05.08.2005

Laudatio auf Mustafa Dschemilew

Göttingen
Verehrte Preisträger,

sehr geehrter Herr Abgeordneter Dschemilew,

lieber Tilman Zülch,

sehr geehrte Damen und Herren!

Ich zitiere aus dem Beschluß 5859 vom 11. Mai 1944 des sowjetischen Staats-Verteidigungs-Komitees unter Vorsitz von Josef Stalin zur Deportation der Krimtataren:

"Das Staats-Verteidigungs-Komitee beschließt, dass

1. Alle Tataren aus dem Gebiet der Krim verbannt werden und dauerhaft als besondere Umsiedler auf dem Gebiet der Usbekischen Sozialistischen Sowjetrepublik umgesiedelt werden. Mit der Umsiedlung wird der Sowjetische Volkskommissar des Innern beauftragt. Er hat die Umsiedlung bis zum 1. Juni 1944 zu beenden.

2. Folgende Vorgehensweisen und Bedingungen zur Umsiedlung werden festgelegt:

Die besonderen Siedler dürfen persönliche Gegenstände, Kleidung, Haushaltsgegenstände und bis zu 500 kg Nahrungsmittel pro Familie mit sich nehmen. Besitztümer, Gebäude, Möbel und Land, welches zurückbleibt, werden von den örtlichen Behörden übernommen."

Es folgen eine ganze Reihe organisatorischer Details, wer für die Übernahme der Gebäude, Möbel und weiteren Besitztümer zuständig ist, wer für Rinder, Kühe und Hühner. Wer die Zeitpläne der Sonderzüge erstellen soll und dass es heiße Mahlzeiten und heißes Wasser für die Umsiedler geben möge. Und das man mit Baumaterialien für den Bau ihrer neuen Häuser behilflich sein soll. Sogar Kredite von bis zu 5.000 Rubel pro Familie werden in Aussicht gestellt.

Meine Damen und Herren, der ganze Beschluß ist so nüchtern verfasst, wie der Vertriebsplan einer Kleinwagenfirma. Es ist aber der Vertreibungsplan der sowjetischen Diktatur, der viele Völker unter Stalin zum Opfer fielen.

Von einem überlebenden Krimtataren hören wir die Beschreibung der Realität dieser Deportation:

"Um 3.00 Uhr morgens am 18. Mai 1944 klopften 2 Soldaten an unsere Türe. Ich war die älteste Tochter. Ich hatte 4 jüngere Schwestern. Die Soldaten sagten zu uns: ´Ihr habt 15 Minuten, dann werden wir Euch mitnehmen`. Unser Vater hat uns an die Deutschen erinnert, wie diese herumgegangen sind und die Juden verhaftet haben, um sie zu erschießen. Er war überzeugt, dass die Soldaten mit uns allen das gleiche tun werden. Deshalb sagte er uns, nicht viel mitzunehmen, da sie uns sowieso erschießen werden. Deshalb gingen wir nur mit der Kleidung auf unserem Körper. In dieser Nacht verfrachteten sie die Bewohner unseres Dorfes auf Lastwägen und brachten uns zum Bahnhof. Als wir in Usbekistan ankamen, hatte es fast 40 Grad, eine unglaubliche Hitze. Ich war die einzige Überlebende in unserer Familie. Mein Vater, meine Mutter und Schwestern kamen alle durch diese Tortur ums Leben."

Und ein weiteres Opfer beschreibt eine dieser Zugfahrten:

"…es war eine Reise des langsamen Sterbens in Viehwaggons, vollgestopft mit Menschen, wie fahrende Gaskammern. Die Reise dauerte 3 bis 4 Wochen und führte durch die glühenden Sommersteppen Kasachstans. Sie deportierten rote Partisanen der Krim, die Kämpfer des bolschewistischen Untergrunds und Sowjet- und Parteikader. Die verbliebenen Männer kämpften an der Front, doch die Deportation erwartete sie nach Ende des Krieges. In der Zwischenzeit stopften sie deren Frauen und Kinder in Viehwaggons, wo sie den größten Teil der Deportierten stellten. Der Tod raffte die Alten, die Jungen und die Schwachen dahin. Sie starben an Durst, Erstickung und dem Gestank. Auf den langen Strecken verwesten die Leichen haufenweise in den Waggons und während der kurzen Haltepausen, wo Wasser und Nahrung ausgegeben wurde, war es den Menschen nicht erlaubt, ihre Toten zu begraben. Sie mussten sie neben den Schienen liegenlassen."

44% der krimtatarischen Bevölkerung starben in den vollgestopften Waggons oder anschließend in den Lagern. Rund 150.000 Menschen wurden in Usbekistan angesiedelt.

Unser heutiger Preisträger, Mustafa Dschemilew ist einer der Überlebenden. Geboren am 13. November 1943 in Aj-Serez auf der Krim wurde er mit noch nicht einmal einem halben Jahr nach Usbekistan zwangsdeportiert. Bereits im Alter von 18 Jahren, im Jahre 1961, schloß er sich dem verbotenen "Rat der Krimtatarischen Jugend" an. Ab 1969 war Mustafa Dschemilew auch in der Moskauer Dissidentenszene aktiv, wo er sich einer Gruppe von Menschenrechtsaktivisten anschloß. Wiederholte Lagerhaft waren die Folge. Während der Haft schreibt Mustafa Dschemilew Artikel über die Geschichte der Krimtataren, dokumentiert aber auch den unmenschlichen Lageralltag. Die daraufhin erfolgte Haftverlängerung beantwortet Dschemilew mit einem Hungerstreik. Diesen hält er 303 Tage durch. 1983 wird er zum insgesamt sechsten Mal verhaftet; zu drei Jahren Haft und vier Jahren Verbannung. Nahezu 15 Jahre Gefängnis unter unmenschlichen Gegebenheiten konnten Mustafa Dschemilews Willen nicht brechen, für die Rückkehr der Krimtataren auf die Krim zu kämpfen.

Der Wille zur Rückkehr war im gesamten krimtatarischen Volk trotz Deportation, Lagerhaft und Unterdrückung ungebrochen. Von 1957 bis 1968 richteten sie mehr als drei Millionen Proteste und Appelle an Moskau. Doch bis auf die offizielle Rehabilitierung 1967 konnte die Rückkehrbewegung keine Erfolge verbuchen. Wer dennoch versuchte heimzukehren, wurde erneut deportiert, verhaftet und angeklagt. Erst seit der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahre 1990, der die Krim seit 1954 angegliedert wurde, dürfen sich Krimtataren offiziell in ihrer Heimat ansiedeln. Bis 1994 kehrten etwa 280.000 Deportierte zurück. Mit ihnen der durch Michail Gorbatschow freigelassene Mustafa Dschemilew.

Die heutige Situation der rückgesiedelten Krimtataren stellt sich als schwierig, aber als ganz und gar nicht hoffnungslos dar. Es gibt Probleme in Fragen der Staatsangehörigkeit, es herrscht Wohnungsmangel und auch eine hohe Arbeitslosigkeit. Doch auf der anderen Seite haben sich die Rückkehrer in einem Nationalrat politisch organisiert. Sie haben zudem viele ihrer Gebetshäuser zurückerhalten und können schon länger wieder Gottesdienste feiern. Es existieren eigene, unabhängige Fernsehprogramme, Radiosender und Presseorgane sowohl in tatarischer als auch in russischer Sprache.

Ein Beispiel gelungener Reintegration in die Gesellschaft stellt der diesjährige Träger des Victor-Gollancz-Preises, Mustafa Dschemilew, dar. Von 1991 bis 1996 war er Präsident des eben genannten Krimtatarischen Nationalrats. Und in der "Orangenen Revolution", deren Bilder uns über die Fernseher erreichten und uns allen noch lebhaft in Erinnerung sind, unterstützte Dschemilew den heutigen Präsidenten der Ukraine, Victor Juschtschenko. Mustafa Dschemilew sitzt für die Partei "Unsere Ukraine" im Parlament und engagiert sich dort, wie kann es anders sein, im Ausschuß für Menschenrechte und Minderheiten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die "Orangene Revolution" in der Ukraine, in der Sie, sehr geehrter Herr Dschemilew, aktiv mitgewirkt haben, wurde geprägt durch ein Lied, welches tage- und nächtelang auf den Plätzen Kiews gesungen wurde. Es trägt den Titel "Razom nas bohato" – "Gemeinsam sind wir viele".

Wenn sich die Gesellschaft für bedrohte Völker für Mustafa Dschemilew als Preisträger des Victor-Gollancz-Preises entschieden hat, dann auch vor genau diesem Hintergrund. Gemeinsam sind wir, die Schicksalsgenossen von Flucht, Vertreibung und Deportation, die Hüter von Menschen- und Volksgruppenrechten, die Mahner von Wahrhaftigkeit und Humanitas, viele.

Das Schicksal der Krimtataren wäre im Strudel der menschlichen Vergessenheit untergegangen, hätten nicht Personen wie Mustafa Dschemilew durch zum Teil lebensbedrohliche Aktionen an ihr deportiertes Volk erinnert. Die Deportation der Krimtataren wäre in den Geschichtsbüchern allein durch den eingangs genannten Beschluß des Sowjetischen Staats-Verteidigungs-Komitees nüchtern festgehalten worden, wenn nicht Personen wie Tilman Zülch und Organisationen wie die Gesellschaft für bedrohte Völker auch die Zeitzeugenberichte veröffentlicht hätten. Und die Staatengemeinschaft würde heute weiter darüber hinwegsehen, Vertreibungen, Flucht und Deportationen zu kritisieren und zu stoppen, wenn wir nicht alle gemeinsam, zum Teil aus dem eigenen Leid heraus, diese Vorgänge anprangern würden.

Victor Gollanzc, der Kämpfer gegen Faschismus und Nationalsozialismus, gegen Hunger und Armut, gegen Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit ist Namensgeber des heute Ihnen, sehr geehrter Herr Dschemilew, verliehenen Preises. Seine vehementen Warnungen vor Verbrechen der Nationalsozialisten blieben zulange ungehört. Sein Anprangern der Massenvertreibungen der Deutschen nach dem Krieg als untilgbare Schuld der Sieger leider auch.

Das schwere Schicksal der deportierten Krimtataren blieb zulange der Weltöffentlichkeit verborgen. Mustafa Dschemilew hat es öffentlich gemacht. Er hat damit unter Einsatz seines Lebens einen herausragenden Beitrag geleistet, die Weltöffentlichkeit für diese Menschenrechtsverletzungen zu sensibilisieren. Mustafa Dschemilew, Sie sind ein würdiger Träger des Victor-Gollancz-Preises! Im Sinne der Menschenrechte, der Wahrhaftigkeit und der Humanitas!