20.06.2005

Nordirak - durchs freie, friedliche Kurdistan

Ein Reisebericht von Tilman Zülch

Tilman Zülch, Präsident der Gesellschaft für bedrohte Völker International, mit Abdullah Barzani, dem Cousin des legendären Kurdenführers Mustafa Barzani

"Von dem Augenblick an, an dem ihr die Grenze überschreitet, seid ihr unsere Gäste", versicherte Dilsad Barzani, der Vertreter der kurdischen Regionalregierung des Nordirak in Deutschland, unserer siebenköpfigen Delegation von der Gesellschaft für bedrohte Völker International (GfbV). "Ihr habt in den schlimmsten Katastrophen und Tragödien unseres kurdischen Volkes zu uns gestanden, gegen Völkermord, Giftgasbombardements und Vertreibung, für unser Recht auf Überleben und Selbstbestimmung", sagte mir dann später Masud Barzani, der Präsident der Demokratischen Partei Kurdistan (KDP). "Das werden wir Euch nicht vergessen."

Wir haben diese Gastfreundschaft zwei ganze Wochen lang genossen, in den kurdischen Bergen, im Barzantal, in den Städten Zaxo, Arbil, Salhaddin und Sulaimania – auch in den neuen und alten Restaurants -, in den Häusern unserer kurdischen Freunde, aber auch in den kurdischen Universitäten und den Ministerien. Wir fanden viele Freunde wieder, die in einem der beiden deutschen Staaten oder in Österreich studiert und für die kurdische Sache oft jahrzehntelang agitiert hatten.

Doch bevor wir nach Irakisch-Kurdistan kamen, durchquerten wir zunächst das türkische Kurdengebiet. Erst später wird der krasse Unterschied zwischen beiden Regionen klar. In Türkisch-Kurdistan muss man auf Schritt und Tritt die Verelendung und Unterdrückung der 15 Millionen Kurden miterleben. Noch tragen öffentliche Beschilderungen keine einzige kurdisch geschriebene Zeile genauso wenige wie Geschäftsreklamen. In Sachen Sprachenrechte stehen die Reformen bislang nur auf dem Papier. Daran ändern winzige Fortschritte wie eine kurze kurdische Fernsehsendung oder die Existenz eines kurdischen Institutes im fernen Istanbul wenig. In Diyarbakir, der "heimlichen" Kurdenhauptstadt der Türkei ist das Stadtbild geprägt von den vielen Flüchtlingen. Sie stellen hier zwei Drittel der Einwohner, fast alle sind arbeitslos, ohne Zukunftsperspektive. Es sind bäuerliche Familien, die aus ihren zerstörten Dörfern vertrieben wurden und nicht zurückkehren dürfen.

Ein Lichtblick ist unser Besuch beim Bürgermeister der uralten Stadt Hasankeyf, Vehap Küsen. Noch im Jahr 2000 organisierte die GfbV in Berlin eine Pressekonferenz und Gespräche mit der Bundesregierung für diesen Repräsentanten einer 3000jährigen Siedlung, die nach dem Willen der damaligen türkischen Regierung in einem Stausee verschwinden sollte. Jetzt, nachdem "der Ministerpräsident der Reformen" Recep Tayyib Erdogan im Sommer 2004 in Batman die Rettung Hasankeyfs angekündigt hat, scheint die größte Gefahr gebannt.

Optimistisch ist auch die Stimmung in dem schönsten christlichen, syrisch-orthodoxen Kloster der Türkei Mar Gabriel im Tur Abdin, dem jahrtausendealten Siedlungsgebiet der aramäischsprachigen Assyrer an der syrisch-irakischen Grenze. Hier trägt die Reformpolitik Erdogans erste Früchte: Der Unterricht in neuaramäischer Sprache wird nicht mehr behindert. Die ersten, einst ethnisch gesäuberten Dörfer wurden den Assyrern und den befreundeten ebenfalls vertriebenen Yeziden zurückgegeben. Die neuen alten Bewohner, die jahrelang als Flüchtlinge in Mitteleuropa gelebt haben, haben mit dem Wiederaufbau begonnen.

Die ganze Arroganz, Willkür und Repression von 80jährigem türkischem "Herrentum" gegenüber der unterworfenen kurdischen Bevölkerung wurde uns an der Grenzstation Habur im fernen Anatolien demonstriert. Rampen, darauf Baracken ebenfalls aus Beton und vergammeltem Blech. Und nur zwei Beamte, die scheinbar nach Lust und Laune und doch wie "von oben" verordnet unendlich langsam die meist türkisch-kurdischen Tanklastwagenfahrer abfertigten. Dabei produzieren sie auftragsgemäß täglich unübersehbare Warteschlangen, die sich oft bis zu 35 km Länge stauen. Mit aller Härte behandeln sie die Menschen, die in das irakische Kurdengebiet drängen. Trotz der Verzögerung von jeweils vielen Tagen und der Strapazen bei 35 bis 40 Grad Hitze noch im späten Oktober lohnt sich für die armen Kurden die Fahrt. Denn Öl ist billig im Irak. Doch das türkische Militär schädigt weiter völlig irrational die darnieder liegende eigene Volkswirtschaft in Südostanatolien. Dahinter steckt einzig und allein die Absicht, den benachbarten, aufstrebenden kurdischen Teilstaat auf der anderen Seite des Grenzflusses massiv zu behindern.

Kaum haben wir die Brücke über den Grenzfluss Zaxo nach Irakisch-Kurdistan überschritten, wandelt sich das Bild total. Uns empfangen blühende Blumenbeete vor dem neu erbauten Hotel und mehreren Restaurants, Wasserfontänen schießen auf im neu angelegten Park. Unter dem Riesenporträt des legendären Kurdenführers Mustafa Barzani erleben wir eine effiziente und schnelle Abfertigung durch höfliche Grenzbeamte.

So positiv die Eindrücke an der Grenzstation waren, so präsentierte sich uns auch das freie, das friedliche Kurdistan, heute offizieller Teilstaat des Irak. Hier herrscht wirtschaftlicher Aufschwung. Überall wird gebaut, auch für viele Witwen der Gefallenen und Ermordeten entstehen neue Siedlungen. Ein gigantisches Aufforstungsprogramm hat vor sieben Jahren begonnen. Neue Strassen durchziehen das Land. In den kurdischen Hotels fallen die vielen wohlhabenden Araber aus dem krisengeschüttelten Süd- und Mittelirak auf, die sich hier in Ruhe erholen können.

Irakisch-Kurdistan umfasst heute 36 000 Quadratkilometer, ist fast so groß wie die Schweiz und eben so sicher wie Westeuropa. Wir trafen die Präsidenten der beiden größten Universitäten Arbil und Sulaimania. Hinreißend ist die Architektur der Salahaddin-Universität in der Hauptstadt Arbil. Sie ist gleichzeitig supermodern und strahlt trotzdem Harmonie und Tradition aus. Unter den 25 000 kurdischen Studenten sind 54 % Frauen. Unterrichtssprachen sind Kurdisch, Englisch und Arabisch. 800 000 Schüler werden auf Kurdisch unterrichtet. Wir sprachen mit Bürgermeistern und Repräsentanten der beiden kleinen Völker der Assyro-Chaldäer und Turkmenen. Auch sie haben hier ein eigenes Schulsystem und Medien in neuaramäischer und türkischer Sprache.

Wir besuchten Lalisch, das uralte Heiligtum der Yezidi, und trafen ihren Fürsten, den Mir Tahsin Beg, der bisher in Bagdad leben musste. Er fordert die Einbeziehung des Sinjar-Gebietes, in dem 500 000 seiner kurdischsprachigen Glaubensbrüder leben, in die kurdische Teilrepublik. Bisher hatten sie unter Saddam Hussein gelitten, waren Opfer von Zwangsumsiedlung: Sie wurden in neuen Zentraldörfern aus Beton zusammengepfercht. Nun beginnt diese uralte nichtchristliche, nichtmuslimische kurdischsprachige Religionsgemeinschaft, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. Zum ersten Mal in der irakischen Geschiche stellen die Yezidi Minister sowohl in der Regionalregierung als auch in Bagdad. Die ist ein großer Schritt nach vorn für diese Minderheit, durchgesetzt von der Demokratischen Partei Kurdistan (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistan (PUK).

Sinjar gehört wie die große Ölstadt Kirkuk, aber auch das Gebiet um Khanakin bis hinunter nach Mandali zu jenem von Saddam besetzten und ethnisch gesäuberten Drittel des nichtarabischen Nordirak, der früher vor allem von Kurden, aber auch Turkmenen und christlichen Assyro-Chaldäern besiedelt war. Während die Schutzzone Kurdistan seit 1991 für die Baath-Partei unerreichbar war, blieb die Situation der Menschen hier unter Saddams Herrschaft unerträglich. Eine Vertreibungswelle folgte der anderen. Inzwischen sind Hunderttausende zurückgekehrt. In einige Regionen herrscht jetzt Ruhe. In anderen wie in Kirkuk wollen Teile der eingesiedelten arabischen Bevölkerung die Rückkehr der einstigen kurdischen Bevölkerung nicht tolerieren. Überfälle und Bombenattentate sind an der Tagesordnung.

Dennoch sind die Berichte des kurdischen Vizegouverneurs von Kirkuk, Hasib Rojbebayi, und des einflussreichen Vertreters der KDP im Stadtparlament Kemal Kerkuki sowie auch unserer assyrischen und vieler turkmenischer Gesprächspartner aus der Stadt verhalten optimistisch. Mit der alteingesessenen arabischen Bevölkerung komme man gut zu recht. Die Rückkehrer fürchten vor allem eine Intervention der Türkei, die einen Teil der turkmenischen Bevölkerung instrumentalisiert, um Unruhe zu stiften. Früher stellten die Kurden die Hälfte, die Turkmenen ein Viertel der Stadtbevölkerung, die Assyrer etwa sechs Prozent. International unbeachtet bleibt allerdings das Elend der Rückkehrer in der Stadt und Provinz Kirkuk. Sie müssen zu Zehntausenden in Ruinen und Zelten vegetieren. Erschreckt sind unsere assyro-chaldäischen Freunde, der Generalsekretär der Bet-Nahrain Democratic Party, Romeo Hakari, der stellvertretende Vorsitzende des Assyrian Democratic Movement, Salem Kako, und der Bürgermeister der nur von Assyro-Chaldäern bewohnten kleinen Stadt Ankawa über die Verfolgung der Christen im Süd- und Mittelirak. Schon 14 christliche Gotteshäuser wurden durch Bombenangriffe zerstört. Mindestens 200 Christen wurden von Terroristen ermordet, einige geköpft und die CDs ihrer Hinrichtung auf Märkten verkauft. Man will die rund 700 000 Christen aus dem Lande jagen. Die meisten Christen haben Basra verlassen. Alle 4000 assyro-chaldäischen Familien sollen geflüchtet sein. Insgesamt 40 000 bis 70 000 Christen haben verschiedenen Schätzungen zufolge dem Irak bereits den Rücken gekehrt. Sie wandten sich nach Syrien, nach Jordanien und Kurdistan. Die kurdische Administration hat mit der Eingliederung der Flüchtlinge begonnen. Die PUK stellt Grundstücke zur Verfügung und Mittel für den Hausbau, die KDP gewährt den christlichen Familien Sozialhilfe zum Überleben. Die GfbV hat sich nach Rückkehr ihrer Delegation mit Schreiben an alle westlichen Staaten und an die EU gewandt und um Hilfe für die Ansiedlung im Nordirak gebeten.

Sehr beeindruckend waren die Gespräche mit den jungen Kurdinnen und Kurden der neu gegründeten Bürgerinitiativen. Sie wünschen sich Zusammenarbeit. Die gerade entstehende GfbV-Sektion Nordirak wollen sie in ihr Netz von Nichtregierungsorganisationen aufnehmen. Traurig war der Besuch bei den Witwen des Barzantales. Dort hatte die GfbV 1991 bis 1993 den Wiederaufbau von 30 zerstörten Dörfern initiiert. Fadila Memisevic, Direktorin der GfbV-Bosnien, fand sofort die richtigen Worte für diese Frauen, die 8000 ihrer Söhne und Männer durch eine der Massenerschießungen Saddams 1983 verloren hatten. Fadila, in Srebrenica aktiv für die Hinterbliebenen der mindestens 7800 ermordeten Knaben und Männer der Stadt, berichtete über ihre tägliche Arbeit für deren Witwen in Bosnien. Das traf auf große Resonanz. Die Schicksale sind identisch. Die Kinder der Opfer des Barzantals sind junge Menschen. Wir besuchten ihre Ausstellung mit mehr als 2000 Steckbriefen der Hingerichteten - unter ihnen auch die der Männer des christlichen Dorfes Beidyal im Barzantal – und vereinbarten enge Zusammenarbeit.

Im Hauptort der Anfal-Offensive, in Barzan (Barzantal), empfing uns Abdullah Barzani, der Cousin des legendären Kurdenführers Mustafa Barzani. Das Dorf war wieder aufgebaut, uns empfing die überwältigende kurdische Gastfreundschaft. Der Gastgeber berichtete über die Leiden und Entbehrungen der Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten, über die Opfer, aber auch den Widerstandswillen der Bewohner. Abdullah Barzani selbst zeigte sich als kluge, souveräne Persönlichkeit. Bei unserem kurzen Aufenthalt verabredeten wir ein Treffen für das Frühjahr 2005.

Auch das "Anfal-Zentrum" und die Organisation der "Anfal"-Opfer will mit der neuen GfbV-Sektion im Nordirak kooperieren. 180 000 Zivilisten wurden während Saddams "Anfal"-Offensive ermordet, die mit Giftgasangriffen begann. Der Einsatz der Chemiewaffen war nur möglich durch die "Aufbauhilfe" deutscher und europäischer Firmen. Die GfbV-Nordirak/Irakisch-Kurdistan wird in der Region die Organisation der Angehörigen der 500 000 Genozidopfer unterstützen. So viele Kurden und mit ihnen auch Yeziden und Assyro-Chaldäer des Nordens vernichtete das Baath-Regime in 35 Jahren. Die GfbV wird weiter für die Rechte der kleinen Völker und der Rückkehrer eintreten und nicht zuletzt die Situation bedrohter Volksgruppen im Nahen Osten recherchieren.

Wir - Maria Sido, deutsche Kurdin aus Bonn, seit 1972 in der GfbV aktiv, Fadila Memisevic aus Sarajevo, Süleyman Yildirim aus Göttingen, die Fernsehjournalisten Kamal Saydo und Daniel Bögge aus Warendorf und der deutsche Assyro-Chaldäer Khalid Hannah Shabo aus Wiesbaden sowie der Autor -wurden überall herzlich empfangen. Nach den Jahren der Vertreibung und des Genozids ein Land zu erleben, das immer mehr zur Normalität zurückfindet und den Frieden genießt, erlebten wir auch als Belohnung für die mehr als 30jährigen Menschenrechtsarbeit der GfbV für Kurdistan und vor allem für die vielen tausend Mitglieder, Spender und Unterstützer, die diese Arbeit möglich gemacht haben.

Alle unsere Gesprächspartner sicherten dem neuen GfbV-Büro Unterstützung zu: Der Ministerpräsident Neschirvan Barzani, der KDP-Fraktionsvorsitzende im Parlament Dr. Nasih Gafoor Ramadan, der Parlamentspräsident Kemal Fuad, der KDP-Generalsekretär Fadil Mirani, die drei Minister der Regionalregierung in der Hauptstadt Arbil für Inneres, Menschenrechte und Humanitäre Koordination, der irakische Minister für Menschenrechte Bahtiar Amin, mit dem wir noch im Jahr 2002 in seiner Funktion als Menschenrechtler in Berlin eine gemeinsame Pressekonferenz veranstaltet hatten. "Wir brauchen eure Menschenrechtsorganisation, die sich so lange so intensiv mit dem Leid der Menschen hier befasst hat, in unserer Region, damit ihr jetzt vor Ort unsere Arbeit kritisch begleitet", sagte er.

Mit Trauer gedenken wir der vielen tausend Opfer des Terrors im Mittel- und Südirak und erhoffen - wie die Bewohner des irakischen Kurdistans -für sie dieselbe Sicherheit und denselben Frieden, den ihre Landsleute im Norden genießen dürfen. Es bleibt nachzutragen, dass das kurdische Fernsehen unsere Reise begleitete und täglich über unsere Gespräche und Besuche bei Organisationen und Institutionen berichtete. In Arbil wurde der Autor von dem Verein kurdischer Intellektueller zu einem Vortrag gebeten. Das gewünschte Thema war "Genozid in der Welt, im Nahen Osten, seine Bekämpfung und die Bestrafung der Schuldigen".