30.09.2004

Laudatio von Mdme. Danielle Mitterrand

Frauen aus dem Barzan-Tal

Als wir im Oktober vergangenen Jahres das Barzan-Tal im irakischen Teil Kurdistans aufsuchten, hat uns der Anblick all der vielen schwarz gekleideten Frauen zutiefst bewegt und betroffen gemacht. Mit ihrer schwarzen Kleidung wollen die Frauen an die schrecklichen Ereignisse aus der Zeit des grausamen Regimes von Saddam Hussein erinnern, das das ganze Land und seine Bevölkerung so despotisch terrorisierte.

Wenn Frauen schwarze Kleidung tragen, dann bedeutet dies fast überall in der Welt, dass sie damit auf ihren Schmerz, ihr Leid und ihre Verzweiflung aufmerksam machen möchten. So war es in Lateinamerika zur Zeit der Militärdiktaturen, und so ist auch heute in vielen Ländern der Welt, in denen der Staat mit Terror regiert. Die schwarz gekleideten Frauen, denen wir in diesem landschaftlich so schönen Barzan-Tal begegneten, waren die Mütter, die Ehefrauen, die Schwestern oder die Töchter der 8 000 Männer, die am 30.Juli 1983 auf irakische Militärlastwagen geladen wurden und nie wieder zurückkehrten.

In der Zeit von 1969 bis 1971 hat das irakische Regime mehr als 250 000 Fayli-Kurden aus ihrer Heimat vertrieben und ihre iranische Abstammung zum Vorwand genommen, um sie in den Iran abzuschieben. Im Sommer 1980 ereilte das gleiche Schicksal weitere 8000 Fayli-Kurden. Und die Verfolgung der Kurden hörte nicht auf: 1983 ereilte eines der schrecklichsten Schicksale, die je bekannt geworden sind, erwachsene Männer ebenso wie Jugendliche, die zu dem Barzani-Clan gehörten und im Lager Qoshtapa in Erbil gefangen gehalten wurden. Doch auch mit diesen Verbrechen gab sich das Regime von Saddam Hussein noch nicht zufrieden. Zwischen 1987 und 1989 begann eine gegen Kurden gerichtete ethnische Säuberungsaktion, die als Anfal bezeichnet wurde. "Anfal" ist aber auch die Überschrift zur achten Koransure.

 

Der Terminus Anfal bedeutet soviel wie "legitime Beute" und erlaubt die Plünderung des Besitzes von Ungläubigen. Und diese Bezeichnung wurde nun auch für die Militäraktionen verwendet, die vom 23.Februar bis 6. September andauerten. 182 000 Menschen kamen dabei ums Leben. 4500 Dörfer und Städte wurden zerstört. Damals verloren die Frauen alles: ihre Familien, ihren Namen, ihre Kinder, ihre Dörfer, ihre Arbeit, ihr Heim. Viele der Gefangene wurden auch sexuell missbraucht. Sie konnten nicht wieder heiraten, weil ihnen der legale Status einer Witwe nicht zuerkannt wurde, sie konnten ja keinen Totenschein für ihre Männer vorlegen. Da sie kein ausreichendes Einkommen hatten, ihre Kinder aber doch versorgt werden mussten, waren sie gezwungen, die schlechtesten und schwersten Arbeiten unter den unwürdigsten Umständen auszuführen. Obwohl sie Opfer von ethnischen Säuberungsaktionen waren, bekamen sie kein Recht und auch keine entsprechenden Entschädigungen.

Ein endloses Martyrium! Wer den Bombenangriffen ausgesetzt gewesen war, bei denen auch chemische Kampfstoffe zur Anwendung kamen, musste erleben, wie sich der Gesundheitszustand immer mehr verschlechterte. Depressionen waren weit verbreitet und führten immer häufiger zu Selbstmorden. Und dies alles hatten die Frauen in ihren schwarzen Trauerkleidern, denen wir begegnet waren, erleben müssen. In der irakischen Gesellschaft gehören sie zu den Schwächsten, zu den am meisten Gefährdeten. Den überlebenden der ethnischen Säuberungsaktionen muss endlich Gerechtigkeit widerfahren, insbesondere in Kurdistan.

Eine ad-hoc Verurteilung der dafür verantwortlichen Iraker wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch ein rechtmäßiges Gericht steht noch aus und hat nach wie vor Priorität. Seit langem schon hätte Saddam Hussein dafür bereits zur Rechenschaft gezogen werden müssen, ebenso wie alle anderen, die in dieser Region in die Diktatur direkt involviert waren oder sie indirekt unterstützten. Bis heute wurden sie weder verurteilt noch bestraft.

Auch wenn sie vielleicht sogar das irakische Volk um Verzeihung bitten würden, die erlittenen moralischen und seelischen Verletzungen sind nicht wieder gut zu machen. Die internationale Staatengemeinschaft, Vereinten Nationen und Europäische Union inbegriffen, die sich durch ihr Schweigen mitschuldig gemacht haben, dürfen sich in diesem ganz konkreten Fall ihrer Verantwortung nicht entziehen und müssen zu dem Vorwurf Stellung nehmen, dass durch ihre Waffengeschäfte diese Massaker erst möglich geworden sind. Sie müssen sich wirklich darüber klar werden, dass man sehr gründlich überlegen sollte, mit wem man in der Welt Waffenhandel betreibt.

Nicht erst seit gestern kritisieren Nichtregierungsorganisationen, die aufmerksam die Ereignisse in dieser Region verfolgen, die Haltung der westlichen Regierungen, die ein so mutiges Volk bereits abgeschrieben haben, das durch diese Indifferenz in die Verzweiflung getrieben wird.

Es ist noch nicht lange her, dass der Irak von einem blutrünstigen Diktatur befreit wurde. Besteht nun Hoffnung, dass in diesem Land endlich Freiheit und Demokratie herrschen werden?

Kann man bei den neuen Gesetzen, die die Sieger erlassen, davon ausgehen, dass den Opfern der Unterdrückung und des Terrors von Saddam Hussein Gerechtigkeit widerfahren wird?

Für die Iraker, die sich für die Schaffung einer demokratischen föderalen Ordnung einsetzen, sind diese grundsätzlichen Fragen im Zusammenhang mit dem Schicksal dieser Frauen angeht alle noch offen.

 

Ich bin hierher nach Dresden gekommen, um mit unabhängigen kurdischen Frauenverbänden zusammenzutreffen und ihre Arbeit zu würdigen. Sie setzen sich nicht nur für eine Verbesserung der Lebensbedingungen für sich und die anderen Frauen ein, sie suchen vor allem auch nach Antworten und Hinweisen auf Mittel und Möglichkeiten, wie sie ihre Gesellschaft gerechter und solidarischer gestalten können.

Die Vertreter der Kurden, die in die Führung des Irak von Morgen einbezogen werden, müssen den Vorstellungen und Wünsche der Frauen, die zu Opfern geworden waren und unter dem Terror der nunmehr beseitigten Diktatur so sehr gelitten haben, Rechnung tragen und ihnen eine Perspektive für die Zukunft geben, die aber nicht so aussehen darf, dass über ihre Köpfe hinweg vom Staat Vorschriften und Verhaltensmuster beschlossen und ihnen aufgezwungen werden. Sie müssen in die Entscheidungen, die sie selbst betreffen, einbezogen werden. Im Barzan-Tal waren sie nicht allein, sie erfuhren Hilfe und Unterstützung, um der Herausforderung einer gemeinsamen Verantwortung gewachsen zu sein.

Viel bleibt noch zu tun, damit es den Frauen aus dem Barzan-Tal gelingt, alle von ihrem Unglück gezeichneten, am Boden zerstörten Frauen wieder aufzurichten und für eine aktive Beteiligung am Wiederaufbau des Landes zu gewinnen. Es gibt Alphabetisierungslehrgänge und Angebote zur Berufsausbildung, die den Frauen helfen sollen, eine Arbeit zu finden und sich weiter zu entwickeln. Kampagnen zur Sensibilisierung der öffentlichen Meinung sollen bewirken, dass dem Schicksal dieser Frauen Achtung und Würdigung zuteil wird und ihren Toten Ehrung widerfährt. Trauerarbeit und Aufarbeitung des Erlebten sind sehr wichtig für die späteren Generationen. Damit wird diesen Frauen in der Gesellschaft ein Platz zugewiesen, der sie zum Vorbild für alle werden lässt, die sich für eine Kultur des Friedens einsetzen.

Das Kurdistan, das wir bereist und kennen gelernt haben, ist fähig und willens zu Frieden und Demokratie. Das kurdische Volk, das immer wieder Opfer von Tyrannen wurde, hat unter Beweis gestellt, dass es Demokratie, die Rechte von Minderheiten und Meinungsfreiheit achtet. Es sollte nun auch den Opfern wie den überlebenden mit Achtung und in Würde begegnen. Die Franzosen sagen: "Den großen Männern das dankbare Vaterland". Ich denke, man sollte die Adressaten für eine solche Dankbarkeit erweitern und alle diejenigen einbeziehen, Männer wie Frauen, die bescheiden und unbekannt ihr Leben eingesetzt haben, und dabei auch an all jene denken, denen Leid widerfahren ist, weil ihnen nahe stehende Menschen ihr Leben für die Freiheit ihres Landes gaben. Wir hoffen, dass durch eine föderativen Verfassung für den Irak allen kurdischen Frauen wie auch ihren irakischen Schwestern, die ethnische Säuberungsaktionen und Anfal überlebt haben, gewährleistet wird, dass sie wieder ihren Platz und ihre Heimat in ihrem schönen Tal finden werden und dass dieser Region niemals wieder ein solches Schicksal widerfahre.

Ich möchte so gern erleben, dass diese Frauen wieder ihre bunten Gewänder anlegen, um das Werk all derer fortzuführen, die ihr Leben hingaben für Freiheit und Wohlstand und ein glückliches Leben. Wir hoffen, dass bei unserem nächsten Besuch in dem schönen Barzan-Tal die Frauen in den von Saddam Hussein so fürchterlich geschändeten Dörfern wieder ihre farbenfrohe Kleidung tragen, die so vielgestaltig und farbig ist wie die herrliche, malerische Landschaft, in der sie leben.