22.09.2006

Offener Brief an Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, die Innenminister von Bayern, Hessen, Niedersachsen Schleswig-Holstein, Berlin und Rheinland-Pfalz sowie Experten der CDU, CSU und SPD zur Innenpolitik

Btr.: Ihr heutiges Abstimmungsgespräch über eine Bleiberechtsregelung für 200.000 geduldete Flüchtlinge in Deutschland

Sehr geehrte Herren Minister und Senatoren,

sehr geehrte Damen und Herren,

 

in einem Abstimmungsgespräch werden Sie heute über eine mögliche Bleiberechtsregelung für die rund 200 000 in Deutschland nur geduldeten Flüchtlinge - unter ihnen etwa 20 000 Kinder und Jugendliche - diskutieren. Die Entscheidung über das Schicksal dieser Menschen soll dann auf der Innenministerkonferenz im November verkündet werden. Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) appelliert dringend an Sie, diesen Flüchtlingen nach Jahren der Angst und Unsicherheit über ihren Status in Deutschland hier endlich eine tragfähige Zukunft zu geben und ihnen ein dauerhaftes Bleiberecht zu gewähren.

 

Wir erinnern daran, dass viele der bisher nur Geduldeten zu uns gekommen sind, weil sie Opfer von Völkermord, Verfolgung und Vertreibung waren, weil sie um ihr Leben fürchten mussten, Folter, grausamer Strafe oder Sklaverei entkommen wollten.

 

Vielen Betroffenen wurden jahrelang nur kurzfristig verlängerte Duldungen erteilt (Kettenduldungen). Einige haben diese zermürbende Praxis unserer Behörden mehr als zehn Jahre ertragen müssen. Der Aufenthaltstitel "Duldung" ermöglicht Betroffenen kein normales Leben und keine Lebensplanung. Sie werden in Unsicherheit gehalten, leiden unter Existenzängsten, manche werden dadurch psychisch oder sogar physisch krank. Als "Geduldeter" eine Arbeit zu finden ist fast unmöglich. Ihre Jugendlichen können fast nie eine Ausbildung beginnen. So ist ihre jahrelange Abhängigkeit von staatlichen Leistungen vorprogrammiert. Sie dürfen ihr Bundesland nicht verlassen, teilweise sogar nicht einmal ihr Kreisgebiet. Die erzwungene Untätigkeit treibt manche in Alkohol- und Drogenkonsum sowie Kleinkriminalität. So entsteht für sie ein Teufelskreis, der sie zu Objekten offener oder unterschwelliger Ausländerfeindlichkeit und Diskriminierung macht.

 

Selbst die wenigen, die es trotzdem schaffen, durch Arbeit den Lebensunterhalt ihrer Familie zu sichern, sind nicht vor einer plötzlichen Abschiebung geschützt. Sogar einmal gewährtes Asyl wird in Deutschland widerrufen. Davon waren in den vergangenen Jahren über 40 000 Flüchtlinge betroffen.

 

Abschiebungen werden spät nachts oder früh morgens durchgeführt. Manchmal werden auch nur Familienväter abgeschoben, in der Hoffnung dass Frauen mit Kindern ihnen "freiwillig" folgen werden. Jugendliche, die volljährig werden, müssen befürchten, dass sie auch allein abgeschoben werden können - in das ihnen fremde Land ihrer Eltern, an das sie möglicherweise keine Erinnerung haben, in dem sie sich nicht auskennen. Sie haben deutsche Kindergärten und Schulen besucht, in deutschen Vereinen Sport getrieben und deutsche Freunde gehabt. Diese Kinder und Jugendlichen sind eigentlich ethnisch Deutsche geworden.

 

Doch die deutsche Politik hat eine entrechtete Unterschicht herangezogen, deren deutschsprachige "eingedeutschte" Kinder ohne Ausbildung in für sie völlig unbekannte Staaten abgeschoben werden, deren Sprache sie nicht sprechen. Sie werden aus ihrer Heimat Deutschland weggejagt, wo sie nicht nur integriert, sondern auch sprachlich und kulturell assimiliert waren. Bei solchen Abschiebungen reagieren in sehr vielen Fällen deutsche Nachbarn und Schulkameraden entsetzt und protestieren - doch oft vergeblich.

 

Pastoren, Rechtsanwälte, Lehrer, Sozialarbeiter und andere Flüchtlingsbetreuer haben oft mehr als ein Jahrzehnt an der Integration dieser Kinder und Jugendlichen gearbeitet. Sollen diese "Investitionen" in Höhe von ungezählten Millionen umsonst gewesen sein?

 

Sehr geehrte Herren Minister und Senatoren, sehr geehrte Damen und Herren Experten, es muss auch in Deutschland – und nicht nur in Amerika, Kanada oder Australien - möglich sein, dass Menschen, die jahrelang hier gelebt, sich trotz aller Hindernisse integriert haben und Deutschland für ihre Heimat halten, hier bleiben dürfen. Sie müssen endlich ein deutliches Signal bekommen, dass sie willkommen sind.

 

Bitte stellen Sie diese Menschen nicht vor kaum erfüllbare Bedingungen für die Erlangung eines dauerhaften Bleiberechtes - wie einen Arbeitsnachweis. Bitte zögern Sie nicht länger, von dem Elan dieser Menschen, ihren neuen Ideen, ihrer großen Arbeitsmotivation Gebrauch zu machen und sie zu ermutigen, ein gleichberechtigter und respektierter Teil unserer Gesellschaft zu werden. Deutschland trägt die Verantwortung für diese Menschen und ihre Kinder.

 

Eine Bleibrechtsregelung für diese rund 200 000 Flüchtlinge ist seit Jahren überfällig. Wir bitten Sie, ein großzügiges Bleiberecht für alle langjährig Geduldeten zu beschließen.

 

Mit einem solchen Beschluss wird Deutschland im europäischen Kontext und darüber hinaus an Ansehen gewinnen.

 

Mit freundlichen Grüßen

gez. Tilman Zülch

Generalsekretär