14.11.2006

Martin Walser und Prof. Ernst Tugendhat fordern Bleiberecht für langjährig geduldete Flüchtlinge

Der Schriftsteller Martin Walser und der deutsche jüdische Philosoph Prof. Ernst Tugendhat fordern als Schirmherren der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), langjährig geduldeten Flüchtlingen endlich ein langfristiges Bleiberecht einzuräumen und die Einbürgerung zu ermöglichen. Die "fatale deutsche Abschiebungspolitik zeigt, dass aus den Schrecken der Vergangenheit nicht gelernt wurde", heißt es in einem von Martin Walser und dem GfbV-Generalsekretär Tilman Zülch unterzeichneten offenen Brief der Menschenrechtorganisation an die Innenminister und -senatoren. Sie erinnerten in dem Schreiben daran, dass dem Holocaust schon 1933 "Abschiebungen" von deutschen Juden vorangegangen seien und später 14 Millionen Deutsche Opfer von Vertreibungen wurden, die bis heute oft tabuisiert werden. "Menschen, die schon viele Jahre unter uns leben abzuschieben, ist ein schweres Unrecht und unvorstellbar grausam. Wenn wir keinerlei Achtung mehr für andere Menschen haben, verlieren wir die Achtung vor uns selbst", hat Prof. Ernst Tugendhat dem Schreiben wörtlich hinzugefügt.

 

Die GfbV wirft den Innenpolitikern darin unter anderem vor, dass die Abschiebung gut integrierter langjährig Geduldeter und ihrer in Deutschland aufgewachsenen, deutschsprachigen Kinder zu "Deportationen ins Nichts" werden. Denn das sei es, was diese "eingedeutschten" Menschen in der früheren Heimat ihrer Eltern vorfänden. Sie stammten aus Ländern, die nach Bürgerkriegen, Völkermord, Flucht oder Vertreibung ohnehin für viele Minderheitenangehörige nicht mehr Heimat sein könne.

 

Die Kinder dieser Flüchtlinge, die Deutsch als Muttersprache mit niedersächsischem, bayrischem oder einem anderen regionalen Akzent sprächen, seien de facto zu ethnisch und kulturell Deutschen geworden und hätten keine Verbindung mehr zu den Herkunftsländern ihrer Eltern. Wenn Politiker jetzt darüber klagten, dass in Deutschland zu wenige Kinder geboren werden, sei es völlig unverständlich, warum Woche für Woche, Monat für Monat gut integrierte deutschsprachige Kinder abgeschoben und durch die Vertreibung aus ihrer deutschen Heimat unglücklich gemacht werden.

 

Mit Blick auf die bevorstehende Innenministerkonferenz am kommenden Donnerstag in Nürnberg warnte die GfbV in ihrem Schreiben auch davor, diejenigen unter den rund 200.000 langjährig geduldeten Flüchtlingen von einer dauerhaften Bleiberechtsregelung auszunehmen, die keinen Arbeitsplatz hätten, nachdem man ihnen in der Regel mehr als ein Jahrzehnt lang die Arbeitsaufnahme und die Weiterbildung ihrer Kinder untersagt habe. Um ihren Forderungen mehr Nachdruck zu verleihen, übersandte die Menschenrechtsorganisation ihr Schreiben auch dem Bundestagspräsidenten, der Bundesfamilienministerin und dem Bundesminister für Arbeit und Soziales, dem Innenausschuss sowie allen Bundestagsabgeordneten, den Ministerpräsidenten der Länder und Oberbürgermeistern der Stadtstaaten, den Härtefallkommissionen und Innenausschüssen der Länder, den Kirchen, Flüchtlingsräten und Menschenrechtsorganisationen zur Kenntnisnahme.

 

Es folgt der Wortlaut des Briefes:

 

Absender: Martin Walser und Prof. Ernst Tugendhat für den Beirat der Gesellschaft für bedrohte Völker, Tilman Zülch, Generalsekretär der Gesellschaft für bedrohte Völker

 

 

Offener Brief an die Innenminister und -senatoren

 

Bleiberecht für langjährig geduldete Flüchtlinge!

 

Sehr geehrte Frau Ministerin, sehr geehrte Herren Minister und Senatoren,

 

"Auf keinem Auge blind", ist die Leitlinie der internationalen Menschenrechtsorganisation Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV). Wir widmen unsere Arbeit bedrohten religiösen und ethnischen Minderheiten, daher auch den vor Abschiebung bedrohten langjährig Geduldeten in Deutschland. Wir bitten Sie: Verschließen Sie Ihre Augen nicht vor ihrem Schicksal!

 

Unser Schirmherr, der international renommierte jüdische Philosoph Ernst Tugendhat, geboren in Brünn / Mähren, von einer deutschen Regierung aus dem Lande gejagt, hat diesem Schreiben hinzugefügt:

 

"Es ist traurig genug, dass das Recht auf Asyl in Europa heute weitgehend ausgehöhlt ist. Aber Menschen, die schon Jahre unter uns leben, abzuschieben, ist ein schweres Unrecht und unvorstellbar grausam. Wenn wir keinerlei Achtung mehr für andere Menschen haben, verlieren wir die Achtung vor uns selbst."

 

Deutschland ist in vieler Hinsicht Vorbild für andere Länder, auch was das Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft betrifft. Und unser Land hat sehr lange verfolgte Menschen aufgenommen. Umso weniger darf man die Augen vor dem Schicksal einer Gruppe von 200 000 Menschen verschließen, die bei uns seit vielen Jahren eine Heimat gefunden haben und denen gleichwohl kein Heimatrecht gewährt worden ist. Sie werden von Monat zu Monat oder von Halbjahr zu Halbjahr nur geduldet. Sie erhalten in den meisten Fällen keine Arbeitserlaubnis, können nach dem Schulabschluss keine Ausbildung beginnen.

 

Ihre Zehntausende Kinder sprechen Deutsch als Muttersprache mit niedersächsischem oder bayrischem Akzent, sie sind hier in unserer Gesellschaft de facto zu ethnisch und kulturell Deutschen geworden. Die meisten dieser Kinder haben keine Verbindung mehr zur Heimat ihrer Eltern. Auch diese sind inzwischen hier fest verwurzelt.

 

Lehrer, Sozialarbeiter, Geistliche, christliche Gemeinden, Flüchtlingsräte, Menschenrechtler aber auch Sportvereine und Nachbarn haben unendlich viel geleistet, um ihnen die von Ausländerbehörden verweigerte Integration auf andere Weise zu geben.

 

Ein Beispiel ist das Schicksal einer christlich-assyrischen Familie aus dem Tur Abdin. Als Christen hatten sie in der Heimat im Südosten der Türkei keine Chancen mehr. Sie flüchteten nach Deutschland. In diesem Jahr wurden sie abgeschoben. Alle drei Söhne waren in unseren Schulen und Universitäten erfolgreich. Der Vater hatte eine Arbeit. Die 15-jährige Tochter wurde in Handschellen aus dem Schulunterricht in Kassel herausgeholt. Die Abschiebung wurde so zur Deportation.

 

Wir sagen bewusst, fast alle dieser Abschiebungen werden zu Deportationen ins Nichts. Das ist es, was diese "eingedeutschten" Menschen dann in der früheren Heimat ihrer Eltern vorfinden. Sie stammen aus Ländern, die nach Bürgerkriegen, Völkermord, Flucht oder Vertreibung ohnehin für viele Minderheitenangehörige nicht mehr Heimat sein kann.

 

Benutzt man dann den Ausdruck Deportation für viele dieser Abschiebungen, fühlen sich Innenminister und Ausländerbehörden provoziert, weil wir an die Schrecken der jüngsten deutschen Vergangenheit erinnern. Zu recht, denn dem Holocaust voran gingen solche "Abschiebungen" von jüdischen Menschen schon seit 1933.

 

Diese fatale deutsche Abschiebungspolitik zeigt, dass aus den Schrecken der Vergangenheit nicht gelernt wurde, auch nicht aus den oft tabuisierten Vertreibungen, die 14 Millionen Deutsche aus dem früheren Ostdeutschland erlitten haben. Dabei stammt fast jeder zweite nachgewachsene Deutsche mit mindestens einem Eltern- oder Großelternteil von diesen Vertriebenen ab, denen damals die Heimat genommen wurde.

 

Alle Politiker klagen jetzt darüber, dass in Deutschland zu wenige Kinder geboren werden. Warum schieben Sie dann Woche für Woche, Monat für Monat gut integrierte Kinder ab? Warum machen Sie deutsch gewordene Kinder und Jugendliche für ihr Leben unglücklich und vertreiben sie aus ihrer deutschen Heimat?

 

Wir bitten Sie: Geben Sie diesen 200.000, seit vielen Jahren in Deutschland ansässigen Menschen, denen nur die deutsche Staatsbürgerschaft fehlt, endlich ein dauerhaftes Bleiberecht und ermöglichen Sie eine schnelle Einbürgerung. Deutschland braucht diese Familien und darf ihren Kindern nicht länger Unrecht tun.

 

Eine Entscheidung aber, die jene unter den Flüchtlingen, die keinen Arbeitsplatz haben, wieder vom dauerhaften Aufenthaltsrecht (Niederlassungserlaubnis) ausschließt, verändert das Unrecht nicht, sondern verstärkt nur das Leid dieser Menschengruppe.

 

Mit freundlichen Grüßen

 

Tilman Zülch, Generalsekretär

Martin Walser, Schirmherr