01.06.2005

Mende Nazer droht Verfolgung im Fall einer Abschiebung in den Sudan

Nach Auffassung der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) ist die Sicherheit von Mende Nazer ernsthaft bedroht, sollte Großbritannien sie tatsächlich in den Sudan abschieben. Seit 1985 untersucht unsere Menschenrechtsorganisation Genozid, Sklaverei und andere Menschenrechtsverletzungen in den Nuba Bergen. Seit mehr als 33 Jahren publiziert die in Göttingen ansässige deutsche Sektion unserer Menschenrechtsorganisation Berichte, Artikel und Dokumentationen über Krieg und Menschenrechtsverletzungen im Südsudan.

Mit großer Bestürzung und Betroffenheit haben wir und unsere 8.000 Mitglieder erfahren, dass das britische Innenministerium den Asylantrag der ehemaligen sudanesischen Arbeitssklavin zurückgewiesen hat. Die Ablehnung des Asylantrages ist eine Schande für die Menschenrechtsverpflichtungen der EU und als höchst bedenklich einzustufen. Denn die Entscheidung missachtet vollkommen das persönliche Schicksal von Frau Nazer und die Handhabung der Sklavereifrage durch sudanesische Behörden in den letzten zehn Jahren. Das Problem der Sklaverei besteht fort und ist noch immer ein Tabuthema in der sudanesischen Politik. Dieses Thema bei offiziellen sudanesischen Stellen zur Sprache zu bringen, hat schon für europäische Politiker und Journalisten negative Folgen, für Angehörige des Nuba-Volkes aber geht es dabei um Leben und Tod. Mende Nazer ist eine lebende Anklage gegen die Gräueltaten, die im Zuge der Sklaverei im Sudan verübt werden. Vier Wochen nach der Veröffentlichung ihrer Autobiographie, in der sie glaubwürdig ihre Geschichte erzählt, ist das Buch in Deutschland bereits ein Bestseller geworden. Mit jedem verkauften Exemplar gerät ihr Leben allerdings in immer größere Gefahr.

Angesichts unserer langjährigen Erfahrungen der Erörterung der Sklaverei-Frage bei Konferenzen und Gesprächen mit Repräsentanten des Sudan sind wir überzeugt davon, dass Frau Nazer in Lebensgefahr geriete, sollte sie tatsächlich in den Sudan abgeschoben werden. Wenn sogar schon "unter normalen Umständen" abgeschobene Asylsuchende aus den Nuba-Bergen und dem Südsudan festgenommen wurden oder nach Verhören durch Sicherheitsbehörden "verschwunden" sind, dann kann die Situation von Mende Nazar nur wesentlich schlimmer sein. Keine glaubwürdige Person oder Institution könnte für ihre Sicherheit garantieren. Keine westeuropäische Botschaft wäre in der Lage, ihre Spur nach ihrer Ankunft zu verfolgen und für ihre Sicherheit zu bürgen. Erst vor einigen Monaten hatte die deutsche Botschaft vergeblich versucht, die Sicherheit eines abgeschobenen Asylsuchenden zu gewährleisten. Sein Schicksal ist zwar noch immer unklar, aber Familie und Freunde sind überzeugt, dass er ein Opfer der Verfolgung wurde.

Das britische Innenministerium scheint davon überzeugt zu sein, dass die Sudanesische Regierung es gar nicht bemerken würde, wenn Frau Nazer in den Sudan abgeschoben wird. Tatsächlich aber ist die Sicherheit von Asylsuchenden und Flüchtlingen aus dem Sudan bereits während ihres Aufenthaltes in der Europäischen Union alles andere als sicher. In Deutschland nutzen sudanesisches Botschaftspersonal und deren Informanten jede Möglichkeit, die Aktivitäten politischer Oppositioneller und Flüchtlinge mit Fotos zu dokumentieren. Diese Fotos werden in der Botschaft archiviert und regelmäßig zum Schaden der Flüchtlinge benutzt.

Der Fall Mende Nazer ist komplizierter als der "Routine-” Asylfall eines Nuba, da in ihren Fall ein sudanesischer Diplomat verwickelt ist. Nazer`s Asylantrag hat sudanesische Diplomaten und Beamte in Großbritannien in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht. Wir sind deshalb überzeugt davon, dass diese alle Hebel in Bewegung setzen werden, um die Nuba-Frau zu verfolgen.

Die Abschiebung von Frau Nazer hätte einen Aufschrei in der europäischen und amerikanischen Öffentlichkeit zur Folge und würde eine Protestwelle unter ihren zehntausenden Lesern auslösen. Die Europäische Union würde ihre Glaubwürdigkeit in Menschenrechtsfragen und ihre Verantwortung für den Respekt der Menschenrechte im Sudan aufs Spiel setzen, wenn sie die Abschiebung von Mende Nazer in den Sudan zuließe. Ein endgültiger Entscheid würde zudem gegen Internationales Recht verstoßen. Als Mitunterzeichner der Konvention über den Status von Flüchtlingen von 1951 ist Großbritannien an das international anerkannte Prinzip der Nicht-Zurückweisung gebunden, welches Staaten verbietet, Flüchtlinge gegen ihren Willen in Länder abzuschieben, in denen sie ernsthaften Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind.

Die Begründung der Ablehnung des Asylantrages durch das britische Innenministerium ist völlig inakzeptabel. Die Behauptung, dass sie aufgrund eines Waffenstillstandsabkommens sicher in die Nuba-Berge zurückkehren könne, ist skandalös und ein deutliches Zeichen für die besorgniserregende Missachtung der Realität im Sudan und in den Nuba-Bergen. Während der jüngsten Friedensverhandlungen zwischen der sudanesischen Regierung und der SPLA im Juli und Oktober 2002 in Kenia hat sich die sudanesische Regierung beständig geweigert, über ein Friedensabkommen für die Nuba-Berge auch nur zu reden. Die SPLA-Befehlshaber haben daher gedroht, erneut zu den Waffen zu greifen, wenn ein Friedensvertrag für den Sudan keine Vereinbarung über den künftigen Status der afrikanischen Enklave der Nuba-Berge im Nord-Sudan enthält.

Seit der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens für die Nuba Berge vom 19. Januar 2002 haben beide Konfliktparteien die Feuerpause genutzt, um ihre Soldaten und Kämpfer mit neuen Waffen auszurüsten. Die Kriegsgefahr ist noch immer akut und der bewaffnete Konflikt kann jederzeit erneut aufflammen. Wir bezweifeln, dass Frau Nazer in den Nuba-Bergen sicher ankommen würde. Wahrscheinlich würde sie noch in Khartum unmittelbar nach ihrer Ankunft aus London festgenommen werden.

Mende Nazer wird zum Vorwurf gemacht, nicht sofort nach ihrer Ankunft in London Asyl beantragt zu haben. Dies offenbart eine erstaunliche Ignoranz gegenüber den psychischen Auswirkungen der Sklaverei. Menschen, die über Jahre brutal geschlagen, missbraucht, im Dauerzustand der Unsicherheit gehalten und ihrer Menschenrechte beraubt worden sind, sind nicht mehr in der Lage, an Flucht auch nur zu denken. Dass Sklaverei sich immer in dieser Weise auf die Seele eines Menschen auswirkt, dürfte sogar dem britischen Innenministerium bekannt sein und kann zweifellos von jedem ernsthaft bemühten Sachverständigen zum Thema Sklaverei dokumentiert werden.

Wir sind sehr beunruhigt über die Behauptung des britischen Innenministers David Blunkett, dass Sklaverei "von der Regierung des Sudan nicht geduldet" würde. Denn diese sudanesische Regierung ist nicht nur verantwortlich für die Bewaffnung, den Transport und die Unterstützung der Milizen, welche die Nuba in die Sklaverei entführen. Die Regierung hat es ebenfalls unterlassen, die Gesetze des Sudan, welche Entführungen und Zwangsarbeit untersagen, auch durchzusetzen. Das Strafgesetzbuch des Sudan von 1991 stellt Sklaverei nicht unter Strafe, obgleich der Sudan mehrere Konventionen gegen die Sklaverei ratifiziert hat. Seit 1999 hat die Sudanesische Regierung mehrfach angekündigt, die Entführer strafrechtlich zu verfolgen. Bis heute hat jedoch kein bestätigter Prozess stattgefunden, obwohl das Komitee zur Abschaffung der Entführung von Frauen und Kindern (CEAWAC) – das unter internationalem Druck 1999 durch ein Dekret des Justizministers geschaffen wurde – für sich in Anspruch nimmt, mindestens 1000 Entführte wieder zurückgebracht zu haben.

Die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika unterstützte die Untersuchungsmission einer internationalen Gruppe prominenter Personen zur Erforschung der Sklaverei. Nach mehrwöchigen Recherchen im Sudan stellten die acht Experten in ihrem Report, der am 22. Mai 2002 veröffentlicht wurde, fest: "Die Regierung erkennt ihre Eigenverantwortung für die Verbrechen der Milizen und anderer unter ihrem Befehl stehender Einheiten nicht an. Da es keine Kontrolle durch die Justiz gibt und angemessene Strukturen für die Haftung des Militärs ebenfalls fehlen, können die Milizen faktisch in einem Zustand der Straflosigkeit agieren".

Das Innenministerium sollte schließlich den Umstand, dass das in ihrem Visum angegebene Alter Mende Nazers nicht ihrem tatsächlichen Alter entspricht, weniger dazu benutzen, ihre Glaubwürdigkeit anzuzweifeln, sondern es sollte vielmehr eine Untersuchung wegen Betrugs gegen Herrn Koronky (der Mende Nazer einst als Sklavin hielt) und andere Beamte der Botschaft des Sudan, die für die Erteilung der Visa zuständig sind, einleiten. Nach mehreren Jahren Knechtschaft und ohne Kenntnis der englischen Sprache hatte Mende Nazer keine Vorstellung von der Notwendigkeit eines Visums oder der Bedeutung eines Ausweises. Das alles wurde augenscheinlich von denen organisiert, die ein Interesse daran hatten, sie nach Großbritannien zu holen. Diese Leute müssen daher auch für die Rechtsverstöße verantwortlich gemacht werden, und nicht das Opfer ihrer Missetaten. Außerdem gilt es hervorzuheben, dass die meisten Nuba und Südsudanesen nicht wissen, wann genau sie geboren wurden. In den Kriegsgebieten ist jede Verwaltungsstruktur zusammengebrochen, ein Geburtenregister wird nicht geführt. Wenn Nuba und Südsudanesen aus irgendeinem Grund offizielle Dokumente benötigen, tragen die Behörden normalerweise als Geburtsdatum bei allen den 1. Januar ein.