03.12.2005

Mapuche in Chile fordern Freilassung der politischen Gefangenen

Anti-Terror-Gesetzgebung gegen Mapuche-Führer steht in der Tradition der Pinochet-Diktatur

Göttingen

Einführung

Auch im 16. Jahr nach Ende der Diktatur in Chile ist das Erbe General Pinochets noch längst nicht bewältigt. Zwar gab es im August 2005 eine Verfassungsreform, die zum Beispiel die Senatorenposten auf Lebenszeit abgeschafft hat, mit denen der Diktator sich und seinen Getreuen lebenslange Immunität verschaffen wollte. Diese Reform ist als wichtiger Schritt in die richtige Richtung ausdrücklich zu begrüßen. Aber weitere müssen folgen. Dazu gehört auch eine Reform des Wahlrechts, die den ethnischen Minderheiten nicht nur das passive sondern auch das aktive Wahlrecht einräumt. Es kann nicht sein, dass der Mapuche Aucan Huilcaman bei den Präsidentschaftswahlen am 11. Dezember 2005 nicht kandidieren kann, weil ihm die notwendigen Geldmittel für die Notariatsgebühren fehlen, mit denen die für eine Kandidatur notwendigen mehreren Tausend Unterschriften beglaubigt werden müssen.

Bereits im April 2004 hatte die Regierung drei Prinzipien für eine neue Politik gegenüber den Ureinwohnern verkündet: eine Verfassungsreform, die u.a, durch Ratifizierung der Konvention 169 der International Labourorganisation (ILO)1 die Rechte der indigenen Völker Chiles anerkennt, Reduzierung der Armut und Anerkennung der kulturellen Vielfalt Chiles. Verwirklicht wurden diese guten Absichten bislang nicht. Stattdessen werden Mapuche-Führer, die zum Beispiel mit Landbesetzungen auf die schwierige soziale und wirtschaftliche Lage ihrer Gemeinschaften aufmerksam machen wollen, mit unnachgiebiger Härte verfolgt, indem sie zum Beispiel auf Grundlage des "Anti-Terrorismusgesetzes" angeklagt und verurteilt werden. Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) beobachtet dies mit großer Sorge und hat im Herbst 2005 eine neue Kampagne gestartet, um zu erreichen, dass die derzeit nach dem Anti-Terrorismusgesetz (Gesetz Nr. 18.314)verurteilten Mapuche-Bürgerrechtler freikommen, dass die Verfahren gegen alle anderen auf dieser Rechtsgrundlage Angeklagten geprüft werden und dass Gesetze wie das "Anti-Terrorismusgesetz" oder das Staatssicherheitsgesetz, mit denen schon Diktator Pinochet seine Macht absichern wollte, nicht länger auf die Bürgerrechtsbewegung der Ureinwohner Chiles angewendet werden.

Mapuche – Bürgerrechtler werden kriminalisiert

Die Mapuche stellen mit rund 1,3 Millionen Angehörigen fast zehn Prozent der 15,8 Millionen Einwohner Chiles.2 Nachdem Christoph Kolumbus 1492 seinen für die indigenen Völker Amerikas unheilvollen ersten Schritt auf amerikanischem Boden machte, kämpften die Mapuche auf dem Territorium des heutigen Chile Jahrhunderte lang gegen die Spanier um ihr Land. Auch dem Inkareich hatten sie erfolgreich Widerstand geleistet. Besiegt wurden sie erst vom seit 1818 unabhängigen Chile. Heute sind die Mapuche eine friedliche, aber extrem verarmte und unterprivilegierte Minderheit. Nach dem chilenischen Indianergesetz stehen den Mapuche eigentlich Minderheitenrechte und das Recht auf Rückerstattung der während der Militärdiktatur Pinochet (1973-1989) geraubten Ländereien zu. Doch diese Gesetze werden nicht in die Tat umgesetzt. Deswegen formierten sich Mapuche-Bürgerrechtsbewegungen, deren Führer von der chilenischen Justiz als Antwort auf ihre friedlichen Landforderungen als Terroristen kriminalisiert werden.

Zur Anwendung kommen dabei das "Gesetz zur inneren Sicherheit" (Gesetz Nr. 12.927) und das Anti-Terrorismusgesetz, beide übernommen aus der Zeit der Diktatur. Das Anti-Terrorismus Gesetz wurde in den 1990er Jahren nach Ende der Diktatur sogar noch erweitert: Seitdem greift es auch bei Sachbeschädigung und bei möglicher Verbindung zu einer eventuell als terroristisch einzustufenden Vereinigung. Die strafrechtliche Verfolgung der Mapuche gründet sich folglich regelmäßig auf Anklagepunkte, die im Zusammenhang mit dem Terrorismusvorwurf stehen: Mitgliedschaft in einer illegalen Vereinigung (darunter fallen Mapuche-Vereinigungen, die sich legal für mehr Rechte einsetzen und auch Mapuche-Gemeinden, die ihre lokalen Autoritäten, die Lonkos, anerkennen), Störung der öffentlichen Ordnung im Zuge von friedlichen Demonstrationen, Beleidigung von Amtspersonen, gewaltlose Landbesetzungen, Gewalt gegen Sachen, Brandstiftung.

Die Verfahren gegen Mapuche werden verschleppt, oft sitzen sie monatelang in Untersuchungshaft. Die Anwendung des Gesetzes zur Inneren Sicherheit des Staates und des Anti-Terrorismus Gesetzes ermöglicht eine besondere Prozessführung, die die demokratischen Rechte der Mapuche außer Kraft setzt. Das Recht auf eine faire Verteidigung wird stark eingeschränkt und es können außerordentlich hohe Haftstrafen verhängt werden. Vorzeitige Entlassung wegen guter Führung oder Amnestie sind nicht vorgesehen.

Mit den Gesetzen, die unter der Militärdiktatur Pinochets der Rechtfertigung von Verfolgung, Inhaftierung und Ermordung Tausender von Chilenen dienten, wird noch immer die juristische Verfolgung und Inhaftierung jedweder Person, deren Worte oder Taten als Störung der öffentlichen Ordnung oder Kritik an der Regierung gewertet werden kann, gerechtfertigt. Mapuche werden in Verletzung des Rechtsprinzips "ne bis in idem" wegen gleicher Vergehen mehrmals vor Gericht gestellt.

Die Anklagen können in den meisten Fällen nicht belegt werden, so dass nach einer bestimmten Zeit, die eine erhebliche ökonomische Einbuße für die betroffenen Familien bedeutet, die Angeklagten wieder freigelassen werden müssen. Es werden zweifelhafte Zeugen der Anklage zugelassen. Oft sind es Arbeiter der Forstunternehmen, mit denen die Mapuche die Landkonflikte austragen, in deren Verlauf sie festgenommen werden. Die renommierte französische Menschenrechtsorganisation Fédération International des Ligues de Droits de l’Homme (FIDH) äußerte sogar den Verdacht des Zeugenkaufs, oder der Zeugenaussagen unter Druck des Arbeitgebers. In ihrem Report von August 20033 heißt es unter anderem:

"Die Forstunternehmen führen auch selbst Situationen herbei, um die Mapuche zu kriminalisieren. Ihr eigenes Sicherheitspersonal setzt kleinere Plantagen eines Unternehmens in Brand oder zerstört eines der Lastfahrzeuge, um dies anschließend der Polizei zu melden und eine Mapuche - Gemeinschaft zu beschuldigen. Diese inszenierten Sabotageakte sollen Verwirrung stiften und die legitimen Ansprüche der Mapuche verzerren, Anspruch auf ihre Landrechte zu erheben und der Invasion in ihren Wäldern Widerstand zu leisten und sie führen zu ungerechten Prozessen, immer neuen Urteilen und gravierender Unterdrückung. (…) In Chile ist der Staat unmittelbar selbst verantwortlich für die Gewalt gegen die Führer und die Organisationen der Mapuche. Viele Gemeinschaften hatten bereits unter Polizeimaßnahmen zu leiden, in deren Verlauf es zu Gewalt gegen Menschen und ihren Besitz kam. Viele Mapuche-Organisationen beklagen, dass ihre Führer verfolgt werden und dass sie exzessiver Polizeigewalt ausgesetzt sind. Beunruhigend ist, dass der Staat nichts tut, um den Schutz der Mapuche zu garantieren."

Bei Verfahren nach dem Anti-Terrorismusgesetz werden auch anonyme Zeugen zugelassen. Diese sind für die Verteidigung nicht anfechtbar und leisten dem Denunziantentum Vorschub. Außerdem darf die Strafverfolgung sechs Monate lang geheime Ermittlungen durchführen und einen Beschuldigten über Monate in so genannter Präventivhaft festhalten, bevor formal Anklage erhoben wird. Anwälte, die Mapuche verteidigen, werden bedroht. Es kommt sogar vor, dass ihre Telefone abgehört werden, wie der 2002 bekannt gewordene Fall des Anwalts Pablo Ortega aufdeckte, der viele Mapuche, die angeklagt oder bereits in Haft sind, anwaltlich vertritt4.

Der juristische Beistand der vielen Mapuche, die sich keinen Anwalt leisten können und sich von Pflichtverteidigern vertreten lassen müssen, ist mangelhaft. Hinzu kommt ein sprachliches Problem. Viele Mapuche sprechen überwiegend ihre Sprache Mapudungun und nur schlecht oder gar nicht Spanisch, haben daher Probleme, die gegen sie erhobene Anklage zu erstehen oder dem Prozess zu folgen. Das Recht auf Verwendung der Muttersprache vor Gericht können sie jedoch nicht ungehindert wahrnehmen. Dolmetscher sind keine Selbstverständlichkeit.

Alle Mapuche, die wegen Brandstiftung und terroristischer Aktivitäten inhaftiert sind, waren in der Bürgerrechtsbewegung und im Kampf, um die Rückerstattung ihrer Länderein aktiv. Der UN-Sonderberichterstatter für Indigene Belange, Rodolfo Stavenhagen, verurteilte während seiner Inspektionsreise durch Chile vom 18. bis 29. Juli 2003 entschieden die Anwendung dieser Gesetze auf politisch aktive Mapuche und bezeichnete deren strafrechtliche Verfolgung als Verstoß gegen die Bürger- und Menschenrechte5.

Im ihrem Länderbericht 2004 zu Chile bezeichnete auch die US-amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) die Strafverfolgung von Mapuche-Bürgerrechtlern als Terroristen zum Beispiel nach Landbesetzungen oder Demonstrationen als "überzogene und unangemessene Antwort auf die Störungen, die sich in erster Linie gegen Sachen richteten und keinerlei Menschenleben forderten6".

Die Landbesetzungen und Kundgebungen der Mapuche-Bürgerrechtsbewegung zielen nicht darauf ab, Menschenleben zu gefährden. Anklagen wegen Brandstiftung werden meist fallen gelassen, weil den Beschuldigten ihre Schuld nicht nachgewiesen werden kann. Dennoch werden gegen die Mapuche und insbesondere gegen die Führer ihrer Landrechtsbewegung Prozesse geführt, als wären sie drauf und dran, den Staat als solchen zu gefährden.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker setzt sich derzeit insbesondere für die Freilassung von Pascual Pichun Paillalao (52), Aniceto Norin Catriman (43), Jaime Marileo Saravia (27), Patricio Marielo Saravia (31), Juan Carlos Huenulao Liemil (38), Patricia Trincoso Robles (36), Rafael Pichún Collonao (21) und Victor Ancalaf Llaupe (37) ein. Diese führenden Vertreter des Mapuche-Widerstands wurden unter anderem gemäß Anti-Terrorismusgesetz angeklagt und verurteilt. Im Oktober 2004 standen sie in Temuco wegen Mitgliedschaft in einer illegalen terroristischen Vereinigung vor Gericht. Es handelte sich um die Coordinadora Arauco Malleco (CAM), die zwischen 1997 und 2000 an mehreren Landbesetzungen beteiligt war, in deren Verlauf es zu Brandstiftung und Beschädigung von Privateigentum gekommen war.

Die Staatsanwaltschaft, so HRW in dem bereits zitierten Länderbericht, präsentierte nicht weniger als zehn Zeugen, die bei ihrer Aussage hinter einer Leinwand saßen und durch Mikrophone sprachen, die ihre Stimmen verzerrten. Der Verteidigung die Identität der Ankläger zu verheimlichen verstößt jedoch gegen die Regeln einer fairen Prozessführung, wie sie in der Internationalen Konvention zu bürgerlichen und politischen Rechten festgelegt sind. Alle acht Angeklagten wurden im November 2004 vom Vorwurf der Zugehörigkeit zu einer illegalen terroristischen Vereinigung freigesprochen. Dieses Urteil wurde jedoch vom Obersten Gerichtshof wieder aufgehoben. So kam es im Juli 2005 erneut zum Prozess. Ein weiteres Mal wurden alle Angeklagten vom Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung freigesprochen. In Haft bleiben sie wegen Urteilen in anderen Verfahren dennoch.

Folter und Misshandlung

Seit der Strafrechtsreform, die im Dezember 2000 in Kraft trat, sind die Klagen über Polizeiwillkür gegenüber Gemeinschaften der Mapuche oder einzelnen Gefangenen zwar weniger geworden, Human Rights Watch führt dies jedoch nicht etwa auf ein Umdenken im Sicherheitsapparat zurück sondern auf ein Abflauen der Auseinandersetzungen um das Land aufgrund der Verhaftungswelle gegen die Mapuche-Führer. Aufgehört haben die Übergriffe der Carabineros jedoch nicht.

Frauen, Kinder und Alte, deren Brüder, Ehemänner, Väter oder Söhne verhaftet oder gesucht werden, leiden am stärksten unter der Polizeiwillkür. Wehren können sie sich kaum. Übergriffe von Angehörigen der kasernierten Sicherheitskräfte werden vor Militärgerichten angeklagt und verhandelt. Diese Gerichte bieten den Opfern keine Gewähr für ein gerechtes, faires Verfahren. Klagen werden meist abgewiesen oder verschleppt, so dass für die Sicherheitskräfte faktisch Straflosigkeit herrscht.

Adriana Loncomilla, die Frau des Lonko José Osvaldo Cariqueo Saravia, der lange Zeit untergetaucht war, bis er am 26. Oktober 2005 verhaftet wurde, ist eine Machi, eine Schamanin ihrer Gemeinschaft, die an die Nutzholz-Plantage Poluco Pidenco angrenzt. Um dieses Gebiet, in dem Hölzer für die Zellstoffindustrie angebaut werden, gab es Auseinandersetzungen, weil es zu dem von den Mapuche beanspruchten Territorium gehört. Seit ihr Mann untergetaucht war, musste Adriana allein für die vier Kinder sorgen. Der 15-jährige Jorge war bei einem Psychologen in Behandlung. "Er hat schlechte Erinnerungen", erzählte sie Human Rights Watch8. "Als die Carabineros am 28. Juli 2004 kamen, hat er versucht mich zu verteidigen, als sie mich angriffen. Sie stießen ihn hinaus, hielten ihn am Boden fest und drehten ihm den Arm um. Sie kommen normalerweise zu Zeiten, wenn wir alle tief schlafen. Aber würde denn ein Terrorist wirklich schlafend zu Hause anzutreffen sein?"

Adriana erzählt von einem anderen Zwischenfall vom 7. Juli 2004, bei dem Polizisten gegen Abend zu ihrem Haus kamen, weil ein Nachbar, der gegen ihren Mann und ihre beiden ebenfalls verhafteten Schwäger ausgesagt hatte, nun sie beschuldigte, seinen Zaun beschädigt zu haben. Sie wollte die Gelegenheit nutzen und sich nach dem Schicksal ihrer beiden Schwäger erkundigen, doch der Ankläger stieg sofort in sein Auto und fuhr so überstürzt ab, dass er Jorge dabei streifte. Drei oder vier ebenfalls anwesende Beamte dachten, der Junge habe den Ankläger angreifen wollen, warfen ihn zu Boden und richteten ihre Waffen auf den 15-Jährigen. Adriana bekam Angst um ihren Sohn und schrie entsetzt auf. Daraufhin begannen zwei Polizisten, auch sie herumzuschubsen und zu treten. Einer verlor dabei die Balance und riss sie mit zu Boden. Er zog seine Waffe und feuerte zwei Schüsse ab, die knapp an Adrianas Kopf vorbei gingen. Sie musste anschließend wegen ihrer bei er Rangelei erlittenen Verletzungen im Krankenhaus behandelt werden. Der Bericht von Human Rights Watch listet noch weitere Übergriffe auf. Noch immer klagen Mapuche auch über Folter während der Haft. Die Anwendung der Folter widerspricht der UN-Deklaration der Allgemeinen Menschenrechte, der UN-Konvention gegen Folter sowie der Interamerikanischen Konvention gegen Folter, die auch von Chile unterzeichnet wurden.

Bestätigt wurde der Foltervorwurf durch den Carabinero Pino Uribe, der 2003 mit einem Touristenvisum nach Großbritannien einreiste, dort die Vorgehensweise der chilenischen Polizei gegen Minderheiten und Minderjährige öffentlich machte, anschließend politisches Asyl beantragte und am 13. August 2003 auch erhielt. Er hatte sich geweigert, an Folterungen von Mapuche teilzunehmen, und wurde dadurch selbst Opfer von Schikanen und Morddrohungen seiner Kollegen und Vorgesetzten. Pino Uribe schildert eindringlich die Foltermethoden der chilenischen Polizei. Die gängigen Methoden sind dabei Schläge mit Fäusten und mit Gewehrkolben oder anderen Gegenständen. Mapuche werden zu Boden gestoßen, Frauen müssen entwürdigende Behandlungen über sich ergehen lassen. Mapuche werden häufig Opfer der "trockenen U-Bootmethode". Dabei werden ihnen Tüten über den Kopf gestülpt oder sie werden mit dem Kopf unter Wasser gedrückt, bis sie fast ersticken. Häufig werden auf der Polizeiwache aber auch während der Razzien in Mapuche-Gemeinden Scheinexekutionen durchgeführt. Polizeibeamte dringen oft nachts gemeinsam mit privaten Sicherheitsleuten in Mapuche Gemeinden ein und schießen in die Luft.

Pino Uribe bezieht sich in seinem Asylantrag auf den Fall von sieben Mapuche aus der Gemeinde Truf Truf. Die Mapuche Brüder Alberto und Ruperto Colinir Painemel schildern auch selbst, wie sie systematisch in der Polizeistation von "Padre de las Casas" gefoltert wurden. Sie brachten ihren Fall vor die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte.

Friedlicher Protest gegen Landenteignung

Mapu-che heißt Menschen der Erde. Doch der Großteil des ihnen nach der Kolonisierung noch verbliebenen Landes wurde den Mapuche geraubt, vor allem während der Pinochet-Diktatur. Große Holzkonzerne legen dort Monokulturen mit schnell wachsenden Hölzern für die Zellstoffindustrie an, die den Grundwasserspiegel senken und die Böden auslaugen. Einer dieser Konzerne, der oft auch als Kläger auftritt, ist die Forestal Mininco. Eigentlich soll die 1993 gegründete Indianerbehörde CONADI Land für die Mapuche kaufen und ihnen zurückerstatten. Aber die Forstkonzerne geben von allein nur solches Land zurück, das für die Holzindustrie nicht mehr taugt. Auch fehlt der CONADI das Geld, um auch nur annähernd alle Ansprüche abzugelten. Ohnehin dient die CONADI offenbar vor allem als Fassade, hinter der die Regierung ihr mangelndes Engagement in der Ureinwohnerpolitik verbirgt. "Die Mapuche sind nun befrachtet mit der absolut nutzlosen Bürokratie von Behörden wie der CONADI, die seit ihrer Gründung mehr für die Regelverstöße in ihrem Apparat bekannt geworden ist, als für irgendetwas anderes. CONADI schöpft inzwischen selbst das Geld ab, das nach dem Gesetz den armen Bauern zugedacht ist. Was das Verhältnis zwischen den Mapuche–Gemeinschaften und der CONADI betrifft, so sind die gegenwärtigen Entwicklungen ein Beleg für ihre Unfähigkeit als öffentliche Behörde. Sie wird mit der Situation nicht fertig und wird von keiner der Konfliktparteien als legitime Instanz anerkannt. Der einzige Grund, weshalb sich überhaupt irgendjemand an sie wendet, ist der Zugang zu den Geldern des Fonds für Land9."

So bleibt vielen Mapuche-Indianern nichts anderes übrig als mit friedlichen Landbesetzungen, Blockaden von Zugangsstraßen und Protestmärschen ihre Rechte einzufordern. Immer wieder werden die friedlichen Proteste gewaltsam niedergeschlagen. So starb im November 2002 Alex Lemun (17) durch die Kugel eines Polizisten. Im Mai 2005 wurde Zenon Alfonso Díaz Necul (17) während einer Kundgebung überfahren. In beiden Fällen sind die Verantwortlichen bis heute straffrei geblieben.

Politisch verfolgte Mapuche

Für die Mapuche–Gemeinschaften ist jeder der ihren, der in Zusammenhang mit dem Kampf um das Land in das Visier der Straferfolgungsbehörden gerät, ein politisch Verfolgter. Die Anklagen lauten üblicherweise auf Zugehörigkeit zu einer illegalen Organisation, Bedrohung oder mangelnder Respekt gegenüber Amtspersonen, Entführung mit bedingtem Vorsatz, Diebstahl, Brandstiftung, Unterschlagung, Verursachen von Aufruhr, Sachbeschädigung mit bedingtem Vorsatz. Vor allem diejenigen Mapuche, die sich zu Führungspersönlichkeiten entwickeln und z.B. Landbesetzungen koordinieren, werden als Terroristen nach der Anti-Terrorgesetzgebung angeklagt, andere nach dem "normalen" Strafrecht. Viele tauchen unter und entziehen sich der Gerichtsbarkeit, weil sie kein Vertrauen in die Justiz haben.

Angeklagt als Terroristen

Das Familienschicksal von Pascual Pichun Paillalo (52), Lonko (Gemeindeoberhauptes) der Gemeinschaft Antonio Ñiripil in der 9. Region, steht für viele andere. 1998 führte der Vater von sieben teils minderjährigen Kindern die Besetzung eines Grundstücks an, das offiziell dem Forstunternehmen Transnacional Minico S.A. gehörte, von den Mapuche aber als ihr traditionelles Land beansprucht wird. Seitdem musste sich der Lonko mehrmals in unterschiedlichen Verfahren wegen Brandstiftung und illegaler terroristischer Vereinigung vor Gericht verantworten. Zweimal wurde er wegen Mangel an Beweisen freigesprochen, im September 2003 in einem Berufungsverfahren aber zu fünf Jahren und einem Tag Haft verurteilt. In dem Verfahren sagten auch so genannte gesichtslose, also anonyme, Zeugen aus. Von der Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung wurde er zuerst im November 2004 und nach einem Berufungsverfahren im Juli 2005 erneut freigesprochen. Da das Urteil wegen Brandstiftung bestehen bleibt, ist der Lonko weiter in Haft.

Zwei Söhne des Lonkos, Rafael Pichun Collonao (21) und Pascual Pichun Collonao (23), wurden 2003 nach einer ungewöhnlich langen Untersuchungshaft von 294 Tagen zu jeweils fünf Jahren Gefängnis und einer für die arme Mapuchebevölkerung sehr hohen Geldstrafe von 6.000.000 Pesos (ca. 8.800 Euro) verurteilt, wegen Brandstiftung an einem LKW. Aufgrund heftiger Proteste wurde die Haftstrafe in eine Bewährungsstrafe umgewandelt. Doch als die beiden die Geldstrafe nicht aufbringen konnten, wurden sie erneut festgenommen. Zwar hob der Oberste Gerichtshof dieses Urteil wieder auf. Eine Berufung gegen diesen Beschluss war aber erfolgreich. Gegen die beiden Brüder wurde im November 2003 erneut Haftbefehl erlassen. Beide tauchten unter, Rafael wurde am 21. Juli 2005 entdeckt und verhaftet. Pascual ersuchte am 7. Dezember 2005 in Argentinien um politisches Asyl.

Auch Aniceto Norin Catriman (43), Lonko der Gemeinschaft Lorenzo Lorin, der gemeinsam mit Pascual Pichun Paillalo im Dezember 1998 die Besetzung des von der Minico S.A. beanspruchten Waldstückes leitete, hat eine Odyssee durch Gerichtssäle und Gefängniszellen hinter sich. Er wurde wegen Brandstiftung und widerrechtlicher Landnahme zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, von denen er eines absaß, bevor er in einem neuen Verfahren freigesprochen wurde. Auch gegen diesen Freispruch erfolgte eine zunächst erfolgreiche Berufung, die mit einem Urteil auf fünf Jahre und einen Tag Haft endete. Aniceto Norin Catriman wurde vom Vorwurf der Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung im selben Verfahren wie Pascual Pichun Paillalo zuerst im November 2004 und erneut im Juli 2005 freigesprochen, bleibt aber wegen der darüber hinaus gehenden Verurteilungen weiter in Haft.

Das gilt auch für die Kindergärtnerin Patricia Troncoso Robles (36), die mit den beiden Lonkos an der Landbesetzung teilgenommen hatte. Wie sie wurde auch Patricia zunächst freigesprochen, nach erfolgreichem Berufungsverfahren erneut vor Gericht gestellt und dann ebenfalls freigesprochen. Auch an der Besetzung des Grundstücks Poluco Pidenco war Patricia beteiligt. Deswegen wurde sie zu zehn Jahren und einem Tag Haft sowie einer Entschädigungszahlung von 400.000.000 Pesos (ca. 586.000 Euro) verurteilt.

Die Brüder Florencio Jaime Marileo Saravia (27) und José Patricio Marileo Saravia (31) wurden wegen Brandstiftung im Zuge der Besetzung des Grundstücks Poluco Pidenco, das sich im Besitz der Minico S.A. befindet, verhaftet und angeklagt, Florencio im Dezember 2002, José im März 2003. Beide blieben ungewöhnlich lange in Untersuchungshaft, Florencio länger als ein Jahr. Ungewöhnlich hoch ist auch das Strafmaß, zu dem die beiden Brüder im August 2004 verurteilt wurden: je zehn Jahre und einTag Haft und eine Geldstrafe von 400.000.000 Pesos.

Ihr Bruder, der Lonko José Osvaldo Cariqueo Saravia, tauchte unter, wurde aber am 26. Oktober 2005 von einer Sondereinheit der Carabineros ebenfalls verhaftet. Er wurde wie seine Brüder wegen Brandstiftung im Zuge der Besetzung des Grundstücks Poluco Pidenco angeklagt und außerdem wegen Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung gemäß Anti-Terrorismusgesetz. Wann ihm der Prozess gemacht wird, war bei Redaktionsschluss (November 2005) noch nicht bekannt.

Das Schicksal seiner Familie ist exemplarisch für die Drangsalierungen, denen sich politisch aktive Mapuche auch im demokratischen Chile ausgesetzt sehen. Fünf mal hatte ein Großaufgebot von fast 200 Carabinieros allein im Jahre 2003 die Gemeinschaft José Guiñón nach den drei Brüdern durchsucht. Ihre damals 86—jährige Mutter Lorenza Saravia erinnert sich: "Sie nahmen mich fest, zerrten mich über die Steine wie ein Tier und warfen mich in ihren Transporter wie einen Sack Kartoffeln. Zwei mal schlugen sie mir ins Gesicht. Wer gibt ihnen das Recht, eine alte Frau zu schlagen?10"

Leidensgefährte der Brüder ist Juan Carlos Huenulao Lielmil (38) aus der Gemeinschaft Manuel Catrimil, der im Main 2005 ebenfalls wegen Brandstiftung auf dem Grundstück Poluco Pidenco zu zehn Jahren und einem Tag Haft sowie einer Geldbuße von 400.000.000 Pesos verurteilt wurde. Er war untergetaucht und wurde erst im Februar 2005 bei einer Polizeikontrolle verhaftet.

Gegen Victor Ancalaf Llaupe (37), Vater von fünf Kindern und ein einfacher Bauer, war 1998 Mitbegründer der Coordinadora de Comunidades en Conflicto Arauco-Malleco CAM. Als ihr Sprecher rief er die Mapuche Bauern dazu auf, notfalls auch mit Landbesetzungen die Landforderungen seines Volkes bei Regierung und Forstunternehmen zu unterstreichen. Er führte aber auch offizielle Verhandlungen und erhielt dadurch 2.000 Hektar Mapucheland zurück. Sein Engagement trug ihm zwischen 1998 und 2000 mehrfach Verhaftungen und Anklagen wegen Verletzung der öffentlichen Ordnung oder Beschädigung fremden Eigentums ein. Doch nie reichten die Anhaltspunkte für eine Verurteilung aus. Das änderte sich im April 2001. Sieben Monate lang musste er im Gefängnis bleiben, weil er einen Beamten des Berufungsgerichts von Temuco entführt haben sollte. Tatsächlich hatten einige Mapuche mit einer befristeten Besetzung des Gerichtsgebäudes für die Freilassung von zehn Mapuche-Gefangenen demonstriert. Nach seiner Freilassung half er den Pehuenche-Mapuche vom Bio Bio-Fluss, die lange Zeit beharrlich, letztlich aber vergeblich, ihr Land und die Friedhöfe ihrer Ahnen gegen den Stromkonzern Endesa verteidigten. Inzwischen ist das Land in einem Stausee verschwunden, der das Ralco Kraftwerk mit Energie speist. Wegen terroristischer Brandstiftung gegen das Unternehmen Endesa wurde Victor Ancalaf Llaupe im November 2002 schließlich angeklagt und im Januar 2004 zu zehn Jahren und einem Tag Haft verurteilt. Durch ein Berufungsverfahren wurde diese Strafe im November 2004 auf fünf Jahre und einen Tag herabgesetzt.

GfbV-Engagement für die politischen Gefangenen der Mapuche

Skandalös und für eine Demokratie beschämend ist es, wenn Menschen, die sich friedlich organisieren und ohne Gewalt gegen Menschen auszuüben demonstrieren oder kurzzeitig Land besetzen, das ihnen im Grunde selbst gehört, mit einem Gesetz verfolgt und abgeurteilt werden, das nicht nur aus der Zeit der Diktatur stammt, sondern in der Demokratie danach sogar verschärft wurde. Deshalb setzt sich die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in ihrer Kampagne für politische Gefangene unter den Mapuche zurzeit vor allem für die acht momentan inhaftierten und nach dem Anti-Terrorismusgesetz abgeurteilten Mapuche ein, die zuvor kurz vorgestellt wurden. Im Herbst 2005 hat die GfbV eine neue Kampagne gestartet für die Freilassung dieser Mapuche-Häftlinge, für die Prüfung aller im Rahmen von Landrechtsstreitigkeiten gegen Mapuche angestrengten Verfahren und für die Abschaffung der noch aus der Diktatur stammenden Anti-Terrorismusgesetzgebung. Dazu haben wir uns mit Appellen an die Regierung Lagos in Chile gewandt, an mehrere Hundert weitere Politiker, Kirchenvertreter und Medienschaffende in Deutschland, den USA, der EU, Chile und anderen Staaten Lateinamerikas.

Forderungen der GfbV

- Freilassung aller auf Grundlage des Anti-Terrorgesetzes verurteilten Mapuche

- Einstellung aller noch laufenden Verfahren

- Abschaffung des Anti-Terrorgesetzes

- Faire Landreform für die Mapuche

- Überprüfung auch aller anderen Landrechtsverfahren gegen Mapuche

- Anerkennung der Mapuche und der anderen Ureinwohner Chiles durch Ratifizierung der ILO-Konvention 169

- Angemessene Beteiligung der Mapuche und aller anderen Ureinwohner Chiles durch ungehinderte Zulassung ihrer Kandidaten zu den Wahlen

Fußnoten:

1) Die International Labour Organisation (ILO) ist eine Organisation der Vereinten Nationen und hat ihren Sitz in Genf. Ihre Konvention 169 ist der einzige verbindliche Grundrechtekatalog für indigene Völker auf der Ebene des internationalen Rechts. Sie wurde 1989 verabschiedet und bislang von 17 Staaten ratifiziert, darunter auch Dänemark, die Niederlande und Norwegen

2) Zu den Mapuche gehören die Mapuche, Pehuenche, Huiliche, Lafquenche, Nagche und Huetenche. Darüber hinaus leben in Chile auch Angehörige der Aymara, Rapanui, Cunsa bzw. Atacameño sowie jeweils etwa Hundert Mitglieder zählende Gruppen der Coya, Kawéskar und Yámana.

3) Chile. The Mapuche People: Between Oblivion and Exclusion, FIDH-Report No. 358/2, August 2003, S. 14

4) Chile. The Mapuche People: Between Oblivion and Exclusion, FIDH-Report No. 358/2, August 2003, S. 17

5) Commission on Human Rights, Sixtieth Session, Item 15 of the provisional agenda, Indigenous issues, Human rights and indigenous issues, Report of the Special Rapporteur on the Situation of human rights and fundamental freedoms of indigenous people, Mr. Rodolfo Stavenhagen, submitted in accordance with Commission resolution 2003/56, Addendum, Mission to Chile, E/CN.4/2004/80/Add.3, 17 November 2003

6) HRW, Country Summary January 2005, Chile

7) Undue Process: Terrorism trials, Military Courts and the Mapuche in Southern Chile; Report jointly published by Human Rights Watch and Indigenous Peoples’ Rights Watch, October 2004; S. 43

8) Undue Process: Terrorism trials, Military Courts and the Mapuche in Southern Chile; Report jointly published by Human Rights Watch and Indigenous Peoples’ Rights Watch, October 2004; S. 43/44

9) Interview mit dem Abgeordneten Eduardo Daz, in: Chile. The Mapuche People: Between Oblivion and Exclusion, FIDH-Report No. 358/2, August 2003, S. 18/19

10) Undue Process: Terrorism trials, Military Courts and the Mapuche in Southern Chile; Report jointly published by Human Rights Watch and Indigenous Peoples’ Rights Watch, October 2004; S. 43