22.10.2009

Nigeria: Schwere Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Hexerei-Anklagen

Kinder in Lagos, Nigeria (The Advocacy Project, flickr)

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) warnte vor einigen Tagen auf einer Expertentagung in Genf vor einer Zunahme von Hexenverfolgungen vor allem in Afrika. UNHCR-Experten schätzen, dass weltweit zehntausende Menschen – in Südostasien und Lateinamerika, aber auch in Kanada, USA und Europa – der Hexerei beschuldigt und deshalb getötet werden. Millionen Menschen seien von den Auswirkungen betroffen.

 

In afrikanischen Kulturen ist die Wirksamkeit magischer Praktiken traditionell weit verbreitet. Wie in den USA und in anderen Teilen der Welt hat in den letzten zwei Jahrzehnten eine "Fundamentalisierung" des Christentums auch in Afrika stattgefunden. Eine Folge davon ist die starke Zunahme des Glaubens an die Macht von übernatürlichen Kräften und die kaum noch überschaubaren, neu entstandenen, fundamentalistischen Sekten und Freikirchen in vielen afrikanischen Ländern.

 

Die Konjunktur von Geistern, Hexen und Zauberern in Afrika steht in engem Zusammenhang mit der Globalisierung und den daraus entstandenen weltweiten instabilen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen. Der Zerfall der traditionellen Familienstrukturen, die zunehmende Armut und Verelendung, Hungersnöte, die epidemische Ausbreitung von HIV-Infektionen und AIDS, anhaltende Bürgerkriege, Binnenmigrationen und Naturkatastrophen als Folgen des Klimawandels wie Dürren, Erdbeben und Überschwemmungen, bilden den Nährboden für den Glauben an die Macht des Übernatürlichen. "Hexerei ist eine klar identifizierbare Ursache für Dinge, die man ansonsten schwer oder gar nicht erklären kann", so die Autorin Jill Schnoebelen des UNHCR-Reports zum Thema Hexerei und Menschenrechte.

 

Von vermeintlichen Hexen wird angenommen, dass sie durch magische Fähigkeiten Unglück verursachen, zum Beispiel Krankheiten, Landkonflikte, Scheidungen, Brände, Unfälle bis hin zu Tod und Naturkatastrophen. Oft gelten sie als Inkarnation des Bösen. Sie richten angeblich ihre schädlichen Aktivitäten gegen ihre nächsten Nachbarn und Verwandte, seltener gegen Fremde. Im Kontext von Hexerei werden Neid-, Konkurrenz- und Konfliktmotive besonders betont. Dem UNHCR-Bericht zufolge müssen besonders Mädchen und Frauen als "Sündenböcke" herhalten. Andere Risikogruppen sind ältere Frauen, Menschen mit Albinismus, AIDS-Kranke, psychisch Kranke, Flüchtlinge, die in Camps leben, aber auch besonders schöne und erfolgreiche Frauen und Männer. Angehörige von ethnischen Minderheiten sind in den jeweiligen Ländern Afrikas unterschiedlich betroffen. Fast alle werden von nahestehenden Personen, oftmals sogar von Familienangehörigen, der Hexerei angeklagt. In den Jahren zwischen 1998 und 2001 wurden dem UNHCR-Bericht zufolge in Tansania 17.220 Frauen der praktizierenden Hexerei angeklagt. Zehn Prozent von ihnen wurden getötet, viele davon waren über 50-jährige Frauen. Im Norden Ghanas gibt es ein ganzes Dorf, in dem ausschließlich Frauen leben, die von ihren Verwandten als Hexen verfolgt werden.

 

Eine weitere Risikogruppe sind Kinder. Seit den 1990er Jahren werden in einigen afrikanischen Ländern wie zum Beispiel Nigeria, Benin, der Demokratischen Republik Kongo, Angola, Sambia und Tansania auch Kinder der Hexerei beschuldigt – ein Phänomen, das es zuvor nicht gegeben hat. Oft handelt es sich dabei um Kinder mit Behinderungen und Krankheiten, um bewaffnete Kindersoldaten oder um rebellische, "unartige" Kinder. Ihnen werden magische Fähigkeiten zugeschrieben, mit denen sie in der Lage sind zum Beispiel Krankheiten, finanzielle Not, Arbeitslosigkeit und Tod über ihre Familien und Gemeinden zu bringen. Solche stigmatisierten Kinder werden häufig von ihren Müttern ausgesetzt. Der UNHCR schätzt, dass in Nigeria innerhalb der letzten zehn Jahre etwa 5000 Kinder ausgesetzt wurden, weil ihre Eltern glaubten, sie wären Hexen. In dem UNHCR-Bericht ist sogar von 25.000 ausgestoßenen Kindern in Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo die Rede. In der Stadt leben viele der verstoßenen Kinder auf der Straße. Die meisten von ihnen sind zwischen 10 und 13 Jahre alt, aber auch Fünfjährige befinden sich unter ihnen. Das Ministerium für Soziale Angelegenheiten in Tansania berichtete in der Sunday Times am 5. Februar 2006, dass schätzungsweise über 50.000 Kinder in tausenden Kirchen in Tansania festgehalten wurden, wo sie auf eine zeremonielle "Austreibung" warten mussten.

 

Die Tageszeitung und Spiegel Online berichten, dass vor allem in Nigeria an sogenannten "Hexenkindern" – auch Babys werden der Hexerei beschuldigt -, schwere Menschenrechtsverletzungen, oft in den vielen Kirchenhäusern im Namen Gottes, verübt werden. Tausende unschuldige Kinder und Jugendliche müssen als "Strafe" für ihre "bösartigen Aktivitäten" gegen Bezahlung, langwierige schwarzmagische Zeremonien zur "Austreibung des Bösen" über sich ergehen lassen, ausgeführt von Pastoren, Priestern, Bischöfen und selbst ernannten Propheten, die sich damit ein gutes Leben finanzieren. Die "Hexenkinder" werden bedroht, gequält, geschlagen, sie müssen hungern, sie werden verstoßen, in den Busch getrieben, verfolgt, regelrecht gejagt, mit Benzin übergossen und angezündet, ihnen werden Säuren eingeflößt, sie werden vergiftet, wochenlang an beiden Fußgelenken an Bäume gefesselt, von Pastoren angekettet, lebendig begraben, gefoltert oder getötet. Die Hilfsorganisation "Stepping Stones Nigeria" berichtet, dass in zwei von 36 Bundesstaaten Nigerias in den letzten 10 Jahren über 15.000 Jungen und Mädchen wegen Hexerei verfolgt und rund 1000 getötet wurden. Allein im Monat September 2009 wurden drei der beschuldigten Kinder umgebracht und drei weitere in Brand gesteckt.

 

Vor einigen Jahren wurde in Nigeria ein Gesetz erlassen, das den Missbrauch der Kinder unter Strafe stellt. Das Gesetz wurde aber nicht in allen Provinzen angenommen. Für die meisten Kinder sind deshalb Zufluchtsstellen oft die einzige Rettung vor dem sicheren Tod. Helfer beschützen die Kinder, sammeln Geld, bauen Schulen und reden mit den Eltern, damit diese die Kinder wieder in die Familien zurückholen. Das Gegenteil ist aber eher der Fall, denn wöchentlich werden bis zu zehn weitere Kinder in den Waisenhäusern aufgenommen.

 

Anfang Juli 2009 berichtete "Stepping Stones Nigeria", dass im nigerianischen Bundesstaat Akwa Ibom ein Kinderzentrum der Humanitären Organisation "Child’s Right and Rehabilitation Network" (CRARN) in der Stadt Esit Eket von mehreren Polizisten überfallen wurde. Die Polizisten brachen in das Haus ein und beschlagnahmten Computer, persönliche Gegenstände und Dokumente. Mehrere Kinder wurden geschlagen, zwei davon so schwer, dass sie im Krankenhaus behandelt werden mussten. Außerdem wurden zwei Mitarbeiter von CRARN willkürlich verhaftet und ohne Anklage auf der Polizeiwache in Esit Eket in Arrest gehalten, bis sie gegen eine Kaution freigelassen wurden. Es ist zu vermuten, dass das mutwillige Zusammenschlagen unschuldiger Kinder und die gesetzwidrige Verhaftung von CRARN-Mitarbeitern Teil einer weitreichenden Einschüchterungskampagne gegen die Organisation und ihrer Unterstützer ist.

 

Der Glaube an die Macht von übernatürlichen Kräften durchzieht in afrikanischen Gesellschaften alle Bevölkerungsschichten. Die Macht des Okkulten ist im alltäglichen Leben ständig und überall präsent. Eine Vielzahl von Amuletten, Tinkturen und Orakel sollen vor dem Einfluss böser Mächte schützen. In der Bevölkerung wird die Macht des Okkulten durch Filme und Fantasieromane noch zusätzlich geschürt. Der Glaube an Geister, Hexen und Zauberern wird in den Medien wie Zeitungen und Zeitschriften, Radio, Fernsehen und Video publik gemacht und verbreitet. Seit den 1990er Jahren wird in größerem Umfang in Anlehnung an Hollywood in den USA und Bollywood in Indien, der nigerianische Film unter dem Namen "Nollywood" (in Ghana unter "Ghollywood") äußerst gewinnbringend vermarktet. In den zahlreichen low-budget Nollywood-Filmproduktionen werden verschiedene Genres aus Dramatik, Tragik, Romantik und Action vermischt. Wichtige Themen sind Religion, okkulte Mächte, Verbrechen, Liebe, Verrat, Mord, Kannibalismus, Korruption und postkoloniale Konflikte. Geistwesen, übernatürliche Kräfte, die filmtechnisch oft als computeranimierte Blitze dargestellt werden, Hexen und Zauberer, spielen in den populären Horror-Videos eine zentrale Rolle.

 

Die nigerianische selbsternannte Prophetin Helen Ukpabio produzierte mehrere, mittlerweile weit verbreitete Videofilme, die angebliche "Hexenkinder" bei Hexenritualen und dem Verzehr von Menschenfleisch zeigen. Gutgläubige Menschen sollen davon überzeugt werden, dass die "Hexenkinder" sehr gefährlich sind. Die Hilfsorganisation "Stepping Stones Nigeria" betreibt in der Bevölkerung engagierte und kritische Aufklärungsarbeit gegen den tödlichen Geisterwahn. Sie versucht Druck auf die Regierung des Bundesstaates Akwa Ibom, auf die Polizei und auf die Gesetzgebung auszuüben. Die Organisation benutzt das Medium Internet, um die Medienöffentlichkeit über die dramatische Entwicklung in Nigeria zu informieren. "Stepping Stones Nigeria" bittet die internationale Gemeinschaft sie bei ihrer Arbeit zu unterstützen und sich dafür einzusetzen, das Leben der unschuldigen Kinder zu schützen.

 

 

Den Artikel können Sie auch auf unserem Blog, am 22. Oktober 2009 eingestellt, mit einigen Linkverbindungen aufrufen.