31.03.2009

Opfer von gestern durch Kampf gegen Genozid heute ehren

Meine Lektion aus dem Holocaust

JEWS AGAINST GENOCIDE, NEW YORK

Mein Vater stammt aus Keidan, einer Kleinstadt, 12 Kilometer nördlich der litauischen Haupstadt Kaunas. Meine Großmutter war Schneiderin und betrieb eine Nähschule für Mädchen. Wie viele Juden dieser Zeit waren sie arm. Den Greueln des 2. Weltkrieges war eine lange Zeit der Diskriminierung vorangegangen. Seit mehr als 500 Jahren hatten in Keidan Juden gelebt,

doch an einem einzigen Tag, dem 28. August 1941, wurden zwischen 2.000 und 3.000 Juden ermordet und in einem Massengrab verscharrt. Mein Vater ist der einzige Überlebende seiner Familie.

Während ich aufwuchs, habe ich über diese Ereignisse nicht viel nachgedacht. Nie habe ich eine antisemitische Bemerkung gehört, nie wurde mir etwas vorenthalten, weil ich jüdisch bin. Als mir mein Vater erzählte, wie die Juden von Keidan von faschistischen litauischen Milizen zusammengetrieben wurden, wie man sie gefangenhielt, aushungerte und erschoß, dünkte mich das alles so barbarisch, daß es eine einmalige Verirrung sein mußte. Heute wissen wir: Es ist wieder geschehen und geschieht wieder.

Unsere Organisation, Jews Against Genocide (Juden gegen Völkermord), wurde 1993 in New York als Antwort auf den Völkermord in Bosnien gegründet. Wir waren so entsetzt über die Ermordung unschuldiger Zivilisten aufgrund ihrer Religion, daß wir als Juden unsere Stimme erhoben. Je länger wir weitermachten, desto mehr Parallelen zum Holocaust erkannten wir: die Namenslisten, die Folter und Erniedrigung, die Massengräber, die Entweihung von Gotteshäusern und die Konzentrationslager. Sogar die Lügen waren dieselben: die Behauptung, die Ermordeten seien selbst schuld, die Propaganda, daß Muslime schmutzig und wertlos seien, und die bizarren Auslassungen der serbisch-orthodoxen Kirche und der ultranationalistischen serbischen Intellektuellen. All das hatten wir doch schon einmal gehört.

Was die Sache für mich persönlich vertraut machte, war, daß die Massenmorde in Bosnien wie in Litauen von Nachbarn der Opfer durchgeführt wurden, die sich in Milizen organisiert hatten und von einer auswärtigen Armee angeleitet wurden. Hatte nicht mein Vater mir berichtet, daß in den ehemals jüdischen Häusern Nicht-Juden wohnten, als er in seine Heimatstadt zurückkehrte? So etwas geschah jetzt in Bosnien.

Allzu vertraut schien uns auch die Reaktion der Welt: das Versäumnis, zu verstehen und zu handeln, die westliche "Befriedungspolitik" gegenüber den Angreifern. Wir forderten die Aufhebung des Waffenembargos gegen die bosnischen Opfer und Luftschläge der Nato. Wir führten Aufklärungsveranstaltungen, Demonstrationen und Briefkampagnen durch und machten Lobbyarbeit beim US-Kongreß. Mit anderen Basisgruppen gründeten das "Amerikanische Komitee zur Rettung Bosniens".

Seit dem Abkommen von Dayton setzten wir uns für die Umsetzung der menschenrechtlich relevanten Punkte dieses Vertrages ein: für eine sofortige Verhaftung der Kriegsverbrecher, das Recht aller Flüchtlinge auf Rückkehr und Bewegungsfreiheit in ganz Bosnien. Wir forderten die Zurückhaltung von Wiederaufbauhilfe für die serbisch kontrollierten Gebiete und Auflösung des kroatischen Staatsgebildes "Herceg Bosna".

Unser Engagement nährte sich auch aus dem unsäglichen Verhalten der UN. Deren Personal zu sehen, wie es die Granaten zählte, die auf die Bevölkerung Sarajewos fielen, war ein bißchen wie in den Todeslagern zu stehen und die leeren Zyklon-B-Kanister zu zählen. Manchmal offerierte die UN Mitfahrgelegenheiten für serbische Heckenschützen und in Srebrenica übergab sie den serbischen Truppen Listen mit den Namen von Zivilisten — Menschen, die kurz darauf im größten Massaker in Europa seit 1945 abgeschlachtet wurden.

Am Anfang dachte wohl keiner von uns, daß dies unsere Beschäftigung für die nächsten fünfeinhalb Jahre sein würde. Wir waren alle Ehrenamtliche, hatten Vollzeitberufe und verfügten über keine zusätzlichen Finanzmittel. Doch wir waren getrieben vom Unglauben, daß in Europa vor aller Augen wieder Völkermord geschieht und die Welt zusieht. Wer als Jude aufwächst, muß unvermeidlich daran denken, was er tun würde, wenn so etwas wie der Holocaust wieder geschähe. Nichts zu tun, war für uns unmöglich. (Natürlich sind solche Gedanken nicht auf Juden beschränkt. Einige führende Mitglieder unserer Organisation sind nicht-jüdisch, konnten aber die Parallelen nachvollziehen.) Vor allem bei unseren Lobby-Aktivitäten im Kongreß merkten wir, daß man uns mit größerer Aufmerksamkeit zuhörte, weil wir Juden waren. Für die Bosnier war es wichtig, von Juden Verständnis und Unterstützung zu erhalten.

Meinem Empfinden nach sind sowohl Juden wie Deutsche verpflichtet, gegen Völkermord zu protestieren. Denn wir wissen, was das ist, wir erkennen es in einer Weise wieder, wie andere es nicht können. So erfüllt es mich mit Genugtuung, daß die Gesellschaft für bedrohte Völker in Deutschland gegründet wurde und eine so großartige Arbeit für unterdrückte Völker leistet. Es war ein Geschenk, als ich im Juli 1997 Tilman Zülch und Fadila Memisevic am 2. Jahrestag des Massakers von Srebrenica begleiten durfte. Die Berichte der überlebenden Frauen von Deportationen, verschwundenen Angehörigen und Massengräbern gemahnten mich abermals an die Erzählungen meines Vaters vom Holocaust.

Der Horror, dessen Zeugen wir in Bosnien wurden, wiederholt sich heute im Kosovo, wo die albanische Bevölkerung seit zehn Jahren systematischen Gewaltakten durch serbische Polizei und Armee ausgesetzt ist. Wieder hat Belgrad seine "Einsatzgruppen" (Deutsch im Original; Red.) in Marsch gesetzt. Ich kenne die historischen Gründe, warum sich Deutschland während des Bosnienkrieges auf humanitäre Aktionen beschränkte. Doch genau diese Vergangenheit gebietet ein militärisches Eingreifen, wenn Slobodan Milosevic erneut Völkermord begeht.

Eine zentrale Rolle spielt Deutschland im Falle Kroatiens. Kroatische Faschisten haben in Bosnien, um "ethnische Reinheit" zu erreichen, ebenfalls Massenmord begangen, Internierungslager betrieben und jahrhundertealtes religiöses und kulturelles Erbe zerstört. Bis heute versucht der kroatische Präsident Franjo Tudjman, das multiethnische Nachbarland zu destabilisieren, indem er die Rückkehr von Flüchtlingen nach Bosnien und in sein Land verhindert.

Auch für Osttimor, wo unter indonesischer Besatzung seit 1975 etwa ein Drittel der Bevölkerung durch Aushungerung, Folter, Internierung und Massaker umgekommen ist, hat sich Jews Against Genocide eingesetzt (wenn auch noch nicht so lange wie die GfbV). Daß Deutschland diesen Völkermord mit Waffenlieferungen gefördert hat, schreit zum Himmel. Heute tun deutsche und US-amerikanische Konzerne und Banken viel, um den indonesischen Finanzen auf die Beine zu helfen. Doch was tun sie, um Demokratie und Menschenrechte zu sanieren?

Um Völkermord künftig zu verhindern, müssen Regierungen, die dieses Verbrechen begehen, von internationaler Finanzhilfe ausgeschlossen werden. Geht man z.B. die Reihe der Staaten durch, die von der Weltbank Geld erhalten, so trifft man auf die prominentesten Verletzer von Menschenrechten. Auch der juristischen Verfolgung von Genozid-Tätern muß mehr Aufmerksamkeit zuteil werden. Leider haben die USA, im Gegensatz zu Deutschland, die Einrichtung eines unabhängigen Internationalen Strafgerichtshofes nicht unterstützt. Fürchtet unsere Regierung, daß der gesamte CIA angeklagt werden könnte, oder der ehemalige US-Außenminister und Friedensnobelpreisträger Henry Kissinger?

Historikern zufolge begann der Holocaust mit den Judenmassakern in Litauen, bei denen meine Familienangehörigen ermordet wurden. Wie ich kürzlich las, berichtete der damit beauftragte Kommandant der "Einsatzgruppe A" seinen Vorgesetzten, daß die "Säuberung" abgeschlossen sei. Selbst die Sprache der Nazis lebte in Bosnien wieder auf. 50 Jahre nach dem Holocaust werden hunderttausende Südsudanesen ausgehungert, weil sie einem anderen Volk und einer anderen Religion angehören als die Machthaber. Warum werden die Täter des Völkermords in Kambodscha oder jenes an den indigenen Völkern in Guatemala nicht vor ein Gericht gestellt, warum die Türkei nicht für ihre brutale Unterdrückung der Kurden zur Rechenschaft gezogen? Wieso senden wir Laurent Kabila in Kongo Geld, wenn er die UN daran hindert, seine Beteiligung an der Ermordung ruandischer Flüchtlinge zu untersuchen?

Der beste Weg, der Nazi-Opfer zu gedenken, ist es sich für alle die einzusetzen, die heute durch die Methoden der Nazis sterben sollen. Der Talmud sagt: "Wer immer gegen die Sünden seiner Gemeinschaft zu protestieren vermag und dies nicht tut, macht sich derselben Sünden schuldig." Martin Luther King hat uns gelehrt, daß wir alle in einer Menschheit miteinander verbunden sind. Von Aktivisten aus Bosnien und Osttimor habe ich so viel über Menschenwürde und Mut erfahren dürfen, daß ich die Arbeit unserer kleinen Gruppe als Privileg empfinde. Hoffentlich bringt sie den Verfolgten etwas Hoffnung. Jedenfalls hat sie unsere Sicht auf die Welt verändert.

Dr. Sharon Silber ist assistierende Dozentin für Psychiatrie am Albert Einstein College of Medicine in New York und Mitglied des Exekutivkomitees von Jews Against Genocide. Ihr Artikel ist eine Kurzfassung der Rede, die sie am 9.5.1998 an der Jahreshauptversammlung der GfbV in Hannoversch Münden gehalten hat. Übers.: Andreas Selmeci.

[Quelle]

Pogrom 200, 1998