Dokument des Europarates sei dazu geeignet, die Nationalstaaten in einem völlig integrierten Europa aufzulösen. Die Zukunft sehen die Charta-Gegner daher in der Förderung des Französischen vor den Minderheitensprachen und im Erlernen von Fremdsprachen.

Seit nahezu 20 Jahren ist die Politik Frankreichs gegenüber den Minderheiten im eigenen Land von nicht gehaltenen Versprechen geprägt. Selbst das schon 1951 verabschiedete Loi (Gesetz) Deixonne, das bis heute weitreichendste Zugeständnis des Regionalsprachenunterrichts an öffentlichen Schulen (eine Wochenstunde in der Regionalsprache, wobei diese nicht als Prüfungsfächer anerkannt werden) wird nicht konsequent umgesetzt. 1981 warb der sozialistische Staatspräsident François Mitterand mit der Losung "Frankreich im Plural" noch um die Stimmen der Minderheiten und kündigte Maßnahmen zu ihren Gunsten an – die nie verwirklicht wurden.

1989 beurteilten die Organisation "Verteidigung und Förderung der Sprachen Frankreichs" und das Französische Komitee des EU-Büros für Sprachminderheiten die Situation der Minderheiten dann aber als fortgesetzten Ethnozid. Das bedeutet laut Unesco-Definition den Versuch, eine ethnische Gruppe des Grundrechts auf Gebrauch, Weiterentwicklung und Vermittlung ihrer Sprache und Kultur zu berauben. Ein vernichtendes Urteil über ein Land, das vor 210 Jahren die Menschen- und Bürgerrechte verkündet hat. 1992 beschworen Staatspräsident Mitterand und Ministerpräsident Rocard schließlich das fortschrittliche Zentrum. Die Förderung der Minderheitensprachen und Regionen war wieder unzeitgemäß.

Begonnen hatte die Diskriminierung der Regionalsprachen mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht während der 3. Republik, die Französisch als alleinige Amts- und Nationalsprache durchsetzte. Der Druck auf die Kinder wurde mit der Einschulung so massiv, dass die schon bald die eigene Sprache hintanstellten. So gab es zum Beispiel anfangs des 20. Jahrhunderts 1,5 Millionen Bretonischsprechende, heute sollen es höchsten noch 250.000 sein. Jetzt hat die amtierende rot-grüne Regierung Jospin zwar einen Kurswechsel angekündigt, gleichzeitig aber klar gemacht, dass sie nur jene Teile der Sprachencharta umsetzen wird, die keiner Verfassungsänderung bedürfen.

Die Anti-Charta-Front eint rechte und linke Minderheitengegner: die stramm rechten Neugaullisten um Charles Pasqua, der die Charta als Instrument zur Balkanisierung Frankreichs bezeichnet, und die Linken um Innenminister Jean-Pierre Chevenement, die in ihr einen Anschlag auf die Einheit der Republik sehen. Die Bevölkerung scheint da toleranter zu sein. Schon 1994 ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IFOP, dass 77 Prozent der Bürger für die Anerkennung und den Schutz der regionalen Sprachen waren und 93 Prozent sie als Bereicherung für Frankreich empfanden.

Doch auch die Befürworter der Sprachenrechte für Minderheiten sind sich keineswegs einig. Ausnahmeregelungen für ihre Regionen fordern die Vertreter aus Korsika, dem französischen Baskenland, dem Elsaß und der Bretagne. Die Regionalräte des Elsaß und der Pyrenäen verlangen gar die Revision der Verfassung. In beiden Regionalräten hat die bürgerliche UDF die Mehrheit. Die Minderheitengegner, die dominierende Elite, sind politisch in der Unterzahl. Besonders engagiert wird die Sprachencharta in der Region mit der höchsten Anzahl von Sprechern einer Regionalsprache diskutiert, im Elsaß. Der UDF-Vorsitzende der Region, Adrien Zeller, ist dafür, das Elsässische aufzuwerten und die gleichberechtigte Zweisprachigkeit zu entwickeln. Immerhin gibt der elsässische Regionalrat dafür 22 Millionen Franc jährlich aus. Er ist allerdings gegen den Gebrauch des Elsässischen im öffentlichen und administrativen Leben. Als Ausnahme läßt er nur zweisprachige Straßenschilder gelten. Henri Goetschy, Vorsitzender des Hohen Komitees für die alemannische und fränkische Sprache und Kultur, sieht in der Unterzeichnung der Charta eine staatliche Anerkennung der Mehrsprachigkeit. Probleme für die Verwaltung, die Charta umzusetzen, sieht er nicht. "Das ist eine Frage des gesunden Menschenverstandes. Es ist normal, daß die Ärzte versuchen, einige Worte auf elsässisch an die Betagten zu richten. Sogar die ausländischen Ärzte bemühen sich."

Der sozialistische Bürgermeister von Mühlhausen/Mulhouse und Regionalratsabgeordnete, Jean-Marie Bockel, ist für eine "ausgewogene Anerkennung des Elsässischen". Frankreich sei eben kein Bundesstaat, wendet er sich gegen den "Fundamentalismus" der Sprach-Emanzipisten. Die angestrebte Zweisprachigkeit betrachtet er als einen Trumpf, der dem Zugehörigkeitsgefühl zur Frankreich nicht schade. Elsässische Politiker wie er wollen nicht länger dem "mouvement regionaliste alsacien" und der Front National die Verteidigung der sprachlichen Identität überlassen.

Der Straßburger Gaullist Robert Grossmann hingegen lehnt die Charta rundweg ab. Auch er sei für Zweisprachigkeit, aber: "Für mich ist Deutsch nicht die Regionalsprache des Elsaß." Luc Litchle, Vorsitzender der Schulgewerkschaft "federation des oeuvres laiques du Haut-Rhin", sieht gar die Existenz der Demokratie gefährdet: "Wenn man die Charta näher untersucht, stellt man fest, daß die Behörden gezwungen sind, den Empfang auf elsässisch oder bretonisch zu entwickeln und die Urteile in beiden Sprachen zu veröffentlichen. Diese Verfügungen stehen im Gegensatz zu den Werten einer laizistischen Republik".