15.09.2005

Mit den Eisbären sterben die Menschen

Indigene Völker in der Arktis leiden unter Klimawandel

Foto: Karl-Heinz Raach

In der gesamten Arktis sind indigene Völker mit den katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels bereits heute massiv konfrontiert. Die Folgen der Klimaerwärmung beeinträchtigen die Sicherheit auf ihren Wegen und in ihren Wohnorten. Sie drohen, ihren Lebensraum, ihre Gesundheit, ihre Nahrungsgrundlagen sowie ihre Kulturen und Lebensweisen zu zerstören.

Insgesamt leben fast vier Millionen Menschen in der Arktis, deren Gebiet sich am nördlichen Polarkreis durch Norwegen, Schweden, Finnland, Dänemark, Island, Kanada, Russland und die USA zieht. 400.000 von ihnen gehören mehr als 30 indigenen Völkern wie den Saami in Lappland, den Inuit in Grönland, den Gwich´in, Athabasken und Yup´ik in Alaska oder den Evenken in Sibirien an. Die Ureinwohnerinnen und Ureinwohner haben genaue Kenntnisse über ihre von Permafrost geprägte Umwelt, deren Eis vielerorts keine Landmassen, sondern den Arktischen Ozean unter sich hat. Heute beobachten sie arktisweit starke Veränderungen der Wetter- und Umweltbedingungen. Sie erleben, wie die Winter kürzer und wärmer geworden sind, wie sich Gletscher zurückziehen oder gänzlich abtauen und die Eisdecke dünner geworden ist. Der Temperaturanstieg in der Arktis vollzieht sich zwei- bis dreimal stärker als im globalen Durchschnitt. Hierfür verantwortlich ist vor allem der Gehalt an Kohlendioxid in der Atmosphäre, der beim Verbrennen fossiler Energieträger wie Öl und Kohle entsteht.

Indigene in der Arktis haben seit Jahrzehnten gegen die Öl- und Gasförderung vor Ort und deren unmittelbare Konsequenzen für ihre Gesundheit und ihre Umwelt zu kämpfen gehabt. Jetzt stellen die Folgen der globalen Ölförderung und anderer industrieller Tätigkeiten sie noch umfassender vor eine nie gekannte existentielle Herausforderung. Die indigenen Völker haben sich über Generationen einer extremen Umwelt anzupassen gewusst. Wie können sie jetzt auf die katastrophalen Folgen der Klimaerwärmung reagieren, die ihnen ihre Lebensgrundlage zu entziehen drohen? Durch die Geschwindigkeit, in der der Wandel vor sich geht und angesichts der globalen Machtverhältnisse ist es schwer, sich an die veränderten Bedingungen anzupassen. Der Klimawandel stellt sich für die indigenen Völker als eine Form der Menschenrechtsverletzung dar, die sich in allen Lebensbereichen zeigt und ihnen die Basis für ihr Überleben zu zerstören droht.

 

Naturgewalten zerstören Wege und Wohnorte

{bild1}Früher sichere und vertraute Wege zwischen Gemeinden und in Jagdgebieten, die über das Eis führen, sind heute durch dünne und rissige Eisdecken gefährlich geworden. So ist es im kanadischen Autonomiegebiet Nunavut bereits zu Todesfällen gekommen, als Inuit beim Jagen und Fischen durch zu dünn gewordenes Eis eingebrochen sind.

Den 600 Inupiat in Shishmaref, Alaska reißt die Wirkung des Klimawandels buchstäblich den Boden unter den Füßen weg. Sie sehen sich gezwungen, ihren seit vielen Generationen bewohnten Ort auf der seit 4000 Jahren besiedelten Insel vor der Küste Nordalaskas innerhalb der nächsten Jahre zu verlassen. Durch die steigenden Temperaturen kommt es in Shishmaref zu Seestürmen und Küstenerosion. Das Meereis schwindet und der gefrorene Permafrostboden taut immer weiter auf.

Dadurch sind Wohnhäuser, Wasserleitungen und andere Teile der Infrastruktur zerstört worden. Viele Häuser mussten bereits weiter ins Land versetzt werden. Ein Ende des Dorfes wurde den Inupiat bei einem Sturm vollständig weggerissen. Aktuell sind in Alaska 184 weitere Gemeinden der Gefahr von Erosion und Überflutung ausgesetzt.

 

Nahrungsgrundlagen in Gefahr

{bild2} Wie in anderen Teilen der Arktis auch, müssen die Bewohnerinnen und Bewohner Shishmareffs außerdem um ihre Nahrungsmittelversorgung fürchten. Durch das schwindende Meereis können sie nicht mehr Anfang November über das Eis ans Festland gelangen, um Elche und Karibus zu jagen. Die Bucht ist nunmehr ein offenes Gewässer geworden.

Doch nicht allein dieser Zugang zu Nahrung lässt viele indigene Völker, die von der Jagd auf Eisbären, Walrosse, Robben und Karibus, von der Haltung von Rentieren, vom Fischfang und Sammeln leben, besorgt sein. Unter den neuen Bedingungen verändern manche Tiere ihre Wanderbewegungen. Tierpopulationen werden kleiner und drohen auszusterben. Ebenso gehen pflanzliche Nahrungsquellen verloren, da zum Beispiel Beeren im veränderten Klima nicht mehr wachsen können. Es treten Insekten-, Vogel- und Fischarten auf, die in den jeweiligen Gegenden bisher unbekannt waren. Seehunde, Eisbären und Walrosse, für die das Eis als Lebensraum notwendig ist, drohen sogar auszusterben. So berichten Yup´ik davon, wie in Alaska der Rückzug des Eises den Lebensraum der Walrosse verkleinert, den diese für ihre Nahrungssuche und die Aufzucht ihres Nachwuchses dringend brauchen.

 

Kulturelle Identität bedroht

{bild3} Die Tier- und Pflanzenwelt stellt nicht allein eine Nahrungsquelle dar, von denen die Indigenen existentiell abhängig sind. Darüber hinaus ist sie wichtig für ihre soziale, kulturelle und spirituelle Identität. Feste, Zeremonien, Mythologien und Überlieferungen von Geschichten spiegeln die Bedeutung der arktischen Umwelt für ihre Bewohnerinnen und Bewohner wider. So stellt der Klimawandel das Überleben der Inuit-Kultur infrage. Sie sehen das Menschenrecht, sich für ihre eigene Lebensweise entscheiden zu können, gravierend verletzt.

 

Gefährdung der Gesundheit

Durch die Nahrungssituation kommt es zu Nahrungsmangel uns zur Umstellung der Ernährungsgewohnheiten. So nehmen Krankheiten unter den Indigenen zu. Die Gesundheit und das Wohlergehen der Menschen sind außerdem durch erhöhte UV-Strahlen angegriffen. Die Sonne ist stechender geworden, Sonnenbrände und vorher unbekannte Hautausschläge nehmen zu. Auch treten mit dem Wandel des Klimas neue Infektionskrankheiten auf.

 

Indigene Organisationen aktiv gegen den Klimawandel

Von den Saami in Lappland über die Evenken in Sibirien, die Yup´ik und Gwich´in in Alaska bis zu den Inuit in Grönland kämpfen die Indigenen über drei Kontinente hinweg gemeinsam gegen die Bedrohung ihrer Existenz durch den Klimawandel. In Organisationen wie der Inuit Circumpolar Conference, dem Saami Council, der russischen RAIPON und dem Inuit Tapiriit Kanatami machen die arktischen Völker weltweit auf ihre akute Gefährdungssituation aufmerksam. So haben Delegierte indigener Organisationen im Mai 2005 die EU in Brüssel besucht, um an die EU-Länder zu appellieren, gegen den Klimawandel vorzugehen und den indigenen Völker der Arktis Hilfe zu leisten. Die Vorsitzende der Inuit Circumpolar Conference Sheila Watt-Cloutier betont, dass sich die Inuit keineswegs als machtlose Opfer sehen. Tatsächlich ergreift sie immer wieder vor internationalen Akteuren das Wort und fordert ein größeres Mitspracherecht der Indigenen in politischen Entscheidungsprozessen und eine bewusste Klimapolitik. Zuletzt haben die Inuit auf der UN-Klimakonferenz vom 28.11. bis 9.12.2005 im kanadischen Montreal der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (IACHR) eine von 63 Inuit aus Kanada und Alaska unterzeichnete Petition überreicht. Darin beziehen sie sich explizit auf die USA als Hauptverantwortliche des Klimakollaps, da diese mit über 25% weltweit die größte Emission zerstörerischer Gase aufweisen und sich gleichzeitig weigern, das Kyoto-Protokoll zu unterzeichnen oder andere Maßnahmen zu ergreifen. Auf diese Weise würden sie die Inuit-Kultur gezielt in ihrer Existenz bedrohen.

Bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission wollen die Inuit nun Unterstützung gegen die von den USA durch den Klimawandel begangenen Menschenrechtsverletzungen an den Inuit finden. Sie soll die Auswirkungen des Klimawandels auf die Inuit untersuchen und feststellen, ob die US-Regierung mit ihrer Klimapolitik die "American Declaration on the Rights and Duties of Man" und weitere völkerrechtliche Vereinbarungen verletzen. Urteilt die IAHCR zugunsten der Inuit, könnten diese im nächsten Schritt ein formales Verfahren beim Interamerikanischen Menschenrechtshof anstrengen. Die Inuit wollen den USA auf diesem Wege nahe legen, endlich mit der internationalen Staatengemeinschaft zu kooperieren und ihren Treibhausgasausstoß im Rahmen der UN-Klimarahmenkonvention schnellstmöglich und effektiv zu verringern. Kultur und Ressourcen der Inuit müssten durch einen Plan geschützt werden, der sich auf Land, Wasser, Schnee, Pflanzen- und Tierspezies beziehe. Außerdem müssten sich die USA verpflichten, mit den Inuit zusammenzuarbeiten, um mit den unwiderruflichen Schäden umgehen zu können.

"In dieser Petition geht es nicht um Geld", so die Vorsitzende der ICC Sheila Watt Cloutier in ihrer Rede, "es geht vielmehr darum, die Vereinigten Staaten zu ermutigen, sich der Weltgemeinschaft anzuschließen und der starken Verringerung der Treibhausgasemission zuzustimmen, die für die arktische Umwelt, die Inuit-Kultur und letztlich die ganze Welt nötig ist…Wir legen die Petition nicht in einem Geist der Konfrontation vor – das ist nicht die Art der Inuit -, sondern um die USA zu einem Dialog im Rahmen der Klimakonvention einzuladen…Ich lade die USA ein, unsere Petition positiv zu beantworten. Außerdem lade ich Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen weltweit ein, unsere Petition zu unterstützen und nicht zu vergessen, dass der Klimawandel letztlich eine Frage der Menschenrechte ist."

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Sind die indigenen Gruppen der Arktis von den Folgen des Klimawandels am frühesten und stärksten betroffen, sind sie doch gleichzeitig für seine Ursachen nur wenig verantwortlich. Entsprechend haben sie zu wenig Einfluss auf Ursachen und Prozesse des Klimawandels und auf die Konsequenzen, die aus seinen schon heute katastrophalen Folgen dringend gezogen werden müssen. Aus wichtigen Entscheidungsprozessen werden sie in den meisten Fällen ausgeschlossen.

 

Indigene Organisationen bitten uns deshalb, unseren Einfluss geltend zu machen:

Vor allem von Seiten der Regierungen, Unternehmen, Unternehmerverbände und Bevölkerungen der Industrienationen ist verantwortliches Handeln dringend erforderlich. Es gilt, durch die Verringerung des Gehalts von Kohlendioxid in der Atmosphäre die fort-schreitende Klimaveränderung zu verlangsamen und ihr Ausmaß zu begrenzen. Gleichzeitig müssen die Möglichkeiten ausgebaut werden, den bereits eintretenden Veränderungen widerstandsfähiger begegnen zu können.

aktualisiert am 10.01.2006