19.04.2005

Offener Brief An Außenminister Joschka Fischer:Nutzen Sie Ihre guten Beziehungen zur arabischen Welt – helfen Sie das Blutvergießen an Syriens Kurden zu beenden!

Sehr geehrter Herr Minister,

 

durch den von Ihnen initiierten Gefangenenaustausch - von über 400 überwiegend arabisch-schiitischen Hisbollah-Anhängern aus dem Libanon gegen die Gebeine dreier gefallener Israeli und einen israelischen Kaufmann – haben Sie sich in der gesamten arabischen Welt Vertrauen erworben, nicht zuletzt bei arabischen Nationalisten. Zu letzteren gehört auch der Diktator und Chef der syrischen Baath-Partei Baschar al-Assad.

 

Seit vergangenem Sonnabend werden in Syrien wieder Menschen – dieses Mal kurdische Kinder, Frauen und Männer - gejagt und erschossen, Schwerverwundete aus den Hospitälern verwiesen und auf die Straße gesetzt, Hunderte, vielleicht schon Tausende inhaftiert und Städte hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt. Schon am vergangenen Sonntag hatten wir daran erinnert, dass der Diktator Hafiz al-Assad vor knapp zwanzig Jahren Unruhen der sunnitischen Bevölkerung Hamas niedergeschlagen und dabei etwa 50.000 Menschen vernichtet hatte. Das darf sich nicht wiederholen.

 

Die syrischen Kurden in drei Nordregionen des Landes zählen etwa zwei Millionen Menschen. Gut 200.000 von ihnen wurden ausgebürgert. Sie müssen ohne Papiere leben, einige hundert von diesen Kurden leben als Flüchtlinge in Deutschland. In Syrien besitzt die kurdische Minderheit keinerlei kulturelle oder sprachliche Rechte, geschweige denn regionale Selbstverwaltung. Syrien hält seit Jahren kurdische wie arabische Bürgerrechtler inhaftiert. Folter ist dort an der Tagesordnung.

 

Der Syrische Nationalrat für Wahrheit, Gerechtigkeit und Versöhnung spricht von 60 bis 100 Opfern der syrischen Militärs und Sicherheitskräften in den vergangenen Tagen. Die israelische Zeitung Haaretz geht von über 100 Toten aus.

 

Gestern, am Dienstag, demonstrierten Kurden in zahlreichen Städten Westeuropas und Nordamerikas zum Gedenken an die 5.000 Giftgasopfer der kurdisch-irakischen Stadt Halabja. In Deutschland leben nicht nur 600.000 Kurden, sondern auch 200.000 Deutsche kurdischer Abstammung. Unsere Menschenrechtsorganisation erinnert daran, dass deutsche Firmen seinerzeit am Aufbau der irakischen Giftgasindustrie beteiligt waren.

 

Auch in der kurdisch-syrischen Stadt Afrin erinnerten gestern junge Menschen an Halabja. Die Sicherheitskräfte des syrischen Diktators eröffneten das Feuer auf die jungen Leute. Mindestens fünf wurden erschossen, unter ihnen die 18 Jahre alte Abiturientin A.L. (der richtige Name ist uns bekannt), verwandt mit der Familie des GfbV-Vorstandsmitgliedes Maria Sido. Nach dem Telefongespräch lagen die Toten gestern Abend noch auf der Straße, weil sich niemand aus dem Hause traute und Assads Militärs sofort scharf schossen. Nicht nur in Afrin gibt es zahlreiche unzureichend versorgte Verletzte. In der mehrheitlich kurdischen, auch von assyrischen Christen bewohnten Stadt Kamischli wurden 400 verwundete Kurden, unter ihnen viele Schwerverletzte, von Soldaten aus dem Hospital gewiesen. In Damaskus und Aleppo sollen Hunderte von kurdischen Studenten festgenommen worden sein.

 

Sehr geehrter Herr Minister, wir wissen, dass Sie bei Baschar al-Assad Gehör finden. Bitte nutzen Sie dieses Vertrauen, um Syriens Diktator zu bewegen, die Kurdenverfolgung in den Städten des Nordens sowie in Damaskus und Aleppo sofort einzustellen, die Inhaftierten freizulassen, die medizinische Hilfe für Verwundete nicht weiter zu verhindern.

 

Beginnen Sie einen Dialog mit dem syrischen Regime im Sinne der Demokratisierung, der Wiederherstellung des Rechtsstaates, der Wiedereinbürgerung der 200.000 Kurden und der Gewährung von Bürger- und Minderheitenrechten.

 

Wir senden dieses Schreiben als offenen Brief, damit unsere kurdischen und syrischen Freundinnen und Freunde in Deutschland davon erfahren. Gleichzeitig werden wir uns an die Fraktionen des Bundestages, die zuständigen Bundestagsausschüsse, die Kirchen und jüdischen Gemeinschaften sowie den Islamischen Rat u. a. mit der Bitte wenden, ebenfalls aktiv zu werden.

 

Mit freundlichem Gruß

 

Tilman Zülch