12.12.2005

Lipchan Bazajeva: Rede in Weimar am 10.12.2005

Lipchan Bazajeva <br>Foto: GfbV

Weimar
Liebe Gäste, liebe Freunde! Sehr geehrter Herr Bürgermeister, liebe Frau Mühe, lieber Herr Neudeck, liebe Frau Bäurle!

Es ist mir eine große Ehre, eine wichtige Auszeichnung – den Menschenrechtspreis der Stadt Weimar – entgegennehmen zu dürfen. Ich kann heute bei Ihnen sein, weil ich in Deutschland Gast der Stiftung für politisch Verfolgte bin, die mir in Hamburg Schutz gewährt. Dafür bin ich sehr dankbar. Es ist eine besondere Freude für mich, dass Sie meine Arbeit durch diese hohe Anerkennung würdigen und dass das Schicksal meines Landes – Tschetschenien – dadurch zusätzliche Aufmerksamkeit erhält.

Ich komme aus der Hauptstadt Tschetscheniens, Grosny. Diesen Namen haben nicht wir Tschetschenen ihr gegeben, sondern russische Herrscher. Das russische Wort "grosny" bedeutet "schrecklich, furchtbar, entsetzlich". Wir dagegen nannten unsere Hauptstadt "Sumscha Gala" – Stadt am Fluß Gala. Es war einst eine sehr schöne, grüne, lichte, lebendige Stadt.

Zwei Kriege haben Tschetschenien seit 1994 völlig verändert. Von der Bevölkerung, die einst ca. 1 Million Menschen zählte – Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, darunter auch viele Russen – sind heute vielleicht noch zwei Drittel im Land; die genauen Zahlen kennt niemand. Die meisten Städte und Dörfer wurden im Zuge der Kämpfe zerstört. Es gibt schon lange keine gesicherte Wasser- und Stromversorgung mehr. Fast alle Schulen und Krankenhäuser litten im Krieg. In Tschetschenien gibt es keine intakte Infrastruktur, keine Arbeit, keine angemessene Versorgung mit Lebensmitteln. Und es gibt immer noch keine Sicherheit, keinen Frieden. Und ohne Frieden sind echte Entwicklung und Wiederaufbau nicht möglich.

Ich bin Zeitzeugin, ich habe beide Kriege miterlebt. Im Juni 1999 schloss ich mich einem Flüchtlingskonvoi aus Grosny an, der von russischen Militärs beschossen wurde. Um mich herum lagen Hunderte von Verletzen und Toten. Ich selbst saß mit meinem Mann auf den Resten unseres Autos, das weitgehend zerstört wurde; wir überlebten wie durch ein Wunder.

Ich habe gegen dieses Verbrechen zusammen mit sechs anderen Überlebenden vor dem europäischen Menschengerichtshof geklagt. Während der Prozesses wurden wir unter Druck gesetzt, auf dass wir unsere Klagen zurückziehen. Eine der Klägerinnen wurde ermordet, was wir als Warnung an alle verstanden haben. Trotz großer Angst machten wir weiter. Am 25. Februar 2005 befand das Straßburger Gericht Russland für schuldig und verurteilte es zu Wiedergutmachungen. Die fundamentalen Menschenrechte, welche in internationalen Dokumenten anerkannt und bestätigt sind, stellen die größte Errungenschaft der menschlichen Zivilisation dar, und sie muss von uns geschützt und weiterentwickelt werden.

Lassen sich mich nun einige konkrete Fälle schildern.

Zura Bitieva, wohnhaft in Tschetschenien, wurde im Jahre 2000 illegal verhaftet und befand sich im berüchtigten Gefängnis Èernokozovo (Tschernokozovo), wo sie Grausamkeiten über sich ergehen lassen musste. Nach ihrer Freilassung wagte sie es, sich mit einer Beschwerde an das Strassburger Gericht zu wenden, was zur Folge hatte, dass sie und ihre ganze Familie (vier Personen) von "unbekannten" Militärs, die mit Panzerfahrzeugen zu ihrem Haus gekommen waren, erschossen wurde.

Die Familie Imakaev wandte sich an das Gericht in Strassburg, weil ihr Sohn von Soldaten entführt worden war. Einige Zeit später wurde der Vater der Familie von Maskierten ebenfalls entführt und die Mutter erhielt die Warnung, dass die Familie jetzt für ihre Beschwerde bestraft werde.

Malika Umaževa (Umazheva), Leiterin der Administration des Dorfes Alchan-Kala, wandte sich an die Öffentlichkeit mit der Kritik an ungesetzlichen Hinrichtungen, die von Soldaten unter dem Kommando des russischen Offiziers Bronickij im Zuge einer sogenannten "Säuberung" im Dorf durchgeführt wurden. Sie wurde in ihrem eigenen Haus ebenfalls erschossen, obwohl ihre Kinder die Soldaten auf Knien anflehten: "Ihr dürft unsere Mama nicht töten!".

Die Brüder Èitaev (Tschitaev) wandten sich an den internationalen Gerichtshof in Strassburg mit der Beschwerde über illegale Folterungen und Misshandlungen. Als Folge wurde einer von beiden verhaftet, gegen ihn wird in einer fiktiven und gefälschten Strafsache ermittelt.

Dies sind nur einzelne Beispiele, doch sie illustrieren den Krieg gegen die Zivilbevölkerung Tschetscheniens. Er wird etwa von der Menschenrechtsorganisation "Memorial" laufend dokumentiert. Sie verfügt über durch Zeugen bestätigte Angaben über die Entführungen von mehr als 3.000 Menschen; durchschnittlich, identifizieren wir jährlich an die 500 Leichen von Menschen, die zuvor verhaftet worden waren. Tatsächlich dürften die Zahlen aber noch wesentlich höher liegen. Die Mehrheit der Opfer waren friedliche Menschen. All diese Verbrechen rechtfertigte die russische Regierung zuerst mit einer "Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung" oder, wie es jetzt heißt, dem "Kampf gegen den internationalen Terrorismus" in Tschetschenien.

Wir werden es sicherlich schaffen, Tschetschenien wieder aufzubauen, wenn Sie uns dabei helfen, Russland zu einer anderen Politik zu bewegen. Indem die Führung Russlands stur daran festhält, die Menschenrechte mit Füssen zu treten, setzt sie darauf, dass die westliche Welt die Augen davor verschließt und sich mit der Politik in und gegenüber Tschetschenien – mit seinen formal russländischen Bürgern – einverstanden erklärt. Und die westliche Welt tut das leider. Die Menschenrechte, ja sogar die Idee des Rechts und des innerstaatlichen Friedens verkommen so zu einer verhandelbaren Sache, zu einer Währung im politischen Geschäft, zu einem beschämenden Kompromiss vor dem Hintergrund wirtschaftlicher und politischer Interessen verschiedener Machthaber. So wird die Idee des Rechts profaniert und zerstört. Zahlreiche Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen, die von beiden Seiten in Tschetschenien begannen werden, werden durch das Schweigen im Westen indirekt gebilligt. Das Recht wird zwar weit weg von Weimar, eben in Tschetschenien, ignoriert oder verletzt. Es wird aber hier im Westen, durch die westliche Russland- bzw. Tschetschenienpolitik, endgültig nivelliert. Diese Situation halte ich für äußerst gefährlich – für Tschetschenien, für ganz Russland und für Europa. Wie glaubwürdig ist der westliche Einsatz für Menschenrechte in der ganzen Welt, wenn ausgerechnet zu Tschetschenien geschwiegen wird?

Wir brauchen Ihre Hilfe und Ihre Solidarität. Allein schaffen wir es nicht, Frieden in Tschetschenien zu stiften.

Ich betrachte die Weimarer Auszeichnung meiner Arbeit als einen Beitrag zur Festigung der Menschenrechtsidee an sich und konkret zur Bewahrung der Menschenrechte in Tschetschenien und ganz Russland.

Ich kann die mir verliehene Auszeichnung nicht zu meiner persönlichen Errungenschaft zählen und gebe mich nicht der Illusion hin, allein so viel erreicht zu haben. Ich tat genau das, was jeder einzelne Mensch tun kann. Aber ich darf mit Bestimmtheit sagen, dass diese Auszeichnung all meine Kollegen verdienen würden. Ich möchte zahlreiche Mitarbeiter von "Memorial" erwähnen, die mutig unter lebensgefährlichen Bedingungen gegen die Gesetzlosigkeit kämpfen. Ich möchte meine weiblichen Kollegen des Rehabilitationszentrums "Würde der Frau" erwähnen, die tatkräftig unschuldig leidenden Frauen und Kindern helfen und diese beschützen. Ich möchte auch Martina Bäuerle nennen, der Leiterin der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte, die buchstäblich die Leben jener Menschen rettet, die sich in großer Gefahr befinden. Sie alle hätten die Auszeichnung ebenso verdient. Ich möchte auch den Menschen danken, die meine Arbeit seit den ersten Tagen unterstützt haben. Dabei will ich die Gesellschaft für bedrohte Völker und besonders ihren Generalsekretär Tilman Zülch und die Referentin Sarah Reinke erwähnen, die mich seit dem Jahr 2000 immer wieder nach Deutschland eingeladen haben, mich zu Gesprächen mit Politikern und Nichtregierungsorganisationen begleitet und auch international bekannt gemacht haben. Ich danke Euch, liebe Freunde. Durch Euch haben wir viele Möglichkeiten erhalten. Ich danke Euch auch, weil ihr Verständnis habt für unsere Situation und weil ihr uns signalisiert habt, dass es mehr Verbindendes zwischen Europa und Tschetschenien gibt als Trennendes. Gerade dieses Verständnis ist es, was wir in Tschetschenien brauchen und welches das Fundament für den Aufbau unserer gemeinsamen Zukunft legen kann.

Meine Kollegen wissen von der Auszeichnung. Wir haben unter uns beraten, wie das Geld am besten zu verwenden wäre. "Memorial" und das Frauenzentrum führen bereits seit zwei Jahren ein Monitoring in den Dörfern Nochèi-Keloj und Daj durch, in denen Soldaten schwere Verbrechen an der Zivilbevölkerung verübt haben. Am 11. Januar 2002 erschossen die Soldaten unter dem Kommando eines gewissen Hauptmanns Ul’man sieben Menschen, Lehrer lokaler Schulen, unter denen sich auch eine schwangere Frau und Mutter von sieben Kindern befand. An diesem Tag gab es 27 neue Waisen. Inzwischen wurde Hauptmann Ul’mann freigesprochen.

Wir haben gesehen, dass die Schule in Nochèi-Keloj bereits zu Beginn des Krieges völlig zerbombt wurde und die Kinder keine Möglichkeit hatten, normalen Unterricht zu erhalten. Wir haben nach einer Möglichkeit gesucht, eine neue Schule in dem Dorf zu bauen. Das Preisgeld möchte ich dieser Bergschule schenken. Es reicht für das halbe Schuldach. Das Fundament ist schon gegossen und die Wände stehen schon – dank europäischer Spenden. Der Unterricht soll nicht mehr ausfallen, weil Schnee auf die Schulbänke rieselt. Natürlich fehlt es an allem – an Schulmaterialien, an Heizöfen, an Winterkleidung für die Schüler und Schülerinnen. Aber es ist ein Anfang, und wir machen weiter.

In meinem Namen und im Namen all meiner Kollegen möchte ich unseren Freunden, die uns unermüdlich unterstützen, nochmals aufrichtig danken. Ein besonderer Dank geht an die Stadt Weimar.

Libchan Bazajeva