07.04.2010

Massive Verschlechterung der Menschenrechtssituation in den letzten zwei Jahren

WRITTEN STATEMENT Afghanistan 2010

Die Menschenrechtssituation in Afghanistan hat sich in den letzten zwei Jahren in fast allen Bereichen massiv verschlechtert. Diese ernste Lage ist nicht durch neuere Entwicklungen entstanden. Vielmehr vermeiden es das internationale Engagement in Afghanistan sowie afghanische Regierungseinrichtungen schon seit einigen Jahren, die Straffreiheit für frühere schwere Menschenrechtsverletzungen zu bekämpfen und die Entwaffnung von Strukturen, die für vergangene und gegenwärtige Menschenrechtsverstöße verantwortlich sind, voranzutreiben. Die afghanischen Institutionen, die die in der neuen afghanischen Verfassung niedergelegten Menschenrechte durchsetzen sollten, sind schwach und korrupt. Internationale Einrichtungen, die bei der Durchsetzung der Menschenrechte helfen sollten, schaffen dies nicht, selbst wenn sie sich mit Einzelfällen befassen.

Diese Denkschrift erhebt keinen Anspruch darauf, einen erschöpfenden Überblick über die Menschenrechtsbedingungen in Afghanistan zu geben. Stattdessen wählt sie diesbezüglich bestimmte Aspekte aus, um die Dringlichkeit eines Wandels der Konzepte, die sich mit Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan befassen, zu verdeutlichen.

 

Menschenrechtsverletzungen gegenüber verschiedenen sozialen Gruppen und Minderheiten

Im November 2008 wurde ein Gesetz verabschiedet, das das Betteln in den Straßen von Kabul verbot. Es wurde eine Kommission eingesetzt, die Maßnahmen planen sollte, um das Gesetz umzusetzen. Im September 2009 wurden fast 700 Bettler festgenommen. Später gaben Mitglieder der Kommission selbst zu, dass mindestens jeder zehnte Inhaftierte unter psychischen Störungen litt. Ein bisher nicht identifizierter Prozentsatz von Afghanen, die ihre ganze Familie verloren haben, darunter Kriegswitwen und Kriegswaisen, sind zu einem Leben als Bettler in einem der ärmsten Länder der Welt gezwungen.

Im Januar 2009 wurde ein Gesetz für schiitische Frauen verabschiedet, das die universellen Rechte von Frauen, die in der afghanischen Verfassung in Übereinstimmung mit internationalen Menschenrechtsverträgen niedergelegt sind, außer Kraft setzt. Hamid Karzai, der Präsident von Afghanistan, unterschrieb den Erlass im April 2009, wobei ihn internationale Kritik dennoch dazu bewegte, eine sorgfältige Überprüfung des neuen Gesetzes zu veranlassen. Seit August 2009 ist die Verordnung, die nach ihrer Überprüfung nur leicht verändert wurde, in Kraft. Das neue Gesetz verletzt nicht nur Frauenrechte, sondern schafft auch eine Trennung zwischen den Rechten schiitischer und sunnitischer Frauen.

Ein Teil der afghanischen Roma, das Volk der Jogi, das im neunzehnten Jahrhundert von Zentralasien nach Afghanistan kam, besitzt nach wie vor keinen Rechtsstatus als Bürger Afghanistans. Afghanische Pässe und andere Ausweiskarten werden ihnen verweigert und Landbesitz ist ihnen verboten. Wenn Flüchtlingsgruppen aus Pakistan oder dem Iran zurückkehren, sehen sie sich mit neuen Besitzern ihrer früheren Grundstücke konfrontiert. Selbst wenn sie über juristische Unterlagen verfügen, die ihren Besitz beweisen, werden sie nahe ihrer alten Heime zu Binnenflüchtlingen (IDPs) gemacht. Etwa 70 Prozent der Menschen, die von Nordafghanistan nach Pakistan geflohen sind, gehören zu den Paschtunen. Viele von ihnen mussten Pakistan inzwischen wieder verlassen, können aber nicht in ihre eigentliche Heimat zurückkehren. So wurde beispielsweise eine Gruppe von 500 nach Takhar zurückgekehrten Paschtunen zu Flüchtlingen im eigenen Land gemacht.

Menschenrechtsverletzungen durch ausländische Truppen in Afghanistan

Willkürliche Morde an Zivilisten in Kampfsituationen stellen ein großes Problem dar, das ausländische Truppen in Afghanistan nun schon seit vielen Jahren verursachen. Fast jedes größere Ereignis, bei dem viele Zivilisten getötet wurden, führte zu Entschuldigungen seitens des Militärs und der Regierung desjenigen Landes, dessen Truppen verantwortlich waren. Am jüngsten Vorfall dieser Art in Nordafghanistan waren amerikanische und deutsche Truppen beteiligt. In der Nähe von Kundus starben bis zu 142 Menschen, darunter viele Zivilisten. Die Antwort in diesen und anderen Fällen war immer gleich. Zuerst streitet das Militärpersonal, das den Befehl gegeben hat, den Tod von Zivilisten ab. Danach wird die Untersuchung durchgeführt und am Ende versprechen die politische Elite, die Regierung des jeweiligen Militärpersonals und parlamentarische Institutionen einen bedeutenden Wandel ihres Verhaltenskodexes. Doch die anschließende Wirklichkeit vor Ort erzählt eine andere Geschichte.

 

Menschenrechtsverletzungen: Der Fall politisch motivierter Morde in Balkh

Seit Juli 2008 ereignete sich in der nordafghanischen Provinz Balkh eine Reihe politisch motivierter Morde. In Alam Khel, dem Heimatdorf des heutigen Gouverneurs von Paktia, Juma Khan Hamdard, wurden 18 Tötungen begangen. Der legale Zweig der Partei Hezb-e Eslami, die hauptsächlich von den Paschtunen unterstützt wird, behauptet, die Ermordeten seien Mitglieder ihrer Partei gewesen. Die Opfer von 24 weiteren Morden, die sich am 23. Juni 2009 in den Bezirken Chamtal, Chaharbolak und Mazar-e Sharif ereigneten, waren ebenfalls Paschtunen. Atta Mohammad Noor, der Gouverneur von Balkh, weist Anschuldigungen, die ihn für die Morde verantwortlich machen, zurück. Familienmitglieder der Opfer vom Juni demonstrierten vor den Büros der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) und der Afghanischen Menschenrechtskommission (AIHRC) in Mazar-e Sharif, wie Journalisten vor Ort bestätigten.

 

Ethnische Säuberung in Sar-i Pul

Im nördlichen Teil von Sar-i Pul, nahe der Grenze der Provinz Dschuzdschan, erreichte ein Machtkampf zwischen der wichtigsten Kriegsfürst-Miliz von Nordafghanistan - die Milizen von Jonbesh-e Melli, Dschamiat-e Eslami und Hezb-e Wahdat - seinen Höhepunkt. Einige Befehlshaber von Jonbesh-e Melli, von denen Kamal der berüchtigste ist, gelten als die Hauptverursacher von mittlerweile mehr als 170 Morden. Die Zahlen in den Berichten variieren. Manche sprechen von mehr als 10.000 vertriebenen Familien, die meisten von ihnen Paschtunen des Ishaqzai-Stamms, aber viele auch afghanische Araber; beide Gruppen wurden nach 2001 durch eine Reihe geplanter Morde zu Flüchtlingen gemacht. Diese Morde begannen vor einigen Jahren, hielten aber bis mindestens Oktober 2009 an. Einige alte Leute, die die Region nicht verlassen konnten, wurden zu Sklaven auf ihrem eigenen Land. Eine Akte, die der Staatsanwaltschaft in Kabul vorgelegt worden war, wurde zweieinhalb Jahre lang nicht bearbeitet, wobei Angehörige der Opferfamilien versuchen, das Klima der Straflosigkeit zu durchbrechen, indem sie sich an Regierungsmitglieder wenden.

 

Der Fall von Sayed Parvez Kaambakhsh

Ein Vorfall, der aus den Jahren 2007/2008 in das Jahr 2009 vererbt wurde, war die fortgeführte Inhaftierung von Sayed Parvez Kaambakhsh. Sein Bruder Sayed Yaqub Ibrahimi ist der berühmteste afghanische Journalist, der den Machtmissbrauch nordafghanischer Kriegsfürsten jemals verfolgte. Afghanische Behörden, der afghanische Geheimdienst (NDS) von Mazar-e Sharif, das dortige Landgericht und das Berufungsgericht von Kabul befassten sich mit der Anschuldigung, dass Parvez Blasphemie begangen habe. Die Anschuldigungen basierten auf gefälschten Beweisen, Meineid und erzwungenen Geständnissen. Nachdem das Berufungsgericht die ursprünglich vorgesehene Todesstrafe in eine Gefängnisstrafe von 20 Jahren umgewandelt hatte, bestätigte der afghanische Oberste Gerichtshof dieses Urteil am 9. Februar 2009. Keines der beiden Urteile stimmt mit irgendeinem afghanischen oder internationalen Gesetz überein. Später, im Jahr 2009, wurde Sayed Parvez Kaambakhsh entlassen und ins Ausland geschickt.

Sayed Yaqub Ibrahimi erhält seit 2007 Todesdrohungen. 2009 empfing er sie wegen seines herausragenden Berichts über gegenseitige Anschuldigungen von Milizführern, die für die Ausräumung von Massengräbern in der Nähe von Mazar-e Sharif und Shiberghan verantwortlich sind. Er verließ das Land mit seinem Bruder und kann ebenfalls nicht zurückkehren.

Der Fall der beiden jungen Journalisten ist ein prominentes Beispiel dafür, dass selbst starke internationale Unterstützung offensichtlich kaum ausreicht, ein fehlerhaftes Justizsystem und ein Strafverfolgungssystem, das nicht Verbrecher, sondern eher Verbrechensgegner erfasst, zu berichtigen.

 

Der Fall der Payman Daily

Am 10. Februar 2009 wurde die Veröffentlichung der Zeitung Payman Daily endgültig eingestellt. In den vier vorausgehenden Wochen war sie heimlich herausgegeben worden, nachdem ein versehentlich gedruckter Artikel mit dem Titel "Vorhersage" als Vorwand gedient hatte, um die Zeitungsproduktion wegen angeblicher Blasphemie zu stoppen. Am gleichen Tag wurden Haftbefehle gegen den Herausgeber der Payman Daily, Ahmad Hashemi, und seine Frau Mahsa Taee, die führende Journalistin der Zeitung, ausgestellt. Da sich der Herausgeber zu diesem Zeitpunkt außerhalb Afghanistans befand, wurde ein anderer Journalist, Nazari Paryani, verhaftet. Mahsa Taee wurde am nächsten Tag freigelassen, musste aber direkte psychische und körperliche Angriffe ertragen durch Personen, die sich als Mitglieder des afghanischen Geheimdienstes (NDS) auswiesen und behaupteten, auf Befehl von Präsident Karzai zu handeln. Die Journalistin musste Afghanistan verlassen, während ihr Ehemann gezwungen war, im Ausland unterzutauchen. Die Räte der Ulemer, islamischer Religionsgelehrter, von der Stadt Herat sowie von Afghanistan forderten eine "harte Bestrafung" für die Veröffentlichung des besagten Artikels. Die Staatsanwaltschaft gab ihrer Forderung nach, wobei eindeutige Hinweise existieren, dass der afghanische Präsident selbst anordnete, den Empfehlungen des Ulema-Rats zu folgen.

Der Fall der Payman Daily ist ein weiteres Beispiel für die Demütigung einer kleinen, aber engagierten Zivilbevölkerung, die für Menschenrechte in Afghanistan kämpfen. Dies wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der irrtümliche Artikel nicht als Angriff auf den Islam gelesen werden kann, dass die Zeitung sofort im Anschluss eine öffentliche Entschuldigung druckte und dass sich Payman Daily als einer der Hauptkritiker der Regierung und mächtiger politischer Strukturen etabliert hatte. Vor der Veröffentlichung des Zeitungsartikels waren zwei Bücher von Mahsa Taee über Korruption und Machtmissbrauch am Tag ihrer Veröffentlichung konfisziert und alle Exemplare vernichtet worden.

 

Hinsichtlich der oben erwähnten schwerwiegenden Vergehen fordert die GfbV den UN-Menschenrechtsrat dazu auf:

  • Menschenrechtsbeobachter in alle Teile Afghanistans zu schicken, um regelmäßig alle Formen von Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren.

  • die technische Zusammenarbeit mit afghanischen Behörden zu verbessern, um Straffreiheit einzudämmen,

  • indem man einen neuen Anlauf startet, um einen Nachweis über Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Afghanischen Krieges seit 1978 zu erstellen.

  • indem man Afghanen hilft, ein Justizsystem aufzubauen, dass in der Lage ist, Straffreiheit ein Ende zu bereiten.

  • indem man die afghanische Zivilbevölkerung dabei unterstützt, sicherzustellen, dass die Täter aller schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen verfolgt werden.

  • die internationale Gemeinschaft dazu anzutreiben, effektiv ein Entwaffnungssystem aufzubauen. Hierbei muss man das Klima der Aggression und Nötigung, das von lokalen Befehlshabern benutzt wird, um alle Formen der Entwaffnung zu verhindern, berücksichtigen. Außerdem muss man sich der Gefahr bewusst sein, die die Wiederbewaffnung einer entwaffneten Miliz darstellt, sowie der wirtschaftlichen und sozialen Situation von ehemaligen Miliz-Mitgliedern.

  • die UNAMA dazu aufzufordern, den relevanten afghanischen politischen Institutionen technische Zusammenarbeit anzubieten, um den Respekt der afghanischen Verfassung in allen rechtlichen Angelegenheiten sicherzustellen (siehe oben das Bettel-Gesetz, das Familiengesetz für schiitische Frauen).

  • die UNAMA und die internationale Gemeinschaft dazu zu bewegen, dass sie hilft, das Justizsystem sowie die Polizei in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit zu verbessern, damit beide in der Lage sind, Menschenrechte zu schützen.

  • die UNAMA aufzufordern, der afghanischen Zivilbevölkerung Hilfe und Unterstützung anzubieten, um Demokratie und eine verantwortungsbewusste Regierungsführung effektiv zu stärken.

  • die internationale Gemeinschaft dazu anzutreiben, einen effektiven Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten von allen Kriegsparteien sicherzustellen.