06.06.2008

Patenschaft mit Lhasa und Urumchi schließen, nicht mit Nanjing!

Appell des Generalsekretärs der Gesellschaft für bedrohte Völker an den Rat der Stadt Göttingen, den Oberbürgermeister, die Parteien und die Göttinger Professorenschaft


Unsere Heimatstadt, das weltoffene Göttingen, will einmal mehr mit einer Stadt im Ausland, im fernen China, eine Patenschaftsbeziehung aufnehmen. Nanjing, eine Sechs-Millionen-Stadt, wird ihrer Palette von 16 Patenstädten, darunter das sächsische Leipzig, möglicherweise einen weiteren Farbtupfer hinzufügen.

 

Ulrich Delius, Autor des Reportes der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) über die Menschenrechtslage in Nanjing hat das Dilemma dieser Patenschaft herausgearbeitet. In Nanjing gibt es Folter, Inhaftierungen, Arbeitslager, Zwangsverbringung in psychiatrische Anstalten und vieles andere Traurige mehr.

 

Unsere Menschenrechtsorganisation hat der Volksrepublik China allein für die allerletzten Jahre zehntausende Hinrichtungen, zehntausende Zwangsorganentnahmen von religiös Verfolgten, vieltausendfaches Verschwindenlassen von Angehörigen von ethnischen Minderheiten, hunderttausendfaches Verbringen in Arbeitslager vorgeworfen.

 

Göttingen kann und darf sich diesen schrecklichen Zusammenhängen nicht entziehen. Es gibt Professoren, die diese Menschenrechtsverletzungen nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Es gibt städtische Politiker, die pragmatisch wirtschaftliche Gesichtspunkte in den Vordergrund stellen.

 

Die so genannte jüngste Vergangenheit unserer südniedersächsischen Universitätsstadt ist wohl viel schwärzer, als die vieler anderer deutscher Städte. Insofern wird jeder vernünftige Mensche die vielen anti- nationalsozialistischen Verlautbarungen und die - wenn auch leider zu späte - antifaschistische Empörung begrüßen. In diesem Zusammenhang hat die GfbV schon in den 70-er Jahren vieles Konstruktive unternommen: Sie veröffentlichte die erste Dokumentation seit Kriegsende über den Holocaust an den Zigeunern und setzte deren Eigennamen "Roma und Sinti" in der Öffentlichkeit durch. Sie hat die Entschuldigung für den Völkermord durch den damaligen Bundeskanzler und Bundespräsidenten erreicht, die Wiedereinbürgerung zahlreicher deutscher Sinti und eine erste Wiedergutmachungslösung initiiert. Sie hat in unserer Stadt aber auch die Durchsetzung einer bösartigen, vom Rat angenommenen Verordnung verhindert, die "Zigeunern und Obdachlosen" das nächtliche Liegen auf Parkbänken verbieten wollte. Und die GfbV muss sich seit Jahren von Monat zu Monat gegen Deportationen vor allem von ehemaligen politischen Flüchtlingen wenden, die meist nach Jahren oder Jahrzehnten Leben in unserer Stadt mit ihren Kindern abgeschoben, d.h. vertrieben werden.

 

Vergangenheitsbewältigung in Richtung Vergangenheit - ja. Aber ohne Gegenwartsbezug für heute leidende Menschen bleibt das inkonsequente Rhetorik. Das maoistische China hat 50 - 70 Millionen Menschen vernichtet. Dieselbe Partei ist für gegenwärtigen Verfolgungen und Tötungen verantwortlich.

 

Wer multikulturelles Zusammenleben propagiert, wer Kämpfe gegen die Verbrechen der Vergangenheit führt, wer diese Vernichtungen oder Vertreibungen von Minderheiten verurteilt, muss das auch in die heutige Realität umsetzen.

 

Ich schlage Ihnen vor, dass Göttingen mit den Städten Lhaza/Tibet und/oder Urumchi/Ostturkestan/Sinkiang eine Patenschaftsvereinbarung schließt. Die Stadtverwaltung, der Stadtrat, die Universität, Göttingens Bürger können dann Menschenrechte und Minderheitenrechte zu einem der zentralen Ziele ihrer Patenschaft mit China machen. Das wäre Vergangenheits- und Gegenwartsbewältigung zugleich, die überzeugt!

 

 

"Partnerschaft mit Folterknechten: Nanjing - falsche Wahl für Göttingen?"

Report über Menschenrechtsverletzungen in chinesischer Metropole

veröffentlicht

 

Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hat in einem 19-seitigen Report" Partnerschaft mit Folterknechten: Nanjing - falsche Wahl für Göttingen?" die Verfolgung von Schriftstellern, Journalisten, von Universitätsdozenten und -Professoren sowie zahlreicher Anhänger der Meditationsbewegung Falun Gong in der chinesischen Millionen-Metropole dokumentiert. Für denReport wurden Berichte über Menschenrechtsverletzungen im Zeitraum von1999 bis April 2008 in den beiden Gefängnissen Nanjings, in Polizeistationen, in der Psychiatrischen Klinik sowie in Arbeits- und Umerziehungslagern ausgewertet. Dabei kristallisierte sich heraus, dass vor allem in dem erst im Jahr 2003 eröffneten neuen Frauengefängnis, das in den offiziellen chinesischen Medien als Modellprojekt für einen respektvollen Umgang mit Gefangenen gepriesen wird, viele Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Gerade in diesem Gefängnis werden viele Frauen aufgrund ihres Glaubensbekenntnisses unmenschlich behandelt und systematisch gefoltert.

 

Der Report macht deutlich, dass Menschenrechtsverletzungen in Nanjing nicht ausnahmsweise, sondern systematisch verübt werden, um Regierungskritiker ruhig zu stellen und Glaubensfreiheit zu unterdrücken. Besonders betroffen sind von der Verfolgung Anhänger der seit 1999 verbotenen Meditationsbewegung Falun Gong, die systematisch in der gesamten Volksrepublik von den Sicherheitsbehörden zerschlagen wird. Vor allem diese Opfer religiöser Verfolgung leiden in den beiden Gefängnissen von Nanjing unter Misshandlung, Folter und unmenschlicher sowie entwürdigender Behandlung. Aufgrund von Misshandlungen während der Haft verstarben mehrere Gefangene. Auch gibt es Übergriffe auf Wanderarbeiter, Kinderarbeit sowie Menschenrechtsverletzungen bei Zwangsräumungen und bei der Einreichung von Petitionen einfacher Bürger.

 

Niemand ist vor Verfolgung in Nanjing sicher. Weder Universitätsprofessoren noch Schriftsteller, Journalisten oder führende Polizisten und Regierungsbeamte werden geschont. Systematisch werden auch Familienangehörige gesuchter Personen bedroht, eingeschüchtert und verhaftet. Deutlich wird in dem Report, wie eng das System des Sicherheitsapparates in China geknüpft ist. Er nutz alle Einrichtungen des Staates, um den Allmachtanspruch der Kommunistischen Partei auch gewaltsam durchzusetzen. Sogar die Psychiatrische Klinik Nanjing wurde von Sicherheitskräften gezwungen, gesunde Regimegegner zwangsweise zu behandeln.

 

Erwähnt seien hier einige Schicksale: So wurde der Universitätsprofessor Guo Quan im Dezember 2007 zum Sachbearbeiter degradiert, weil er in Briefen an die Staatsführung ein Mehrparteiensystem gefordert hat. Sein Ausschluss aus der offiziell geförderten "Chinesischen Demokratischen Liga" erinnert an die alltägliche Verfolgung von Regimekritikern in der früheren DDR. Die Universitätsdozentin Zhang Yuhua musste Torturen über sich ergehen lassen. Sie wurde als gesunde Frau in die Psychiatrie eingewiesen und zwangsweise mit Medikamenten und Spritzen behandelt, weil sie ihr Glaubensbekenntnis nicht aufgeben wollte. Noch bis zum Dezember 2017 wird der angesehene Schriftsteller und Journalist Yang Tongyan wegen seiner Regimekritik eine Haftstrafe in Nanjing verbüßen. Er wurde im April 2008 mit der bedeutendsten Auszeichnung des Internationalen PEN-Zentrums geehrt.